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Rettungswesten in Erinnerung an die Opfer des Schiffsunglücks vor der griechischen Küste Foto: Kostis Ntantamis/anadolu/picture alliance

Was Griechenland wussteDas tödliche Geschäft des Abu Sultan

Hunderte Menschen starben 2023 beim Schiffbruch von Pylos und Griechenland steckte neun Überlebende in den Knast. taz-Recherchen zeigen: Die Justiz wusste, dass sie unschuldig waren.

S a’edia Adel erinnert sich an den Moment, als sie erfuhr, dass das Boot mit ihrem Sohn Ahmed vor der Küste von Pylos, Griechenland, gekentert war. „Ich habe geschrien, ich konnte es nicht glauben. Wir haben im Internet nach Bildern von Überlebenden und Toten gesucht,“ sagt sie.

Ahmed Adel war damals 32 Jahre alt, hatte seine Frau und seine drei kleinen Kinder zurückgelassen, um in Europa Arbeit zu suchen. Das vierte Kind war zuvor an einer Lungenkrankheit gestorben, berichtet die Familie, als wir sie in einem kleinen Dorf im Gouvernement Al-Sharqia, im Umland von Kairo, treffen. Sie habe sich die medizinische Behandlung nicht leisten können. Und so setzte sie ihre Hoffnungen auf Ahmed Adels Reise.

Rund 750 Menschen sollen am 9. Juni 2023 an Bord eines Fischtrawlers aus dem ostlibyschen Tobruk losgefahren sein, Ziel: Italien. Am 14. Juni 2023 sank das Schiff an einer der tiefsten Stellen des Mittelmeeres, rund 70 Kilometer südwestlich der griechischen Stadt Pylos. Es war eines der schwersten Schiffsunglücke im Mittelmeer überhaupt. Bis zu 650 Menschen ertranken.

Als Sa’edia im Netz nach Informationen über das Unglück suchte, fand sie ein Bild von Ahmed. Er lebte. Nur saß er in einem griechischen Polizeiauto, mit den Händen schirmte er sein Gesicht ab. In den Stunden nach dem Unglück versuchten die griechischen Behörden Schuldige für die Katastrophe zu finden. Neun ägyptische Männer, darunter Adel, wurden aus der Gruppe der 104 Überlebenden herausgegriffen und verhaftet. Die „Pylos 9“ wurden beschuldigt, Teil eines Schlepperrings zu sein, der die Reise organisiert hatte.

Unschuldige in Haft

Doch schon bald gab es Hinweise darauf, dass die Beschuldigten keine Schlepper, sondern einfache Passagiere waren. Ihnen war ein Job in Europa versprochen worden, um sie vom Kauf eines der teuren Plätze auf dem Schiff zu überzeugen. Eine monatelange Untersuchung unter der Leitung des griechischen Investigativmediums Solomon und des Netzwerks Arab Reporters for Investigative Journalism in Zusammenarbeit mit El País und der taz ergab, dass die griechischen Behörden schon früh wussten, dass die „Pylos 9“ unschuldig waren, sie aber fast ein ganzes Jahr in Untersuchungshaft behielten.

Das Recherchenetzwerk konnte mehr als 700 Seiten Dokumente der ägyptischen Staatsanwaltschaft, des Außen- und Innenministeriums einsehen. In ihnen sind die Ermittlungen der ägyptischen Behörden gegen den Schlepperring dokumentiert, der die Überfahrt der Mi­gran­t:in­nen wirklich organisiert hat. Die Ägypter kamen zu dem Schluss, dass die „Pylos 9“ nicht Mitglieder des Schlepperrings, sondern dessen „Opfer“ waren, wie es in den Akten heißt.

Schuld und Vertuschung - Griechenlands Rolle beim Schiffsunglück vor Pylos

Zahlen

2.029 Menschen sind nach Zählung der UN-Migrationsorganisation IOM im Jahr 2024 auf dem Weg nach Europa im Mittelmeer ertrunken.

Klagen

53 der 104 Pylos-Überlebenden haben eine Sammelklage eingereicht. Sie werfen der griechischen Küstenwache vor, erst Stunden nach der Benachrichtigung durch die EU-Grenzagentur Frontex und die NGO Alarm Phone reagiert zu haben. Obwohl ein Rettungsschlepper in der Nähe stationiert war, habe die Küstenwache nur ein kleines Patrouillenboot zum Unglücksort geschickt, erklärte Maria Papamina vom griechischen Flüchtlingsrat.

