piwik no script img

Wie Jugendliche in die Zukunft schauenÄngstlich, gleichzeitig zufrieden

Laut einer Studie sind Jugendliche angesichts der multiplen Krisen besorgter denn je. In politisches Engagement übersetzt sich ihr Problembewusstsein nicht.

Keine unbeschwerte Jugend: Selbst im Skatepark in Mülheim an der Ruhr hat der Krieg gegen die Ukraine seine Spuren hinterlassen Foto: Michael Dahlke/Funke Foto Services/imago

Die Krisen stapeln sich, Jugendliche sind besorgter, problembewusster und ernster denn je. Dennoch bewahren sie sich einen grundsätzlichen Optimismus. Das sind die Ergebnisse der Sinus-Jugendstudie 2024, die Jugendliche im häuslichen Umfeld in 26 Regionen Deutschlands qualitativ befragt hat.

14- bis 17-Jährige haben Angst vor der Zukunft, fühlen sich mit Blick auf die multiplen Krisen ohnmächtig: Klimakrise, Rassismus, soziale Ungleichheit, Kriege. Gleichzeitig haben sie ihre Alltagszufriedenheit nicht verloren und lernen, mit den Dauerkrisen umzugehen. Die Akzeptanz pluralisierter Lebensformen und Rollenbilder hat zugenommen, ebenso wie eine Sensibilisierung für Gender-Gerechtigkeit.

Die Studie des Sinus-Instituts für Markt- und Sozialforschung wird seit 2008 alle vier Jahre wiederholt. Die Au­to­r:in­nen haben für die aktuelle Untersuchung 72 junge Menschen aus verschiedenen Schulformen mit und ohne Migrationshintergrund interviewt und sie unterschiedlichen sogenannten Lebenswelten zugeordnet: von der Grenzgängerin zum Anpassungsbereiten, über die Durchbeißerin zum Bodenständigen (siehe Infokasten).

Sinus-Studie

Das Sinus-Institut teilt Jugendlichen unterschiedliche „Lebenswelten“ zu:

Traditionell-bürgerlich

Bescheidene, natur- und heimatorientierte Familienmenschen mit starker Bodenhaftung

Adaptiv-pragmatisch

Leistungs- und familienorientierter moderner Mainstream mit hoher Anpassungsbereitschaft

Prekär

Um Orientierung und Teilhabe bemühte Jugendliche mit schwierigen Startvoraussetzungen und Durchbeißermentalität

Konsum-Materialisten

Freizeit- und familienorientierte untere Mitte mit markenbewussten Konsumwünschen

Experimentalisten

Spaß- und szeneorientierte Nonkonformisten

Postmaterielle

Weltgewandte, bildungsnahe Teenage-Bohemiens mit ausge­prägtem Gerechtigkeitsempfinden

Expeditive

Erfolgs- und lifestyleorientierte Networker auf der Suche nach neuen Grenzen und unkonven­tionellen Erfahrungen

Schon in der Vorgängerstudie von 2020 hieß es, die Jugend sei ernst und besorgt. Da sich dieser Befund in diesem Jahr noch verschärft hat, ist laut den Au­to­r:in­nen umso bemerkenswerter: Die Jungen haben sich trotz allem ihren Optimismus bewahrt. Den meisten Jugendlichen geht es persönlich nicht schlecht. Sie nehmen die Krisen um sich herum wahr und gleichzeitig ernst. Sie fühlen sich sozial eingebunden und positionieren sich auf einer „Skala des guten Lebens in Deutschland“ im oberen Bereich – selbst, wenn sie objektiv wenig besitzen. Das räumt laut Au­to­r:in­nen mit dem Klischee der verwöhnten Jugend auf und attestiert ihr viel mehr Realismus und Bodenhaftung.

Die befragten Jugendlichen sind sehr sensibel gegenüber Problemen aus ihrem persönlichen Umfeld wie strukturelle Ungleichheiten, beispielsweise unterschiedliche Bildungschancen aufgrund der sozialen Lage, oder Diskriminierung unter anderem von Menschen mit Migrationshintergrund. Überwiegend gaben sie an, Diskriminierung schon selbst erlebt oder beobachtet zu haben. Diversität nehmen die Jungen als selbstverständlich an. Erwachsene werden dabei als Barriere wahrgenommen, denn Eltern reproduzierten alte Rollenbilder.

Politische Beteiligung ist gering

Das Interesse der 14- bis 17-Jährigen an Politik ist begrenzt. Rusanna Gaber, Mitautorin der 300-Seiten starken Erhebung, sagte bei der Vorstellung der Studie am Mittwoch: „Die Probleme werden zwar wahrgenommen, sie übersetzen sich aber kaum in längerfristiges politisches Engagement.“ Lediglich lösten akute Krisen sporadische Unterstützung aus, wie die Teilnahme an Demonstra­tionen. Ein Teil der Jugendlichen zeige sich ob der Fülle an Informationen überfordert und verdränge diese.

