Wiedergefundene Thora-Rolle von Görlitz: Christliche Freude, jüdische Tränen
83 Jahre lang waren die Thora-Rollen verschwunden. Nun sind Fragmente aufgetaucht. Aber Juden hat man zur Präsentation nicht eingeladen.
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Ein „ehrfürchtiges Staunen“, so die Sächsische Zeitung, ergreift die Anwesenden, als die Fragmente dem Oberbürgermeister Octavian Ursu und dem sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer, beide CDU, präsentiert werden. Der Ratsarchivar spricht von einem „Wunder“ – ein Wunder, das schnell inventarisiert werden soll.
Die Präsentation ist gleichzeitig die offizielle Übergabe an das Ratsarchiv. Weil für dieses Wunder ein pensionierter Pastor aus Görlitz verantwortlich ist, der erzählt, wie er die Fragmente 52 Jahre lang in seiner Wohnung versteckt hielt, titelte die Zeitung zwei Tage später: „Pfarrer lüftet Geheimnis um Görlitzer Thora“.
Die Freude in Görlitz ist groß. Nur nicht bei Alex Jacobowitz. Als ihn ein Journalist anruft und um ein Statement zu den Thora-Rollen bittet, glaubt Jacobowitz seinen Ohren nicht zu trauen. Weder weiß er etwas, noch ist er zur Präsentation eingeladen.
Der 61-Jährige ist Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Görlitz, eines Vereins, der sich anschickt, jüdischen Glauben in der Stadt an der Neiße wiederzubeleben. Er ist dort kein Unbekannter. Über den Fund informiert wurde er trotzdem nicht. Es war auch kein anderer Vertreter jüdischen Lebens eingeladen.
Der Oberbürgermeister ist geknickt
Octavian Ursu gewann 2019 mit Unterstützung von Linken, SPD und Bündnis 90/Die Grünen im zweiten Wahlgang gegen den AfD-Kandidaten die Oberbürgermeisterwahl in Görlitz. Ursu ist 54 Jahre alt und ein überaus kultivierter Mann. Man spürt das am Telefon. Nichts Hartes liegt in seiner Stimme.
Auf die Frage, warum kein Vertreter jüdischer Gemeinden zugegen war, wird sie noch weicher. Es sei der Wunsch des Pfarrers gewesen, dass die Dokumente in kleinem Kreis übergeben werden, erklärt Ursu und sagt, „eine Einbindung der jüdischen Seite stand von Anfang an außer Frage“. Man habe sofort den Kontakt gesucht. „Ich habe keine Absicht gehabt, jemanden auszuschließen.“
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Und was die Inventarisierung betreffe, sei dies möglicherweise missverständlich. Die Stadt jedenfalls betrachte sich nicht als Eigentümerin. „Wir werden in enger Abstimmung mit der jüdischen Seite die weiteren Schritte besprechen und deren Vorstellungen respektieren und umsetzten.“
Das klingt deutlich zurückhaltender als Mitte Dezember. Im Übrigen ist Octavian Ursu immer noch ganz beseelt von der „Rettung“. Die Geschichte dazu ist schön anzuhören: Der Vater von Pfarrer Uwe Mader wird in der Pogromnacht 1938 als Polizist zur Synagoge gerufen und gelangt an die Thora-Fragmente. Wie, ist unklar. Der Beamte wendet sich mit den hebräischen Pergamenten an einen Rechtsanwalt, der dem 24-Jährigen rät, die Dokumente einer Vertrauensperson zu geben. Über eine Freundin gelangen sie 1940 zu einem Pfarrer.
Nach dessen Tod bewahrt die Witwe die Rolle auf, bis diese 1969 einen jungen Pfarrer predigen hört – Uwe Mader. Sie übergibt also dem Sohn des Polizisten die Fragmente und schärft ihm ein: „Traue niemandem!“ 52 Jahre später sucht Mader Kontakt zum Rathaus, um die Fragmente dem Archiv zu übergeben.