„Pylos war kein Unglück, das war eine orchestrierte Sterbebegleitung“, sagt Pro-Asyl-Geschäftsführer Karl Kopp. Die Beweise seien „erdrückend, dass Griechenland über 15 Stunden Lebensrettungsmaßnahmen verweigert hat“.

Aufarbeitung

Der bei dem Einsatz beschädigte Datenschreiber des griechischen Patrouillenbootes konnte erst Monate später repariert werden, Videoaufzeichnungen lagen nicht vor. „Wir haben berechtigte Sorge, dass es sich um einen Vertuschungsversuch handelt“, sagt Maria Papamina vom griechischen Flüchtlingsrat.

Auch die UN-Organisationen UNHCR und IOM sehen den Umgang Griechenlands mit der Schiffskatastrophe von Pylos kritisch und fordern eine gründliche Untersuchung, um den Überlebenden und den Familien der Opfer Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Es sei unverzeihlich, dass ein Jahr nach der Tragödie die Untersuchung einer möglichen Verantwortung der griechischen Küstenwache kaum vorangekommen sei. ()

Die Behörden übermittelten Griechenland dazu einen detaillierten Bericht. Die tatsächlichen mutmaßlichen Schlepper und ihre Rollen innerhalb eines kriminellen Netzwerks sind darin benannt. Bereits im Juli 2023, nur einen Monat nach dem Schiffbruch, hatten die griechischen Behörden demnach Zugang zu diesen Informationen, die die „Pylos 9“ entlasteten. Dennoch blieben sie in Haft und mussten mit lebenslangen Gefängnisstrafen rechnen.

Sie wurden erst freigelassen, als sich das Gericht im griechischen Kalamata am 21. Mai 2024 für unzuständig erklärte. Es weigerte sich, den Fall zu verhandeln, weil der Schiffbruch in internationalen Gewässern stattgefunden hatte.

Schon am Tag nach dem Schiffbruch leitete die ägyptische Generaldirektion für die Bekämpfung von Menschenhandel eine Untersuchung ein. Sie bat Griechenland um Zusammenarbeit, um die Wahrheit über dieses Verbrechen ans Licht zu bringen

Ägypten ermittelt allein

Die Dokumente geben einen seltenen Einblick in das transnationale kriminelle Netzwerk hinter dem tödlichen Schiffsunglück. Es operiert in ganz Ägypten und Libyen und beutet Mi­gran­t:in­nen aus, indem es ihnen Plätze auf unsicheren Schiffen verkauft. Große Geldsummen wäscht es über Schattenfirmen. Sichtbar wurde all dies auch in den Pylos-Ermittlungen der ägyptischen Behörden, die unter anderem bei Razzien Bargeld und Namenslisten von Mi­gran­t:in­nen beschlagnahmten.

Schon am Tag nach dem Schiffbruch des Trawlers leitete die ägyptische Generaldirektion für die Bekämpfung von Menschenhandel eine Untersuchung ein. Sie gab dem Fall oberste Priorität. Die ägyptischen Behörden identifizierten zunächst 31 Verdächtige aus den Reihen des Schleppernetzwerks. Die Verhaftung eines rangniedrigen Mitglieds ergab Hinweise auf fünf weitere Personen. Die Liste der Männer, die Ägypten verdächtigte, die Reise des Trawlers organisiert zu haben, wuchs somit auf 36 Namen an.

Am 8. Juli 2023 dann legte die ägyptische Staatsanwaltschaft erste Ergebnisse vor. Sie bat Griechenland um Zusammenarbeit, „um die Wahrheit über dieses Verbrechen ans Licht zu bringen“, wie es in einem an Griechenland gesandten Memo hieß. Die ägyptischen Behörden lieferten darin detaillierte Informationen über den Schlepperring, die Rollen der Mitglieder und eine Liste der in Griechenland im Knast sitzenden „Pylos 9“.