Die Au­to­r:in­nen der Studie erklären sich die geringe politische Beteiligung mit fehlender demokratischer Bildung in den Schulen. Die Jugendlichen empfinden Schulen als ungeeignet, um ihren Problemen beizukommen. Das trifft insbesondere auf die Digitalisierung zu. Denn für die Jugendlichen sind soziale Medien wie Youtube, Instagram und Tiktok die wichtigsten Nachrichtenquellen. Die Jugendlichen erleben sich selbst als Treiber der Digitalisierung, eignen sich das Wissen darüber selbst an und vermissen entsprechende Kompetenz bei den Lehrkräften. Das bestätigte am Mittwoch Anne Rolvering von der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, die die Studie mit in Auftrag gegeben hatte: „Die Jugendlichen fühlen sich nicht ausgestattet, die Medienkompetenz fehlt ihnen.“ Ohne einheitliche Förderung blieben Jugendliche abhängig von persönlichem Zugang und digitaler Kompetenz im sozialen Umfeld.

Experimentelles Wahlverhalten

Bei der Europawahl am Sonntag stimmten 16 Prozent der Jung­wäh­le­r:in­nen für die AfD. Für Sinus-Geschäftsführer Marc Calmbach spricht das nicht für ein geschlossen rechtsextremes Weltbild der Jugendlichen. Er hält das Wahlverhalten in dieser Alterskohorte für „sehr volatil“. Die sozialen Medien honorierten mittels Algorithmen steile Aussagen und Provokation besonders. Populisten wie die Po­li­ti­ke­r:in­nen der AfD generierten auf diese Weise Reichweite, weil Inhalte eher geteilt würden und damit viele Jugendliche erreichten.

Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, eine weitere Auftraggeberin der Studie, sagte: „Das Wählerverhalten muss man im Kontext des Elternhauses einordnen, denn Jugendliche orientieren sich an den Eltern.“ Wichtig findet er, dass 28 Prozent der Erstwählenden Kleinstparteien gewählt haben. Krüger sieht darin ein „experimentelles demokratisches Wahlverhalten“ und eine Ablehnung der Regierungsparteien. Ein Befund einer politischen Jugend also, die ihren Weg sucht.

Den Jugendlichen ist der Studie zufolge unabhängig von ihren Lebenswelten Mitsprache wichtig. Sie wollen gehört werden, auch von der Politik. Erwachsene sollten sie nicht als naiv, unerfahren und inkompetent diskreditieren.

Ihren Medienkonsum sehen sie selbst kritisch. Eine 15-Jährige sagt: „Wenn ich nichts anderes habe außer gefühlt Tiktok, fühlt man sich sehr unproduktiv.“ Sie schalten das Handy aus, löschen Apps und suchen Offline-Begegnungen. Thomas Krüger schloss: „Politische Bildung und Medienpolitik müssen zusammengedacht werden.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

11 Kommentare

 / 
  • Bei Wahlen zu Bundes- oder Landesparlament will ich meine Stimme nicht verschenken. Daher gebe ich meine Stimme/n einer der etablierten Parteien, die ich als kleinstes Übel ansehe - keine Partei ist zu 100% "meins", man kauft das Gesamtpaket.



    Bei der Europawahl habe ich als Ü60 auch eine Kleinstpartei gewählt, da es gerade bei der EU-Wahl, wo es keine 5%-Hürde gibt, auch für Minderheitenmeinungen eine Chance gibt. Selbst mit 1 Sitz im EU-Parlament besteht die Möglichkeit, auch andere auf seine Seite zu ziehen, Bedenken anzumelden, Fragen zu stellen. Dicke Bretter bohren, vielleicht wird auch mal eine Kleinstpartei groß.

  • Wir sind mitten in der Klimakatastrophe, in der auch die jungen Leute sich fragen müssen, wie es dazu in dieser so hoch gepriesenen 'Demokratie' kommen konnte, dass selbst die 'Grünen' in diesem Parlamentarismus praktisch erfolglos, ja hilflos bleiben. Und das in Zeiten, wo Tausende gegen die rechten Schwurbler auf die Strasse gehen, es aber wohl keine Partei im Bundestag oder den Landtagen gibt, die Mut machend wirken können. Wie ist es möglich, dass Wissenschaftler verzweifelnd auf die kommenden Zeiten hindeuten und sich Grüne und der schwarze Block aus CDU/CSU sich an Themen wie Migration oder einem zu großzügigen Bürgergeld abarbeiten können. Das ist Realitätsverweigerung, die junge Leute am Parteienstaat zweifeln lassen.

  • Die Jugend ahnt, das es für die multiplen Krisen keine Lösungen gibt, das sich die zentralen Dilemma nicht lösen lassen.

    Die Klimakrise läßt sich im wachstumsgetriebenen Kapitalismus nicht lösen und die Erderwärmung selbst mit dem weltweiten Ausbau der erneuerbaren Energien nur minimal abbremsen, von 4 Grad, auf 2,5-3 Grad. Wohlstand und Demokratie basieren auf der Nutzung der fossilen Energie. Wir sind gerade mal bei 20% Anteil von Wind und Solar am Gesamtenergieverbrauch. Nur leider gibt es zum Umwelt zerstörenden Kapitalismus kleine realistische Alternativen.



