Whistleblowerin Chelsea Manning: „Wir werden es überleben“

Chelsea Manning informierte über US-Kriegsverbrechen und saß dafür jahrelang im Gefängnis. An eine bessere Welt glaubt sie weiterhin.

Portrait von Chelsea Manning

„Eine realistische Optimistin“: Chelsea Manning in einem Hamburger Hotel beim Gespräch mit der taz Foto: Heinrich Holtgreve

wochentaz: Frau Manning, Sie haben ein schillerndes Image. Die Whistleblowerin, die trans Frau, die Verräterin, die Heldin. Sind Sie eine Heldin?

Chelsea Manning: Ich sehe mich nicht als Heldin. Diese Bilder stammen aus einem sehr engen Ausschnitt meines Lebens. Ich habe ein Statement abgegeben mit den Dateien, die ich bei Wikileaks hochgeladen habe. Ich habe meine Aussagen vor dem Militärgericht gemacht. Ich habe im Gefängnis gekämpft, um zu überleben. Aber das ist viele Jahre her. Das ist vorbei.

Aber Sie sind nun mal eine der bekanntesten Whist­leb­lo­wer*­in­nen der Welt. Sie haben 2010 gut eine halbe Million Seiten aus Geheimpapieren des US-Militärs an Wikileaks weitergegeben – und die Verbrechen von amerikanischen Soldaten im Irak und Afghanistan offengelegt.

Für mich ist das die Geschichte meiner Jugend. Ich glaube nicht, dass man mein ganzes Leben nur über dieses Zeitfenster erklären kann. Deshalb habe ich jetzt ein Buch geschrieben, um meine ganze Geschichte zu erzählen. Eine Coming-of-Age Story: Über das Überleben und die Suche danach, wer ich bin. Als ich 2017 aus dem Gefängnis kam, war das der Beginn eines neuen Lebens. Heute mache ich Erwachsenendinge. Ich wusste nicht, wie man Kreditkarten benutzt. Ich habe zum ersten mal Miete für eine Wohnung bezahlt. Ich muss Steuern zahlen – was vorher das Militär für mich übernommen hat. Ich lerne, mich durch viele neue Herausforderungen zu navigieren.

Stört es Sie, dass so viel auf Ihre Person projiziert wird?

Nein, aber die Leute machen es sich zu einfach. Es wurde gesagt, ich sei eine sozial isolierte Einzelgängerin. Völlig absurd, denn ich war extrem extrovertiert und sozial. Ich war ein Party Animal.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dahinter stecke auch eine Strategie der Regierung: Man stellt Enthüller als abgedreht dar, als “nuts and sluts“.

Genauso ist es.

Sie wurden zu 35 Jahren Haft verurteilt. Von denen saßen Sie sieben ab, bevor Ihnen der damalige US-Präsient Obama die Reststrafe erließ. Sieben Jahre, in denen Sie Ihre Motive nicht offenlegen konnten. Wie hart war das?

Ich habe mich doch erklärt. Meine Erklärung lag in der “readme“-Datei, die ich bei Wikileaks hochgeladen habe. Diese Botschaft war sehr klar, und ich glaube, das haben auch alle gesehen. Er wurde von vielen nur absichtlich ignoriert.

Die Dateien dokumentierten Folter durch US-Soldaten, Angriffe auf irakische Zivilisten und Journalisten…

Das waren Dinge, die ich als Militäranalystin im Irak gesehen habe und die ich nicht mit dem öffentlichen Bild in den USA in Einklang bringen konnte. Ich dachte immer, dass es als gute Absicht gilt, wenn ein Bürger der Öffentlichkeit zeigt, was wirklich passiert. Ich weiß nicht, wann uns das verloren ging.

Es war klar, dass das nicht erlaubt war: Es war Ihr Job, mit Geheiminformationen zu arbeiten, aber nicht diese nach draußen zu geben.