Die Er­mitt­le­r:in­nen baten Griechenland um ihre Erkenntnisse – und um Aussagen von Überlebenden. Doch bis Ende August 2023 kam keine Antwort aus Athen. Ägypten legte nach, schickte eine „dringende Folgeanfrage“, bat um Informationen, um „die wahren Täter“ zu finden. In dieser zweiten Anfrage benannte sie auch, dass die ägyptische Staatsanwaltschaft zu dem Schluss gekommen war, dass es keine Verbindung zwischen den „Pylos 9“ und dem Schleppernetzwerk gab. Doch die griechischen Behörden reagierten nicht.

Razzia in der Luxusvilla

In der Zwischenzeit hatten die ägyptischen Behörden gehandelt: 23 der 36 identifizierten Verdächtigen wurden bis Mitte Juli 2023 in Ägypten verhaftet. Die übrigen 13 flohen nach Libyen.

Die Justizdokumente, die die taz einsehen konnte, geben einen Einblick in die Operation: Demnach verhaftete die ägyptische Polizei am 14. Juli bei einer Razzia in einer Luxusvilla im Badeort Al-Agami nahe Alexandria Mohammed Solaiman. Er ist die rechte Hand des berüchtigten Abu Sultan, dem Anführer eines der größten Schmugglernetzwerke Nordafrikas.

Solaiman hatte neben Bargeld auch Verträge für Immobilien, die nach dem Schiffbruch gekauft worden waren, bei sich. Die Er­mitt­le­r:in­nen fanden ein Notizbuch mit den Namen von 146 Migrant:innen, die an Bord des Trawlers waren. Aufgelistet war, dass pro Passagier ein Betrag von 140.000 ägyptischen Pfund, umgerechnet rund 2.790 Euro, bezahlt wurde.

Ein weiterer Verdächtiger namens Hassan Al-Badawy wurde in seinem Haus in Metoubas, etwa zwei Stunden östlich von Alexandria, festgenommen. Ein weiterer Verdächtiger aus Metoubas war bereits geflohen, als die Polizei vor seiner Tür stand. In einer Kiste in seinem Haus fanden die Er­mitt­le­r:in­nen über 2,5 Millionen ägyptische Pfund, umgerechnet rund 48.000 Euro.

Wer ist Abu Sultan?

Al-Badawy bestritt, an dem Schlepperring beteiligt zu sein. Doch auf seinem Telefon fand die Polizei Fotos von Migrant:innen, die an Bord des Trawlers waren, Nachrichten zur Koordinierung der Reise, Telefonnummern von anderen Schleppern und Zahlungsbelege. Bemerkenswert ist, dass Al-Badawy sich nach dem Schiffbruch einer Facebook-Gruppe anschloss, die gegründet worden war, um den Verbleib der Überlebenden von Pylos nachverfolgen zu klnnen. Einen gelöschten Screenshot von einem Beitrag über eine Person, die nach dem Schiffbruch vermisst wurde, konnte die Polizei auf Al-Badawys Telefon wiederherstellen.

Das 2017 gegründete Schleppernetzwerk in Ägypten und Libyen hatte sich den europäischen Behörden lange Zeit entzogen. An der Spitze steht der aus Westlibyen stammende Mohammed Saad al-Geheshi alias Abu Sultan. Der libysche Staatsbürger gilt als derart berüchtigt, dass sogar andere Kriminelle sein Pseudonym für ihre illegalen Geschäfte nutzten.

Abu Sultans Netzwerk nutzte legal arbeitende Unternehmen, darunter die Personalvermittlungsagentur Al Farahat in der ägyptischen Provinz Gizeh, um seine Aktivitäten zu verschleiern. Einer der „Pylos 9“ wurde mit seinem Vater vor einem Büro der Agentur an dem Tag fotografiert, an dem sie seine Reise bezahlten.

Das Schiff, das am 14. Juni vor Pylos sank, hatte nach Aussagen Überlebender bis zu 750 Personen an Bord. Nur 104 wurden gerettet Foto: greek coast guard/imago

Mindestens ein:e Mit­ar­bei­te­r:in­ von Al Farahat brachte Migrant:innen, die später mit dem Trawler reisten, etwa zum Flughafen Borg El Arab oder zur ägyptisch-libyschen Grenzstadt Sallum. Von dort wurden Mi­gran­t:in­nen dann nach Libyen weitertransportiert, teils mit Hilfe von Beduinen, die für die Schlepper arbeiteten. In Libyen wurden sie in Lagerhäusern festgehalten, bis ihre Seereise vom Hafen in Tobruk am frühen Morgen des 9. Juni 2023 begann.

