Wahl von Kai Wegner in Berlin: Berlin liegt nicht in Thüringen
Kai Wegner ist neuer Regierender Bürgermeister. Die AfD behauptet, für ihn gestimmt zu haben. Aber war es wirklich ein Dammbruch?
„Wegner lässt sich ohne Skrupel vereidigen, trotz des Verdachts, Regierender Bürgermeister von Gnaden der AfD-Faschos zu sein“, twitterte Jan Korte von der Linkspartei. Und fügte hinzu: „Der CDU macht das nichts aus, das wissen wir seit Kemmerich.“
Korte war nicht der Einzige, der eine Parallele zum 5. Februar 2020 in Erfurt zog – als Thomas Kemmerich, der Landeschef der FDP, mit den Stimmen seiner Fraktion und von CDU und AfD zum Kurzzeitministerpräsidenten von Thüringen gewählt wurde. Aber trägt der Vergleich?
Kai Wegner ist am Donnerstag in Berlin im dritten Wahlgang gewählt worden. In diesem Wahlgang reicht die einfache Mehrheit, Wegner brauchte also mehr Ja- als Nein-Stimmen. Im konkreten Fall waren das 71, denn 70 der Abgeordneten stimmten gegen ihn. Der CDU-Kandidat erhielt 86 Stimmen. Und damit genauso viele, wie die Koalition aus CDU und SPD Abgeordnete hat.
Die AfD ist Propagandapartei
Es ist nicht besonders gewagt zu vermuten: Hätte die AfD nicht ihr Gift verspritzt, wäre die weitverbreitete Einschätzung anders gewesen. Nämlich so: Am Ende haben über das Bündnis entsetzte Sozialdemokrat*innen ihren Unmut hinten angestellt und sich der staatspolitischen Verantwortung und dem Votum ihrer Parteibasis gebeugt. Zumal Wegner die 71 Stimmen, die im dritten Wahlgang von Nöten waren, im ersten bereits bekommen hatte; im zweiten waren es sogar 79. Es spricht also wirklich nicht viel dafür, dass Wegners Wahl von den Stimmen der AfD abhängig war.
Hinzu kommt: Die AfD ist eine Propagandapartei, wie es der Kommunikationsexperte Johannes Hillje nennt: „Halbwahrheiten sind ihr Hauptgeschäft.“ Man könnte auch sagen: Auf die Aussagen der AfD sollte man besser nichts geben. Das gilt auch für die zehn Namen, die jetzt als vermeintliche Unterstützer*innen Wegners genannt werden.
Doch die AfD hat nun einmal in Berlin ihr Gift verspritzt – und weil die Wahl eine geheime ist, wird niemand sagen können, wie es nun zu der Mehrheit für Wegner kam. Eine Restunsicherheit bleibt. Und die Berliner AfD kann sich über einen Coup freuen. Das zumindest hat sie mit ihren Thüringer Parteifreunden 2020 gemein.
Aber sonst? Gibt es vor allem Unterschiede. Der wichtigste: In Erfurt hat sich der linke Ministerpräsident Bodo Ramelow am 5. Februar 2020 der Wiederwahl gestellt, ohne eine eigene Mehrheit zu haben.
Wird Wegner und Giffey das nachhängen?
Ramelow wollte eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung anführen, der im Landtag vier Stimmen fehlen. Wegner dagegen hat ein Bündnis mit einem ausverhandelten Koalitionsvertrag hinter sich, das im Abgeordnetenhaus über eine satte Mehrheit verfügt – das gilt trotz zahlreicher frustrierter Sozialdemokrat*innen. Immerhin hat die Basis, wenn auch knapp, den Koalitionsvertrag angenommen.
Wegner hatte zudem keinen Gegenkandidaten. Und: Wer in Thüringen für Kemmerich stimmte, wusste, dass dieser nur mit den Stimmen der AfD erfolgreich sein kann. Warnungen vor einem taktischen Move der AfD gab es damals durchaus, CDU und FDP schlugen sie in den Wind. Und so wählte die AfD am 5. Februar 2020 im dritten Wahlgang nicht den eigenen Kandidaten, sondern mit FDP und CDU Kemmerich – und damit den ersten Ministerpräsidenten von Gnaden der AfD. Das war ein Dammbruch. Und nicht vergleichbar mit dem, was am Donnerstag im Berliner Abgeordnetenhaus geschehen ist.
Ganz grundlos aber ist die Empörung über CDU und SPD in Berlin aber auch nicht. „Das schwere Versäumnis von SPD und CDU ist es, dass sie den fruchtbaren Boden für die Halbwahrheiten der AfD geschaffen haben“, meint Kommunikationsberater Johannes Hillje. „Darauf wachsen und gedeihen sie jetzt.“
Ob Wegner und seiner SPD-Verbündeten Franziska Giffey das nachhängen wird? Vermutlich nur, wenn ihre Politik dazu Anlass bietet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen