Vor den Parlamentswahlen: Was in Frankreich auf dem Spiel steht
Nach der Auflösung der Nationalversammlung steht Frankreich vor einer ungewissen Zukunft. Zwei sehr heterogene Blöcke ziehen in den Kampf.
D ass in der Politik alles möglich ist, dass das, was gestern noch als völlig aussichtslos galt, morgen plötzlich Wirklichkeit werden kann, scheint sich diesmal wieder einmal zu bestätigen. Ausgerechnet hier in Frankreich, dem Land der Französischen Revolution und der Erklärung der Menschenrechte, dem Land von Descartes, Rousseau, Victor Hugo, Émile Zola und Jean-Paul Sartre, einem der Gründungsländer und Hauptpfeiler der Europäischen Union.
Einem Land, von dem man wirklich alles andere erwartet hätte als das, was nun geschieht. Mit der Entscheidung von Staatspräsident Emmanuel Macron, vorzeitig das Parlament aufzulösen, stürzt das Land in eine schwere politische Krise, die mit dem Wahlsieg der französischen Rechtspopulisten des Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen und Jordan Bardella enden könnte.
Die umstrittene Auflösung der Nationalversammlung hat urplötzlich eine neue Dynamik geschaffen, allerdings mit außerordentlich hohen Risiken für die Demokratie und den Rechtsstaat, sollte das Kalkül der Rechtspopulisten aufgehen und sie stärkste Partei werden.
Um ihre Pläne zu durchkreuzen, haben sich nun schon am 13. Juni praktisch alle französischen Linksparteien in einem 24-Stunden-Marathon zur Volksfront, der Nouveau Front populaire, zusammengeschlossen, einem politischen Kampfbündnis, das vom rechten Flügel der Sozialisten über die Kommunisten und die Grünen bis zur radikal-revolutionären Linken der Nouveau Parti anticapitaliste (NPA) reicht, mit einem Programm von radikalen Reformen, um dem RN den Wind aus den Segeln zu nehmen.
ist emeritierter Philosophieprofessor der Universität Amiens, Autor zahlreicher politischer und philosophischer Essays und Biograf von Ernst Bloch. Er lebt in Nizza.
Miese Aussichten für die Ukraine
Dazu gehört eine Kehrtwende für Macrons umstrittene Rentenreform, die Erhöhung des staatlich garantierten Mindestlohns auf 1.600 Euro monatlich, die Rücknahme der Gas- und Strompreiserhöhungen sowie die Wiedereinführung der Reichensteuer, die Macron abgeschafft hatte. Am Wahltag des 30. Juni wird sich herausstellen, ob die Linke mit diesem Programm ihre Stammwähler zurückgewinnen kann.
Außer Frage steht hier jedoch, dass unter den jetzigen Bedingungen der rechtsextreme Rassemblement National zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht nur die größte Parlamentsfraktion in der französischen Nationalversammlung stellen wird, sondern möglicherweise sogar eine absolute Mehrheit von mindestens 289 der insgesamt 577 Sitze. Aktuelle Prognosen deuten derzeit auf 230 Sitze.
Wahrscheinlicher ist vorläufig, dass der RN nur die relative Mehrheit der Parlamentssitze erringt und einen Partner aus dem bürgerlichen Lager braucht, um regieren zu können. Ein Kandidat dafür sitzt schon in den Startlöchern. Der Vorsitzende der rechtsbürgerlich-neogaullistischen Partei Les Républicains, Eric Ciotti, biederte sich bereits an, indem er ohne jede Absprache mit den Parteigenossen ein Wahlbündnis mit den Rechtsradikalen einging, was zu einem Skandal und schließlich dazu führte, dass die Konservativen ihn absetzten.
Natürlich würde eine rechtsextreme Regierung in Paris die Hilfe für die Ukraine sofort stoppen, und ähnlich wie Donald Trump in den USA, sollte er die Präsidentschaftswahlen für sich entscheiden, die Ukraine im Stich lassen und vermutlich sogar Präsident Wolodymyr Selenskyj zur Kapitulation drängen. Unmittelbarer Auslöser für diesen Umschwung in Frankreich war das schlechte Abschneiden von Macrons Zentrumspartei bei der Europawahl, bei der die Liste des RN 32 Prozent der abgegebenen Stimmen erhalten hatte, Macrons Zentrumspartei jedoch nur 13 Prozent.
Hoffnung auf politischen Realismus
Diese Niederlage des Zentrums ermutigte die Rechtspopulisten dazu, eine sofortige Parlamentsauflösung und Neuwahlen zu fordern, eine Forderung, der der Präsident unglücklicherweise umgehend nachgekommen ist. Vermutlich trieb ihn die Illusion, seine Partei könne gestärkt aus diesen Parlamentsneuwahlen hervorgehen. In Wirklichkeit erwies sich seine Entscheidung als willkommenes Geschenk an die Rechtsextremisten, die damit sofort in die Offensive gingen.
Die Linksparteien reagierten bekanntermaßen mit dem Zusammenschluss zur Nouveau Front populaire, der Neuen Volksfront, die die Linkspopulisten der France insoumise (FI) umfasst, die Sozialistische Partei (PS) von Olivier Faure, die Grünen, die Kommunistische Partei (PCF) und die trotzkistische NPA. Meinungsumfragen zufolge könnte diese große Wahlplattform von fünf Linksparteien im ersten Wahlgang 30 Prozent der Wählerstimmen gewinnen, wohingegen der RN auf 40 Prozent käme.
Gelingt es der rechtsextremen Partei, mithilfe von Le Pen an die Regierung zu kommen, wäre das nichts anderes als ein erdrutschartiger Sieg der Rechtsradikalen, der die politische Landschaft in Frankreich total verändern würde. Es wäre ein noch nie dagewesenen Rechtsruck. Macron wäre dazu gezwungen, Jordan Bardella zum neuen Ministerpräsidenten zu ernennen.
Die neue, gefährliche, politische Konstellation ist die einer extremen Polarisierung: hier der vereinigte und durch das bürgerliche Lager zum Teil verstärkte Rechtsblock, dort die in der neuen Volksfront vereinigte Linke, die allerdings längst nicht homogen ist. Nach wie vor bestehen erhebliche politische Differenzen zwischen der sozialdemokratischen Partei, den Grünen und der linkssozialistisch-radikalen FI.
Anzumerken wäre noch, dass im Gegensatz zu dem früheren Wahlbündnis Nupes (Nouvelle union populaire ecologiste et socialiste) in der neu gegründeten Volksfront die politischen Gewichte verschoben sind. So ist die FI nicht mehr dominierend, wohingegen der Einfluss der Sozialisten und der Grünen erheblich zugenommen hat. Ihr politischer Realismus lässt darauf hoffen, dass die Volksfront bei den Parlamentswahlen letztendlich besser abschneiden wird als vorausgesagt.
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