Meine Aufgabe war, Geheimdienstinformationen, Quellen und Methoden für künftige Operationen zu schützen. Nun aber sah ich all die Toten und hatte das Gefühl, etwas tun zu müssen. Das war historisches Material, das veröffentlicht werden musste.

In Kuwait waren Sie über Wochen in einen Stahlkäfig gesperrt, später saßen Sie lange in Isolationshaft. Wie haben Sie das durchstanden?

Ich war darauf nicht vorbereitet. Am Anfang wusste ich ja nicht mal, warum ich überhaupt verhaftet wurde. Ich konnte mir das natürlich zusammenreimen, aber mir wurden keine Vorwürfe genannt. Ich hatte keinen Zugang zu einem Anwalt. Ich wusste nicht, ob meine Familie oder irgendjemand sonst wusste, dass ich eingesperrt war. Damals dachte ich, sie könnten mich in ein Loch werfen, ohne jeden Prozess. Da ging es für mich nur ums Überleben. Die Strategie war: Wie komme ich durch die nächsten sechs Stunden? Wie komme ich bis zum Mittag? Zum Abendbrot? Ich brach das runter in kleine Einheiten.

Würden Sie heute sagen, Sie waren naiv?

Mir war schon klar, dass ich Ärger bekommen würde. Es gab zwei große Fälle vor mir. Daniel Ellsberg, der die Pentagon-Papiere über den Vietnamkrieg veröffentlichte – er wurde verurteilt, aber er musste nicht ins Gefängnis, konnte Interviews geben und Reden halten. Und Thomas Drake, der das NSA-Überwachungsprogramm offenlegte – auch er musste nicht in Haft. So hatte ich das auch erwartet. Woher sollte ich wissen, dass es diesmal anders läuft?

Haben Sie das Leaking bereut?

Ich hatte keine Chance, darüber nachzudenken. Ich habe die ganze Zeit nur versucht zu überleben. Und die Entscheidung fiel damals ja innerhalb kurzer Zeit und unter widrigsten logistischen Umständen. Am Ende war vieles Zufall. Es hätte auch ganz anders kommen und gar nicht klappen können. Dann wäre ich heute eine andere Person. Aber darüber denke ich nicht nach.

Heute ist es selbstverständlich, auch aus Kriegsgebieten eine Vielzahl an Informationen zu erhalten.

Die Lage hat sich komplett geändert. Es geht nicht mehr darum, ob Informationen an die Öffentlichkeit gelangen, sondern darum, zwischen richtigen und falschen zu unterscheiden. Heute werden die Menschen mit Informationen überhäuft. Deswegen habe ich größte Schwierigkeiten mit alten Menschen, die noch in diesem Mindset von damals stecken.

Alte Menschen?

Alte Leute, alte Journalisten, die mir immer wieder die gleichen Fragen über Geheimhaltung und Privatsphäre stellen. Das verwirrt mich. Leute fragen mich: Willst du in einer Welt radikaler Transparenz leben? Ich meine, schauen Sie sich um: Das ist die Welt radikaler Transparenz, oder? Damals konnten die Regierung, das Militär oder Großunternehmen noch Informationen kontrollieren und zurückhalten. Heute können sie das höchstens noch für vielleicht zwei Jahre.

Braucht es dann überhaupt noch Whist­leb­lo­wer*­in­nen wie Sie?

Ich selbst benutze diesen Begriff nicht wirklich, er klingt so nach 20. Jahrhundert, nach einem Polizisten mit Trillerpfeife. Aber ich bin sicherlich weiterhin eine Verfechterin der Transparenz. Nur ist es inzwischen wichtiger, einschätzen zu können, welche Information ist richtig oder falsch, welche ist gezielte Desinformation oder einfach nur Rauschen.

Welchen Aktivismus betreiben Sie dann heute?

