Wählen mit 16: Späte Debatte um frühes Wählen
Lehrerverbandschef Stefan Düll hält 16-Jährige für nicht reif genug für eine politische Wahl. Damit erntet er Widerspruch.
Einer, der das kritisch sieht, ist Lehrerverbandschef Stefan Düll. Gegenüber der taz sprach er sich gegen die überhöhten Erwartungen an ein Wahlalter mit 16 aus: „Ich glaube nicht, dass Jugendliche in dem Alter schon über dieselbe Reife verfügen wie 18-Jährige“. Gegenüber anderen Medien hatte Düll zuvor behauptet, dass sich ein Großteil der Minderjährigen „nicht die Bohne für Politik mit ihren vielen Facetten“ interessiere.
Die Formulierung bezeichnete Düll im Nachhinein als „unglücklich“, da viele den Zusatz ‚mit vielen Facetten‘ überlesen hätten. Tagesaktuelle Themen bewegten die Heranwachsenden sehr wohl. Aus Sicht von Düll darf sich die Politik vom Wahlrecht mit 16 nicht zu viel versprechen. Die bisherigen Nichtwähler von 40 Prozent bei einer Europawahl blieben der Wahlurne sicher nicht fern, weil sie erst ab Volljährigkeit wählen durften.
Eine am Mittwoch durch die Bertelsmann-Stiftung veröffentlichte Umfrage scheint Dülls Aussagen zu bestätigen: Demnach wollen gerade mal 57 Prozent der Befragten im Alter von 16 bis 25 Jahren bei der Wahl zum Europäischen Parlament ihre Stimme abgeben. Bei den Älteren zwischen 26 und 69 Jahren sind es allerdings auch nur 62 Prozent.
Nicht reif genug?
Dass Menschen unter 18 die Reife für eine politische Wahl fehle, wie auch CDU/CSU glauben, ist umstritten. Dem Berliner Politikwissenschaftler Thorsten Faas leuchtet das Argument nicht ein. „In unseren Studien haben wir 15- bis 20-Jährige verglichen und keine Unterschiede hinsichtlich Wissen oder Interesse gefunden“, sagte Faas der Nachrichtenagentur AFP.
Auch aus Sicht der Bundesschülerkonferenz treffe Dülls „zu pauschales Urteil“ nicht zu. „Ich kenne sehr viele Jugendliche, die sich sehr für Politik interessieren“, sagt Generalsekretärin Louisa Basner der taz. Das zeige die hohe Beteiligung an den U-18-Wahlen, die Schulen vor Bundestags, Landtags- und Europawahlen abhielten. „Selbst mitbestimmen zu dürfen, steigert natürlich das Interesse an einer Wahl“, so Basner. An ihrer Schule sei die Europawahl deshalb gerade bei den 16- und 17-Jährigen ein großes Thema.
Basner sieht jedoch auch die Schulen in der Pflicht, mehr aktuelle politische Themen im Unterricht zu behandeln – und das Wahlalter generell auf 16 abzusenken. Vergangene Woche erst hatte Familienministerin Lisa Paus (Grüne) plädiert, das Wahlalter auch für Bundestagswahlen auf 16 abzusenken.
Unterstützung erhält Düll von der Bundesvorsitzenden des Deutschen Philologenverbands Susanne Lin-Klitzing. „Junge Menschen werden in Deutschland mit 18 Jahren volljährig. Damit wird ihnen die volle Verantwortung für ihr eigenes selbstständiges Entscheiden und Handeln mit mehr gesellschaftlicher Verantwortung zugeschrieben!, sagt Lin-Klitzing der taz. Es sei deshalb nur konsequent, auch das Wahlalter bei 18 Jahren zu belassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen