Buch „Readme.text“ von Chelsea Manning: Eine Art Heldin

Ihre Leaks veränderten die Welt: In ihrem Buch verknüpft die US-Whistleblowerin Chelsea Manning elegant ihre politischen mit persönlichen Motiven.

Portrait

Kämpfte stets auch für die Anerkennung ihrer Geschlechts­identität: Chelsea Manning Foto: Dirk Waem/imago

Eine gute Viertelstunde lang ist das Video, das unter dem Namen „Collateral Murder“ bekannt werden sollte. Es zeigt in redaktioneller Bearbeitung, akustisch von der authentischen Funkkonversation begleitet, einen Einsatz des US‑Militärs im Irak aus der Perspektive eines Kampfhubschraubers.

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Er feuert, scheinbar ohne unmittelbaren Anlass, erst auf eine Gruppe von zehn Personen, die ohne Eile einen Platz überqueren, und anschließend auf einen Transporter, der den Schwerverletzten und Getöteten zu Hilfe kommt. „Nice shootin'“ – Gut geschossen, kommentiert lakonisch eine Stimme im Funk­verkehr.

Ein ganz gewöhnlicher Vorgang im sogenannten Krieg gegen den Terror. Das Besondere an den Aufnahmen von 2007 ist, dass sie den kaltblütigen Mord an unter anderem zwei Journalisten der Nachrichtenagentur Reuters einer weltweiten Öffentlichkeit bekannt machten. Reuters hatte lange vergeblich versucht, das Video einzusehen, um die Todesumstände der beiden Mitarbeiter klären zu können. Die Whistleblower-Plattform Wikileaks war es schließlich, die Zugang zu dem Material bekam und es im April 2010 veröffentlichte.

Zu diesem Zeitpunkt wusste niemand, auch nicht bei Wiki­leaks, wer das Video und Zehntausende weitere Dokumente von den Schlachtfeldern in Afghanistan und Irak zur Verfügung gestellt hatte. Erst später wurde klar, dass die einen Monat später festgenommene Chelsea Manning alleine für das umfangreichste Sicherheits-Leak in der Geschichte der USA verantwortlich war. Über ihre Motive wurde seitdem viel spekuliert.

Anders als Edward Snowden, der sich in einer dramaturgisch geschickt aufgebauten Veröffentlichungsabfolge zum Zeitpunkt der Publikation seiner Belege zur Massenüberwachung durch US-Geheimdienste selber erklären konnte, blieb das Manning wegen der jahrelangen Haft lange Zeit verwehrt. In den ersten sieben Jahren ihrer Prominenz wurde demnach vor allem über sie geredet, weniger mit ihr.

Kampf um Anerkennung der Ge­schlechts­iden­tität

Diese Lücke füllen kann in Teilen die gerade erschienene Autobiografie der nicht einmal 35-Jährigen mit dem Titel „Readme.txt“. Dabei handelt es sich um den Namen der erläuternden Datei zu den an Wiki­leaks übertragenen Unterlagen. Einerseits.

Andererseits lässt sich dieses Readme, also wörtlich „Lies mich!“, auch als Aufforderung verstehen, Chelsea Manning nicht als Projektionsfläche zu verwenden, sondern als selbstbestimmte, eigenständige Person wahrzunehmen.

Bedeutung hat das weit über die entschiedene Zurückweisung der äußeren Zuschreibung als Verräterin oder Heldin hinaus. Schließlich musste Manning über Jahre, viele davon in Uniform und im Gefängnis, für die Anerkennung ihrer Ge­schlechts­iden­tität kämpfen. Tatsächlich beschreibt sie diesen Kampf als den entscheidenden ihres Lebens.

Das Leben vor der Army, das Manning beschreibt, ist geprägt von Unsicherheit, Armut, Zurückweisung und Enttäuschung. Nichts Menschliches ist ihr fremd. Sie weiß um die Ambivalenz ihrer Verpflichtung beim Militär, die eben nicht von naivem Hurrapatriotismus getrieben war. Zuerst aber kam das Fressen. Die Entscheidung, materielle Sicherheit ausgerechnet in Uniform zu suchen, sollte sich, wie bekannt, aufs Schlimmste rächen.

Schon allein das Verbot, jegliche Form sexueller Abweichung offen zu leben, musste Manning auf Dauer zu sehr belasten. In ihrem Buch beschreibt sie ausführlich und sehr plastisch die Angst und Erpressbarkeit, die zu Zeiten der verdrucksten Politik des „Don’t ask, don’t tell“ beim US-Militär vorherrschten.

Viele Details sind als geheim eingestuft

Das als Analystin vor Ort erworbene Wissen um die Sinnlosigkeit, Brutalität und Ungesetzlichkeit des Antiterrorkrieges und die Möglichkeit, all das öffentlich zu machen, ist wie eine Form der Erlösung aus der Unterdrückung. Den Verrat, der sie berühmt machte und für sieben Jahre hinter Gitter brachte, bewerkstelligt sie, von nebensächlichen Details abgesehen, viel unkomplizierter und viel entschlossener als ihr permantes Ringen auf dem Weg zu sich selbst.

Insofern bietet Readme.txt wenig neue Einblicke in die Veröffentlichungsgeschichte der Manning-Leaks oder gar weitere gänzliche unbekannte Details über den Krieg gegen den Terror.

Das ist aber ganz offensichtlich nicht allein die Entscheidung der Autorin selbst. Viele Details im Zusammenhang mit ihrem Militärdienst sind weiterhin als geheim eingestuft. Im Buch finden sich sogar noch geschwärzte Stellen.

Was den Le­se­r*in­nen überlassen bleibt, ist die Bewertung der gesellschaftlichen Folgen der Veröffentlichung geheimer Unterlagen. Als Daniel Ellsberg 1971 Dokumente über die skandalöse Entscheidungsfindung der politischen und militärischen Führung im Vietnamkrieg an die Presse weitergab, sollte der Krieg noch weitere vier Jahre andauern.

Chelsea Manning: „Readme.txt“, Harper Collins, VÖ am 22. 11. 2022, 336 Seiten, 22 Euro

taz-Talk mit Chelsea Manning: Do., 24. 11. 2022, 19 Uhr, Eintritt frei, taz Kantine Berlin (nur mit vorheriger Anmeldung möglich), und im Livestream via YouTube. Mehr Infos und Stream-Link: taz.de/talk

Nach Veröffentlichung des Videos „Collateral Murder“ wurde der US-Drohnenkrieg intensiviert. Der Afghanistaneinsatz endete erst mehr als zehn Jahre später im völligen Desaster.

War es das wert für Chelsea Manning? Die Haft, die Folter, die Qualen? Mit den Informationen, die Manning, Snowden und viele vor und nach ihnen weitergegeben haben, ist die Welt schließlich eine andere geworden. Sie weiß mehr von sich. Bis in den letzten dunklen Winkel lassen sich die Niedertracht und Brutalität der Macht in deren eigenen Worten und Taten beschreiben. Gebrochen ist sie damit nicht. Das aber dürfte eine zumindest leise Erwartung politisch motivierter Whist­le­b­lo­wer*­in­nen sein.

Glauben an die Kraft einer informierten Öffentlichkeit

Die werden in einer Zeit der strategischen Zerstörung des evidenzbasierten Diskurses zu den so ziemlich Letzten, die an die positive Kraft einer informierten und kritischen Öffentlichkeit in den westlichen Demokratien glauben – und an deren Anwalt, den Journalismus.

In einer postfaktischen Welt, in der bunte Verschwörungstheorien auf mehr Interesse stoßen können als die Fakten einer grauen Realität, und in einer Welt, in der Korruption und Verbrechen sich ganz offensichtlich lohnen, wirkt das vielleicht naiv. Dabei ist es vor allem konsequent. Chelsea Manning ist es auf dramatische Weise und gegen übermächtige Widerstände gelungen, sowohl daran mitzuwirken, die äußere Realität präziser zu beschreiben, als auch sich selbst zu finden.

Die Frage, was wir mit all diesen Informationen anfangen, die wir nun dank Manning haben, können und müssen derweil nur wir beantworten.

Manning bezeichnet ihr Buch als Coming-of-Age-Geschichte. Und tatsächlich ist Readme.txt viel mehr Entwicklungsroman als Spionagethriller. Die Veröffentlichung dieser Erzählung von sich selbst ist dabei genauso politisch, wie es die Verbreitung des Collateral-Murder-Videos vor mehr als zehn Jahren war.

Anders als die dort gezeigte zynische Gewalt ohne Sinn und ohne Zukunft, ist die Geschichte, wie die Person Chelsea Manning sie selbst wurde, eine Geschichte voller Menschlichkeit und Zuversicht und das sogar mit einem Happy End.

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