Abu Sultans Reisen nach Italien

Die Schmuggler verkauften die Plätze auf dem Trawler offenbar zu drei unterschiedlichen Tarifen – je teurer, desto besser war die Unterbringung auf dem Schiff. Die 140.000 ägyptischen Pfund, rund 2.700 Euro, die Ahmed Adel und ein weiterer der „Pylos 9“ zahlten, deutet darauf hin, dass sie in der zweiten Stufe waren, in der die Passagiere auf dem Deck, in der Nähe des Motors, zusammengepfercht wurden.

Die Zahlungen wurden über Juweliergeschäfte, Wechselstuben und Immobilienkäufe abgewickelt. Ein Angeklagter gab zu, dass der Schlepperring systematisch billige, unsichere Fischerboote für diese Reisen kaufte. Unter anderem nutzten sie die Vodafone Cash App für die Zahlungen der Migrant:innen.

Das Netzwerk präsentierte sich sogar auf Face­book, wo Seiten wie „Mohammed Abu Sultan für Reisen nach Italien“ in arabischer Sprache Arbeitsplätze in Europa versprach. Zu dem Schleppernetzwerk gehörten Fahrer, Bauern und sogar ein Anwalt, die alle unterschiedliche Aufgaben hatten: vom Kassieren der Zahlungen bis hin zur Koordination der Logistik. Das Netzwerk täuschte die Migrant:innen, nutzte ihre Verzweiflung aus – und machte dabei erhebliche Gewinne.

Aus Zahlungsaufzeichnungen sowie aus Sprach- und Textnachrichten zwischen den Familien zweier Beschuldigter der „Pylos 9“ mit Mitgliedern des Netzwerks von Abu Sultan, die Jour­na­lis­t:in­nen einsehen konnten, ergibt sich, dass die Männer für ihre Reisen bezahlt, diese aber nicht als Schleuser organisiert haben. Aus den Dokumenten geht auch hervor, dass sie vor der Abfahrt aus Tobruk in libyschen Lagern festgehalten wurden.

Schuldig: Die griechische Regierung

Am 30. August 2023 lud die ägyptische Staatsanwaltschaft einen Abteilungsleiter der Direktion für die Bekämpfung des Menschenhandels und der Schleusung von Mi­gran­t:in­nen des Innenministeriums vor. Der Beamte sollte Auskunft zu den Ermittlungen gegen das Schleppernetzwerk geben. Aus den Akten geht hervor, dass die Staatsanwaltschaft bei dem Treffen explizit fragte, ob die „Pylos 9“ zum Schleppernetzwerk gehörten.

Die Antwort des Ministerialbeamten: Die neun in Griechenland inhaftierten Überlebenden seien „Opfer“ – keine Täter, keine Verdächtigen. Es gebe keine gegenteiligen Hinweise. Die Schlepper hätten ihnen falsche Versprechungen für Arbeitsmöglichkeiten in Europa gemacht und ihre Reise organisiert. Das bestätigten auch die in Ägypten festgenommenen Schlepper selbst: Sie bestritten gegenüber der Polizei Verbindungen zwischen den „Pylos 9“ und ihrem Netzwerk.

Aus den Akten ergibt sich, dass das griechische Justizministerium diese Informationen der ägyptischen Behörden sogar an die Staatsanwaltschaft in Kalamata weiterleitete, die gegen die neun Überlebenden ermittelte. Griechenland wusste seit Juli 2023, dass die im Gefängnis von Nafplion sitzenden „Pylos 9“ keine Schlepper waren. Trotzdem erhoben die Staatsanwälte Anklage wegen Schleuserei, illegaler Einreise nach Griechenland, Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und Verursachung eines tödlichen Schiffsunglücks.

Wider besseres Wissen: Eine Recherche von Solomon und weiteren Medien, die mit dem Journalistenpreis des EU-Parlaments ausgezeichnet wurde, hatte schon Ende 2023 ergeben, dass durch Versäumnisse der EU-Grenzschutzagentur Frontex und griechischer Behörden mehrere Möglichkeiten zur Rettung der Menschen auf dem Trawler ungenutzt blieben. Aussagen der Überlebenden deuteten zudem darauf hin, dass die Versuche der griechischen Küstenwache, den Trawler abzuschleppen, letztlich zum Untergang führten. Die griechische Küstenwache bestreitet allerdings bis heute, dass sie versucht hat, den Trawler abzuschleppen.