    Der zweite Punkt ist die alternde Gesellschaft, die Jungen werden im Berufsleben zwei Rentner versorgen müssen oder überlegen auszuwandern.



    Die Auswirkungen der Klimakrise und die Altende Gesellschaft werden zu einer Stagnation, des Lebensstandards führen, einige Dienstleistungen, Veranstaltungen und Produkte könnte es bald nicht mehr geben.

    All das weiß oder ohne die Jugend.



    Dem gegenüber steht die jugendliche Energie, Tatkraft und Lebensfreude, die nur leider in dem toxischen Umwelt ins Leere läuft...

    • @Paul Schuh:

      Dazu eine Pressemeldung des Statistischen Bundesamtes:

      Pressemitteilung Nr. 087 vom 7. März 2024

      Stromerzeugung 2023: 56 % aus erneuerbaren Energieträgern

      Windkraft war im Jahr 2023 mit einem Anteil von 31,0 % wichtigster Energieträger für die Stromerzeugung in Deutschland



      Stromerzeugung aus erneuerbaren Energieträgern um 6,7 % gestiegen, aus konventionellen Energien um 27,8 % gesunken



      Insgesamt 11,8 % weniger Strom ins Netz eingespeist als im Vorjahr



      Importierte Strommenge deutlich gestiegen, exportierte Strommenge rückläufig

      • @Aurego:

        Sie verwechseln die Stromproduktion mit dem Gesamtenergiebedarf.

        Der Gesamtenergiebedarf Deutschlands beträgt 2500 TWh (das beinhaltet Öl, Gas, Kohle und Erneuerbare). Davon ist die Stromproduktion 500 TWh. Je nach Wind und Wetter beträgt der erneuerbare Anteil der Stromproduktion 250 - 300 TWh. Dazu kommen noch 200 TWh erneuerbarer Anteil aus der Wärmeproduktion (Holz und Geothermie). Somit liegt der erneuerbare Anteil bei 450 - 500 TWh von 2500 TWh. Der Rest ist leider immer noch fossile Energie.

    • @Paul Schuh:

      Es sollte heißen: "All das weiß oder ahnt die Jugend."

      • @Paul Schuh:

        Ihre erste Formulierung ("All das weiß oder ohne die Jugend.") war tiefsinniger. Man sollte sich wirklich überlegen, was weiße Farbe mit der Jugend zu tun hat. Wahrscheinlich ergibt die Mischung aller politischen Farben dieses unschuldig wirkende, jugendliche Weiß.

      • @Paul Schuh:

        Lesen bildet. Ich verwechsle gar nichts, habe aber natürlich damit gerechnet, dass Sie mir diesen Vorwurf machen würden. Was ich hier beigetragen habe, ist lediglich der Status des Ausbaus der erneuerbaren Energien anhand einer Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes.

  • Wichtig ist vor allem, nicht jeden Schmarrn zu glauben, den irgendein dahergelaufener Möchtegern-Kommentator ins Mikro säuselt und nicht jedem Influencer hinterherzulaufen, der behauptet, die Welt breche morgen zusammen. Man muss jede vermeintliche Wahrheit, die man über Youtube, Instagram und Tiktok eingeredet bekommt, selbst überprüfen, bevor man sie glaubt. Das kann durchaus anstrengend werden. Manchmal muss man sich dazu durch hunderte Seiten virtuelles Papier wühlen. Irgendwann hilft diese Arbeit aber, die Komplexität der Welt besser zu erfassen. Einfache Lösungen für komplexe Probleme gibt es jedoch nur äußerst selten. Es empfiehlt sich also, skeptisch gegenüber Marktschreiern zu sein, die einfache Lösungen anbieten. Solche Lösungen entpuppen sich langfristig oft als undurchdacht, manchmal sogar als gefährlich.

  • „Das Interesse der 14- bis 17-Jährigen an Politik ist begrenzt. Rusanna Gaber, Mitautorin der 300-Seiten starken Erhebung, sagte bei der Vorstellung der Studie am Mittwoch: „Die Probleme werden zwar wahrgenommen, sie übersetzen sich aber kaum in längerfristiges politisches Engagement.“ Lediglich lösten akute Krisen sporadische Unterstützung aus, wie die Teilnahme an Demonstra­tionen. Ein Teil der Jugendlichen zeige sich ob der Fülle an Informationen überfordert und verdränge diese.“

    Das gilt ja wohl auch für die Mehrheit der über 17jährigen.

    • @guzman:

      Die 14- bis 17-Jährigen wissen wahrscheinlich genau, dass Politiker die meisten Probleme nicht lösen werden. Sie können lediglich den gesetzlichen Rahmen für die Lösung der Probleme vorgeben. Daher werden die meisten jungen Leute produktivere Berufe ergreifen wollen als den des Politikers.