Ich sehe mich als Aktivistin auf eine sehr umfassende Art. Es gibt viele Dinge, in die ich mich einmische. Die Rolle der Geheimdienste, aber auch die der Polizei in den USA, ihre Gewalt und Brutalität. Wie das Militär verfolgt auch die Polizei eine Taktik der Dehumanisierung, sie tritt auf wie eine inländische Besatzungsmacht.

Sind Sie auch eine Aktivistin für trans Rechte?

Naja, nicht unbedingt. Aber ich unterstütze natürlich trans Rechte. Denn es ist mein Interesse, als trans Person zu überleben.

Schon in Ihrer Kindheit war Ihnen klar, dass Sie sich trans fühlen. Aber es war ein langes Ringen: Erst in Haft führten Sie Ihre Transition durch.

Ich versuchte das zu unterdrücken, aber es kam wieder zurück. Bis in meine frühen Zwanziger war ich eine trans Person, ohne zu wissen, dass es eine Community dafür gibt. Eine Gemeinschaft, die sich unterstützt, informiert und vernetzt.

Nicht nur Ihnen, auch anderen trans Personen begegnen bis heute Feindseligkeiten. Ist auch das ein Problem fehlender Informationen?

Damals war es so. Es gab ja das gesellschaftliche Ziel, Informationen über trans Aktivismus zu verbannen: Das ist schlecht und muss gestoppt werden. In der Community verhinderte das, die eigene Existenz wahrzunehmen, die eigene Geschichte und das Bewusstsein auch Widerstand leisten zu können. Heute sind diese Informationen da und das Problem sind auch hier eher Desinformationen. Trans Menschen sind ja inzwischen sehr exponiert, aber es scheint ihnen nicht zu helfen.

Sie wirken so verständnisvoll mit den Menschen um Sie herum. Sie glauben, dass Informationen eine bessere Gesellschaft formen können.

Das ist mein Job.

Sind Sie Idealistin?

Eher realistische Optimistin.

Nach all dem, was Ihnen widerfahren ist? Und auch angesichts dessen, dass in den USA Trump an die Macht zurückkehren könnte, es wieder tödliche Schüsse auf queere Be­su­che­r*in­nen einer Bar gab?

Ich weiß, dass es Dinge gibt, die nicht gut laufen auf dieser Welt. Ich sehe, dass eine reaktionäre Bewegung in den USA die Entwicklung zurückdrehen kann, insbesondere wenn es um trans Rechte geht. Das zeigen schon ihre Erfolge bei der Einschränkung von Abtreibungsrechten. Was mich dennoch optimistisch macht, ist der Fakt, dass die queere und trans Community, ja die ganze Menschheit, es bisher geschafft hat, auch die furchtbarsten Zustände durchzustehen und daraus gestärkt hervorzugehen. Das erwarte ich auch jetzt, bei der Klimakrise, beim Aufstieg reaktionärer und rechtsextremer Politik, beim Umgang mit Massenmigration aus dem globalen Süden und den rückständigen Reaktionen darauf oder bei der Desinformation über Social Media. Ja, es werden harte Zeiten. Aber ich glaube, wir werden das überleben. Wir werden etwas Neues und Besseres aufbauen. Auch wenn das noch eine Weile dauern kann.

Worauf gründet Ihr Optimismus?

Wir haben in der Geschichte schon solche Zyklen durchlaufen. Nelson Mandela saß in Südafrika fast 30 Jahre in Haft, es sah so aus, als würde die Apartheid nie verschwinden. Heute ist Südafrika ein viel freieres, viel demokratischeres Land. Martin Luther King sagte einst: Der Bogen des moralischen Universums ist lang, aber er neigt sich der Gerechtigkeit zu. Ich glaube nicht, dass der Bogen sich einfach von allein neigt. Es braucht einen konstanten Druck dafür. Aber ich glaube, dass diese Art Druck möglich ist

Wie kommt man eigentlich als queere Person auf die Idee, ausgerechnet zum Militär zu gehen?