Systematische Kriminalisierung

Zwischen Ende August und Ende September 2023 antwortete Griechenland endlich auf die ägyptische Bitte um Kooperation – und lehnte das Ersuchen ab. Eine Kooperation sei „zum jetzigen Zeitpunkt“ nicht möglich, der Fall sei „an das zuständige Gericht verwiesen“ worden. Ob Griechenland nach September 2023 seine Meinung dazu änderte und mit den ägyptischen Behörden zusammengearbeitete, ist offen. Presseanfragen dazu blieben unbeantwortet.

Die Anklage der Überlebenden lenkt von der Schuld der Behörden ab, deren Versäumnisse und bewusste Entscheidungen zu dem tödlichen Schiffbruch geführt haben

Ioanna Begiazi vom Human Rights Legal Project

Es handelt sich bei dem Fall nicht um ein tragisches Justizversagen Einzelner. Er zeigt vielmehr erneut, dass Griechenland systematisch Flüchtlinge als Kriminelle hinstellt – und gleichzeitig die für seine Behörden oft nur schwer greifbaren Schleppernetzwerke ignoriert.

„Dieser Fall passt zweifellos in das Muster der Kriminalisierung von Menschen auf der Flucht, bei dem einzelne Personen zu Sündenböcken gemacht werden“, sagt Ioanna Begiazi vom Human Rights Legal Project. Die auf der Insel Samos ansässige NGO beobachtet Verfahren, in denen Flüchtlinge nach ihrer Ankunft in Griechenland als Schlepper angeklagt werden. Das komme „fast täglich“ auf den Ägäis­inseln sowie auf dem Festland vor, sagt Begiazi.

Ihre Organisation hatte die An­wäl­t:in­nen der „Pylos 9“ unterstützt. Für Begiazi belegt der Fall die „dringende Notwendigkeit, gegen die unrechtmäßige Kriminalisierung von Asylbewerbern in Europa vorzugehen“, sagt sie. Die Anklage von Überlebenden wie den „Pylos 9“ lenke die Schuld von den Behörden ab, „deren Versäumnisse und bewusste Entscheidungen zu dem tödlichen Schiffbruch geführt haben“, so Begiazi.

Spätes Mutterglück

Am Montag, den 5. Februar 2024, – sieben Monate nach dem Schiffbruch – verhandelten ägyptische Richter in Wadi el-Natrun, auf halber Strecke zwischen Alexandra und Kairo, gegen 36 Angeklagte. Die Justiz warf ihnen vor, als Teil des Schleppernetzwerks von Abu Sultan für die Pylos-Katastrophe verantwortlich zu sein. 23 der Angeklagten waren im Gericht anwesend, die übrigen 13 waren vor ihrer Verhaftung getürmt.

Das Verfahren endete mit harten Strafen: Elf der Angeklagten, darunter der Anführer Abu Sultan selbst, allerdings in Abwesenheit, wurden zu lebenslanger Haft und Geldstrafen von jeweils 5 Millionen ägyptischen Pfund – umgerechnet etwa 94.000 Euro – verurteilt. 16 weitere bekamen jeweils fünf Jahre Haft und Geldstrafen von umgerechnet 19.000 Euro.

Fast ein Jahr lang wartete die Familie von Ahmed Adel in ihrem Dorf im ägyptischen Gouvernement Al-Sharqia auf Nachrichten über sein Schicksal in Griechenland und die Pläne der Justiz für den Prozess. Es war eine Zeit voller Trauer und Ungewissheit. Adels Mutter hatte wenig Hoffnung.

Als sie schließlich die Nachricht von Adels Freispruch erhielt, ließ sie ihrer Erleichterung auf der Straße freien Lauf. Sie lief auf die Straße und rief: „Mein Sohn wurde freigesprochen!“ Sie legte die schwarze Trauerkleidung ab, die sie elf Monate lang getragen hatte, und kaufte Getränke, um mit den Nachbarn zu feiern. Später bereitete sie in der winzigen Küche der Familie Milchreis zu – ein traditionelles ägyptisches Gericht, das zu Anlässen wie Hochzeiten oder Geburten serviert wird. Für Adels Familie symbolisierte es mehr als nur Freude: Es markierte das Ende einer Tortur und die Hoffnung auf einen Neuanfang.

