Volkswirt über Postkonsumgesellschaft: „Überfluss nimmt Freiheit“
Coronapandemie und Ukrainekrieg haben unser Einkaufsverhalten durcheinandergebracht. Ein Gespräch über zu viel Konsum und Alternativen.
taz am wochenende: Herr von Jorck, als zu Beginn der Pandemie viele Geschäfte schließen mussten, keimte eine gesellschaftliche Debatte darüber auf, welche Art von Konsum notwendig ist. Davon ist aktuell nichts mehr zu sehen, Konsum scheint wichtiger als zuvor – was ist da passiert?
Gerrit von Jorck: Im ersten Lockdown mussten wir Konsum neu erfinden. Viele der klassischen Sachen, die man macht, wenn man Zeit hat – in den Urlaub fahren, auf Shoppingtour gehen, ins Restaurant oder ins Kino – das ging auf einmal nicht mehr. Gleichzeitig zeigen unsere Befragungen: Die Menschen haben auf einmal viel mehr geschlafen. Mehr Schlaf war vor der Pandemie eine der Sachen, die sich die Befragten am meisten wünschten. Wir sind eine übermüdete Gesellschaft.
Der Wissenschaftler
Gerrit von Jorck, 36, ist Volkswirt und Philosoph und arbeitet seit 2016 am Fachgebiet Arbeitslehre/Ökonomie und Nachhaltiger Konsum der Technischen Universität Berlin. Er forscht unter anderem zum Einfluss verschiedener Arbeitszeitregime auf den Zeitwohlstand und die Nachhaltigkeit der Lebensführung. Seit 2015 ist er Research Fellow am Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW).
Davor hat er Angst
Dass die Verantwortung für nachhaltigen Konsum allein auf den Konsumenten abgewälzt wird.
Das gibt ihm Hoffnung
Dass die Gewerkschaften die sozial-ökologische Transformation für sich als zentrales Anliegen erkannt haben.
Wer also nicht durch Homeschooling oder Extraschichten im Krankenhaus belastet war, konnte bedürfnisorientierter leben?
Ein Stück weit, ja.
Warum ist heute praktisch nichts mehr von dieser Bedürfnisorientierung zu sehen?
Einen bedürfnisorientierten Umgang mit unserer freien Zeit müssen wir lernen. Und das geht nicht von heute auf morgen. Es gibt Menschen, die zu Pandemiebeginn ihre neue freie Zeit ausschließlich in Onlineshops verbracht haben. Und das ist gar nicht überraschend: Wenn jemand seit dreißig Jahren den allergrößten Teil der eigenen Zeit mit sehr fordernder Erwerbsarbeit verbringt und keine Zeit für Hobbys hat, dann ist Shopping manchmal das einzige, was freie Zeit füllen kann. Dazu kommt: Es war das erste Mal, dass zumindest meine Generation Mangel verspürt hat. Wir konnten nicht mehr in jeder Situation das konsumieren, was wir wollten. Und eine – wenn auch nur gefühlte – Mangelwirtschaft hat quasi einen überkompensierenden Effekt: Kann ein Konsumbedürfnis nicht gestillt werden, dann tendieren Menschen dazu, an anderer Stelle mehr zu kaufen, als sie eigentlich brauchen.
Und das haben wir zu Beginn der Pandemie oder des Ukrainekriegs gesehen?
Ja, wobei wir nicht in einer Mangelwirtschaft leben, selbst wenn es bei mehreren Produkten Engpässe gibt. Aber: In einer Überflussgesellschaft gibt es ebenso Hortungstendenzen. Denn da treffen – gesamtgesellschaftlich betrachtet – ein Überfluss an Geld und permanent verfügbare günstige Ware aufeinander. Die Überflussgesellschaft ist gleichzeitig eine sehr erwerbsarbeitsorientierte Gesellschaft. In dieser fehlt uns häufig die Zeit, richtig zu konsumieren. Also: Das, was wir erworben haben, auch zu nutzen.
Wie meinen Sie das?
Ich kaufe zum Beispiel eine Gitarre. Oder eine Playstation. Oder einen Brotbackautomaten. Aber ich nutze das alles fast nie, weil mir die Zeit dafür fehlt. Das wäre aber wichtig. Denn damit eine Sache Nutzen stiften kann, muss ich Zeit mit ihr verbringen. Wenn mir diese Zeit fehlt, kompensiere ich das durch weitere Kaufhandlungen.
Wie kommen wir raus aus diesem Kreislauf und hin zu so etwas wie einer Postkonsumgesellschaft?
Zunächst einmal müssen wir die Zeit, die wir mit Erwerbsarbeit verbringen oder verbringen müssen, reduzieren. Und wir müssen die Arbeit entdichten, also den Stress und den Druck reduzieren. Dadurch wird Arbeit befriedigender und weniger erschöpfend und die Menschen haben Kapazitäten, ihre Freizeit jenseits des materiellen Konsums zu gestalten, ihre Interessen und Kompetenzen wahrzunehmen. Ein Beispiel: Viele Menschen verhalten sich nicht so umweltbewusst, wie sie es gerne würden. Studien zeigen aber: Das verbessert sich, wenn die Menschen mehr Zeit zur Verfügung haben.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Warum ist das so?