Das US-Militärsystem nimmt vor allem Freiwillige auf, die am Abgrund stehen. In so einer Lage war ich auch: Eine 22-jährige Person, die keine Idee hat, in welche Richtung ihr Leben gehen soll. Ich wollte Physik studieren, musste aber bei Starbucks arbeiten und war eine Zeit lang obdachlos. Da bekam ich von allen Seiten Druck, zum Militär zu gehen, wo versprochen wurde, mein Leben radikal zu verbessern. Die Anwerber sagten mir das, die Schulen, die Medien.

Und vor allem Ihr Vater, auch ein früherer Militär, der Sie in Ihrer Kindheit drangsalierte.

Ja, ich dachte, dass ich so seinen Respekt bekommen würde. 


Gab es einen Punkt, an dem Sie aufgehört haben, darauf zu warten?

Ich habe mich jedes Mal, auch während der Armeeausbildung gefragt, wieso er mich nicht liebt. Wieso er mich nicht akzeptiert, was ich falsch gemacht habe. Das Ganze hat eine klaffende Wunde in mir hinterlassen.

Spüren Sie die immer noch?

Nein, nein. Der Zug ist abgefahren. Ich habe kein Kontakt mehr zu ihm. Wir haben versucht ihn zu finden, wegen des Buchs. Aber keine Chance. Ich weiß, dass er lebt, irgendwo zwischen Tennessee und Texas. Aber mehr auch nicht.

Im Militär galt damals noch die don’t ask, don’t tell- Regel. Wer nicht heterosexuell war, durfte darüber nicht sprechen. Wie gingen Sie damit um?

Als diese Regel eingeführt wurde, war ich sechs. Für mich war die Welt so. Und ich hatte nie das Gefühl, bei der Armee nicht dazuzugehören. Ich war dort ja auch nicht die einzige queere Person. Ich fühlte mich dazugehörig, bis ich im Gefängnis landete.

Ihre Transition begannen sie im Gefängnis, als erste Person in der US-Geschichte. Behörden legten Ihnen Steine in den Weg, Ihre Mitgefangenen waren tolerant. Wie erklären Sie sich das?

Zum einen bin ich eine soziale, freundliche und einnehmende Person. Zum anderen gibt es eine natürliche Solidarität unter den Inhaftierten. Alle schweißt zusammen, dass sie das Gefängnis offensichtlich nicht mögen. Ich saß in Hochsicherheitsgefängnissen, und die gewalttätigsten und gefährlichsten Leute, denen ich dort begegnete, waren die Aufseher. Sie machten, was sie wollen, und es hatte keine Konsequenzen. Natürlich gab es auch bei Mitgefangenen Vorurteile, aber generell hieß es: Du gehörst zu uns.

Fühlen Sie sich heute frei?

Das kann ich so nicht sagen. Die USA sind ein Pulverfass, an-gsteinflößend, ein labiler Ort. Die Zeit im Gefängnis war stabiler und komfortabler. Es gibt viel zu viel unausgesprochene Dinge hier draußen. Über weiten Teilen des Landes liegt ein Schleier von Unsicherheit. Du weißt nie, ob du nächste Woche noch einen Job hast oder eine Krankenversicherung.

Clubs und Partys haben Ihre Jugend ausgemacht, heute legen Sie auch als DJ auf. Wirft Sie das in Ihr altes Leben zurück?

Naja, ich lege ein paar Songs aus dieser Zeit auf. Aber eigentlich schaue ich mehr nach vorne. Ich hätte nicht überleben können, ohne nach vorne zu schauen. Im Gefängnis habe ich gelernt, nicht in der Vergangenheit zu schwelgen. Das hat noch nie jemandem geholfen.

Am Donnerstag war Chelsea Manning in der taz zu Gast. Das Gespräch ist auf Youtube zu sehen.

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