Keine Reue, keine Entschädigung

Eine Woche zuvor, am 14. Mai 2024, hatte ein ägyptisches Berufungsgericht in der Stadt Tanta mit einer Ausnahme die Urteile gegen die Schlepper vom Februar 2024 bestätigt.

Von den neun Schleppern, die bei der Verhandlung im Februar im ägyptischen Wadi el-Natrun aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden waren, wurden drei später wegen Beteiligung an der kriminellen Vereinigung verurteilt. Die 13 untergetauchten Beschuldigten, darunter Abu Sultan, sind weiterhin auf freiem Fuß.

Ende November 2024 wies das Gericht in Kalamata einen Antrag der „Pylos 9“ auf Entschädigung für die fast einjährige Haftzeit ab.

Der Autor Stavros Malichudis war Teilnehmer des taz Panter Workshops zur EU-Migrationspolitik im Juni 2024 in Berlin.

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5 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • (1) Es ist beschämend, dass die Justiz einer demokratiefernen islamistischen Herrschaft in Ägypten die Schlepperkriminalität offenbar ernster und erfolgreicher bekämpft als die achso hoch geschätzte Justiz einer europäischen Demokratie, das Wort Rechtsstaat scheue ich an der Stelle.



    (2) Das Verhalten der "zuständigen" griechischen Justiz inkl. deren Vorgesetzten kommt eher dem Schutz als der Verfolgung der Schleusernetzwerke gleich - denn wenn man wissend und bewußt die Falschen anklagt, bleiben die wahren Täter unbehelligt. Damit sich diese griechischen Juristen eher Teil des Problems "Schlepperkriminalität" als Teil der Lösung.



    Was versprachen sich diese Juristen davon? Karriere im Justizwesen? Oder hofften sie, dass die Angeklagten von irgendwem frei gekauft würden? Oder folgten sie Vorgaben der Politik aus Athen?



    Haben diese Leute für so etwas einmal ein Jurastudium angefangen? Fassungslos.

  • Wie man z.Zt. hört, ist die griechische Politik und Justiz auch bei einer anderen vulnerablen Gruppe, den Frauen, nicht Willens in Fällen von Misshandlung in der Beziehung und Femizid bessere Chancen auf Gerechtigkeit zu verschaffen. Das ist natürlich kein Trost für Migranten, sondern zeugt von Ungerechtigkeit als Waffe in einem Kulturkampf. Rechtsstaatlichkeit scheint hier anderen Bedürfnissen untergeornet zu werden ...

  • Eine furchtbare Tragödie, deren Erzählung jedoch das Narrativ derjenigen nährt, die Asylsuchende nicht für Flüchtlinge sondern Einwanderer in das hiesige Wirtschafts- und Sozialsystem halten.

    • @Samvim:

      2 Bemerkungen: (1) Ich stutze häufig bei der Verwendung des Wortes "Tragödie". Denn es wird häufig für Ereignisse wie dieses verwendet. Benennt aber eigentlich Ereignisse, für die niemand eine Schuld trägt. Hier ist aber sehr deutlich, dass das kein Schicksalsschlag ohne Täter war, sondern dass es in der griechischen Justiz Täter gibt, die man zur Verantwortung ziehen sollte.



      (2) Für die Bewertung der Abläufe spielt es keine Rolle, ob es sich um "echte" Asylsuchende oder "Wirtschafts"flüchtlinge handelt. Dass ein großer Teil der sich nach Europa Aufmachenden das in der Hoffnung auf ein besseres wirtschaftliches Leben tun, ist wohl unbestreitbar und bekannt. Dafür müssen andere Lösungen gefunden werden als das Schlupfloch Asyl.

  • Schrecklich. Aber danke für die guten Recherchen. Und dass mir das griechische Staatswesen immer unsympathischer wird, dafür hat ja bereits die Doku „Dead Calm - Killing in the Med“ [Ben Steele, 2023] gesorgt.



    PS-am-Rande: „aus dem westlibyschen Tobruk“. Da wurde Osten mit Westen verwechselt.