Wenn ich unter Zeitnot in den Supermarkt gehe, dann kaufe ich in der Regel, was ich immer kaufe. Um diese Routinen zu durchbrechen und neue umweltbewusste Routinen zu entwickeln, braucht es Zeit. Und wir brauchen Infrastrukturen, die den Nichtkonsum fördern.
Bänke statt Caféstühle?
Genau. Aber auch Repaircafés oder öffentliche Einrichtungen, in denen man sich einfach mit anderen Menschen treffen kann. Es braucht also eine Entkommerzialisierung des öffentlichen Raumes. Wir müssen von einer Gesellschaft des Überflusses zu einer Gesellschaft des Genugs kommen.
Was ist denn genug?
Das kommt auf die Ebene an: Individuell kann es helfen, sich zu fragen: Welches Bedürfnis möchte ich mit diesem Konsum gerade befriedigen? Es gibt Statuskonsum, der dazu dient, sich von anderen sozialen Gruppen abzugrenzen. Je größer die materielle Ungleichheit in der Gesellschaft, desto mehr Statuskonsum gibt es. Aus einer Postkonsumperspektive machen daher Mindest- und Maximaleinkommen viel Sinn. Ebenso wie Vermögens- und Erbschaftssteuern. Dann gibt es den Konsum zur Kompensation.
Also etwa Stress oder Ärger durch Einkaufen ausgleichen.
Genau. Und dann gibt es noch Investitionen, die eigentlich Absicherungskonsum sind: Wenn ich etwa versuche, mich über ein Eigenheim sozial abzusichern. Ein Mietendeckel würde das Bedürfnis – Wohnen – mit deutlich weniger Ressourcen befriedigen. Immer mehr in den Fokus gerückt ist in den vergangenen Jahren der durch Erwerbsarbeit induzierte Konsum. Also: Das Auto, das ich brauche, um zur Arbeit zu fahren. Kleidung oder Kosmetik, die im Arbeitskontext erwartet wird.
Und was ist nun genug?
Sich diese unterschiedlichen Funktionen von Konsum bewusst zu machen, kann auf individueller Ebene helfen, diese Frage zu beantworten. Aber natürlich brauchen wir hier letztlich einen gesellschaftlichen Rahmen. Ein sinnvoller Ansatz wären sicher die planetaren Grenzen. Der ökologische Fußabdruck von jeder und jedem von uns kann halt nur eine bestimmte Größe haben, wenn wir unseren Planeten nicht überlasten wollen.
Wenn wir da hin wollen, dann wird ein nennenswerter Teil der Menschen zumindest im globalen Norden den eigenen Lebensstandard senken müssen.
Ja. Wir werden nicht drumherum kommen, dass individuell gerade bei den sehr Wohlhabenden der Lebensstandard sinken wird. Aber gesamtgesellschaftlich würde das Wohlbefinden steigen.
Wirtschaftsliberale stellen Konsum gerne als Symbol von Freiheit dar – wie bei der Aufhebung der pandemiebedingten Zutrittsbeschränkungen für Geschäfte. Die Prämisse: Alle sollen möglichst ungehindert konsumieren können.
Wenn wir darüber sprechen, dass eine Familie mit Hartz IV es sich leisten kann, mit dem öffentlichen Nahverkehr Freunde zu besuchen – ja, dann ist das Freiheit. Aber das ist es ja nicht, was damit gemeint ist. Da geht es ja um das Recht auf Überflusskonsum, also den Kauf von Dingen, bei denen uns die Zeit fehlt, sie auch zu nutzen. Und Überfluss nimmt Freiheit. Denn zum einen muss dieser erst erwirtschaftet werden und zum anderen haben wir häufig das Gefühl, diesen ganzen Dingen nicht gerecht werden zu können. Denken Sie an die Zahl der ungelesenen Bücher auf dem Nachttisch.
Wie sähe denn ein Arbeitstag in der Postkonsumgesellschaft aus?
Der kann sehr unterschiedlich aussehen. Aus ökologischer Perspektive ist es auf jeden Fall gut, auszuschlafen und sich genügend Pausen zu gönnen. Bei keiner anderen Aktivität verbrauchen wir so wenig Ressourcen. Arbeiten im wohnortnahen Co-Working-Space würde zum Normalfall. Sollte der Weg zur Arbeit doch mal länger sein, wird mein Arbeitsweg mit dem Rad als Arbeitszeit gezählt, weil mein Arbeitgeber den positiven gesundheitlichen und ökologischen Effekt wertschätzt. Gearbeitet würde zwischen vier und sechs Stunden pro Tag, um mehr Zeit für Freunde, Carearbeit, Hobbys und ehrenamtliches Engagement zu haben. Es bliebe zudem genug Zeit, um seine Bedürfnisse in Postkonsum-Räumen wie Bibliotheken, Vereinsräumen oder Repaircafés ohne größeren Ressourcenverbrauch zu befriedigen.
Was haben Sie eigentlich zuletzt gekauft?
Ein Metronom. Ich habe angefangen, Gitarrenunterricht zu nehmen und merke, dass mein Taktgefühl noch nicht so ausgeprägt ist wie mein Bedürfnis, im Takt zu bleiben.
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