Die Anfänge: Zeugnisse jüdischen Lebens in Görlitz reichen bis ins frühe 14. Jahrhundert zurück. 1325 gibt es eine Synagoge. Bald darauf werden die Juden wieder vertrieben.
Der Untergang: 1850 gründet sich die Görlitzer Jüdische Gemeinde. 1911 wird eine Synagoge mit Platz für 700 Gläubige eingeweiht. Am 9. November 1938 wird sie angezündet, das Feuer aber gelöscht. Unter den Nazis wird die Gemeinde vernichtet. Bei Kriegsende leben noch zwei Juden in der Stadt. 1963 kommt die Synagoge in städtischen Besitz und verfällt.
Der Neuanfang: 1991 beginnt die Sanierung der früheren Synagoge. Am 12. Juli 2021 wird das Kulturzentrum Synagoge Görlitz eröffnet. Das Gebäude kann besichtigt, aber auch als Veranstaltungsort gemietet werden. 2004 gründen jüdische Gläubige in Görlitz in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins eine Gemeinde. Am 20. August 2021 feiert sie in der Synagoge erstmals Gottesdienst. Mit Spenden aus der Gemeinde und ihrem Umfeld soll 2022 der Davidstern auf die Kuppel zurückkehren, der in der Pogromnacht zerstört wurde. (taz)
Die Geschichte handelt von stillen Helden und klingt wie die Fortsetzung der Legende von der Rettung der Synagoge, in der es heißt, dass in der Pogromnacht anständige Feuerwehrleute den Bau gerettet haben, weil sie sich ihrem Berufsethos verpflichtet fühlten. Möglicherweise aber fürchteten sie bloß, dass das Feuer auf benachbarte Häuser überspringen könnte. Vor der Schändung hat die Synagoge jedenfalls keiner bewahrt. Der Davidstern stürzte am nächsten Morgen zu Boden, der Kuppelsaal wurde verwüstet. Und irgendwo stand in der Nacht ein Polizist mit Teilen der Thorarolle in der Hand.
Warum taucht die Thora-Rolle erst jetzt auf?
Uwe Mader wirkt am Telefon kurz angebunden. Der Ton ist kühl. Alles, was er zu sagen habe, habe er der Öffentlichkeit bereits mitgeteilt. Daher solle nichts zitiert werden aus dem Gespräch. Das ist nicht allzu schwer, die Widersprüche sind nach dem Telefonat jedenfalls nicht kleiner. Warum hat er die Fragmente erst jetzt öffentlich gemacht? Mader redet in der Sächsischen Zeitung vom Schweigegelübde und davon, dass er erst in OB Ursu und dem Archivar vertrauenswürdige Personen gefunden habe. Der OB allerdings ist schon mehr als zwei Jahre im Amt, der Archivar seit 1998.
Dass Mader zu DDR-Zeiten die Thora-Rollen versteckt hielt, begründet er in der Jüdischen Allgemeinen mit der israelfeindlichen SED-Politik. Dass er aber nach dem Ende der DDR 32 Jahre wartete, bis er an die Öffentlichkeit ging, dass er nie Kontakt zu einer jüdischen Gemeinde suchte, dass er Anlässe wie die Wiedereröffnung der Synagoge verstreichen ließ – wirklich verständlich ist Maders Handeln nicht. Vielleicht ist er ein Mensch mit tiefem Misstrauen gegenüber allem und jedem, gegenüber jüdischen Gemeinden, der eigenen Kirche und staatlichen Institutionen? Mader allerdings war jahrelang hauptamtlicher Polizeipfarrer.
„Es stinkt schon ein bisschen“, sagt Alex Jacobowitz. Mit seinen Zweifeln an dem Epos und mit seiner Empörung über die Taktlosigkeit, die Fragmente ohne Vertreter jüdischer Gemeinden zu präsentieren, hätte der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Görlitz die Feierlichkeit schnell beendet. Jacobowitz spricht auch nicht von Rettung, sondern von Raubgut. Schließlich seien nach dem Novemberpogrom liturgische Geräte auch als Trophäen mit nach Hause genommen worden. Die Eigentumsverhältnisse sollten schnell geklärt werden.
Die Jewish Claims Conference (JCC) vertritt die Rechte einstiger jüdischer Eigentümer und deren Nachfahren, auch um den Besitz ehemaliger Gemeinden. Rechtsnachfolger der Görlitzer Gemeinde wurde nach 1945 die Gemeinde in Dresden.
Jacobowitz ist ins taz-Café gekommen. Er ist oft in Berlin, hat seine Hauptwohnung in Leipzig und unterhält in Görlitz eine kleine Unterkunft, die gleichzeitig die Adresse der Jüdischen Gemeinde ist, keine Körperschaft des öffentlichen Rechts, sondern ein Verein. Es gibt nicht wenige in Görlitz, die an der Existenz dieser Gemeinde zweifeln und die erwarten, dass sich die Mitglieder der Öffentlichkeit vorstellen. Sich in einer Stadt als Jude zu bekennen, in der bei der letzten Bundestagswahl ein Drittel für die AfD stimmte, sei ein bisschen viel verlangt, findet hingegen Jacobowitz.
Hoffen auf eine neue stabile Gemeinde
Wenn man ihm misstraute, hätte die Stadtspitze doch den Landesrabbiner Zsolt Balla aus Leipzig zur Präsentation der Fragmente hinzuziehen können? Der Rabbiner hätte auch gleich ihre Qualität prüfen können. Wäre es nicht großartig, neue Schriftrollen für die jüdische Gemeinde in Görlitz zu schaffen, als gemeinsames Projekt und mit Spenden finanziert – so wie in Erfurt, wo die Gemeinde erst im Herbst eine neue Thora-Rolle erhielt, finanziert aus Spenden der katholischen und evangelischen Kirche? Teile der Fragmente ließen sich möglicherweise in die neue Thora einfügen. „So wie bei der Dresdner Frauenkirche auch Sandstein der Ruine eingefügt ist.“
Jacobowitz, 1960 in New York geboren, ein Virtuose am Xylofon und in Israel theologisch ausgebildet, fand auf verschlungenen Wegen nach Görlitz. 2008 stand er erstmals vor der Synagoge und hörte das Echo der Gläubigen, die in dem Haus gebetet haben. So hat er es im letzten Sommer erzählt. Es muss in seinen Ohren wie ein Auftrag geklungen haben.
Mehr als zweihundert Mitglieder der Gemeinde wurden in der NS-Zeit ermordet, andere suchten den Freitod. Die mit dem Leben davonkamen, wurden zerstreut. Alex Jacobowitz will nun wieder sammeln. Im August feierte er in der Synagoge den ersten Gottesdienst nach der Zerstörung mit fast 40 Gästen.
Die Einsicht, dass es Jacobowitz ernst meint, setzt sich jetzt offenbar auch im Görlitzer Rathaus durch. Am vergangenen Freitag meldet die Jüdische Allgemeine, dass der Landesverband der jüdischen Gemeinden Sachsens und Landesrabbiner Zsolt Balla den Aufbau einer Gemeinde in Görlitz unterstützen wollen. Dazu werde es Gespräche mit Oberbürgermeister Octavian Ursu geben. Außerdem werde der Landesrabbiner die Thora-Fragmente auf ihre Echtheit prüfen und klären, ob sie als Teil einer neuen Thora-Rolle genutzt werden können.
Alex Jacobowitz hat sie bereits geprüft. Am selben Tag, als die Thora-Fragmente präsentiert werden, rast Jacobowitz nach Görlitz und beugt sich am nächsten Morgen über die Schriften, das Buch Genesis, Teile des Buches Numeri und aus dem Deuteronomium die Zehn Gebote. Jacobowitz liest erst laut, geht ins Singen über, dann bricht er in Tränen aus. Alex Jacobowitz zieht die Maske herunter und wischt sich lange über die Augen. Mag die allgemeine Freude in Görlitz auch groß sein, Tränen hat nur einer vergossen.
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