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Volksentscheide für DeutschlandMehr oder weniger Demokratie

Volkan Ağar
Kommentar von Volkan Ağar

Die Schweizer Bevölkerung hat gerade per Volksentscheid für eine 13. Monatsrente gestimmt. Auch Deutschland braucht mehr direkte Demokratie.

Jährliche Abstimmung der Landesgemeinde in Glarus, Schweiz, 2018 Foto: Gian Ehrenzeller/Keystone/imago

W enn am Sonntag Bundestagswahl wäre, wen würden Sie wählen? Wenn Ihre Antwort „das kleinste Übel“ lautet, dann interessiert Sie diese Meldung vermutlich: In der Schweiz hat die Bevölkerung bei einer Volksabstimmung für eine 13. Rentenzahlung votiert. Die gewerkschaftliche Initiative wurde mit 58,2 Prozent der Stimmen angenommen. Bei einer zweiten Abstimmung wurde ein Vorschlag der jungen Liberalen, das Rentenalter zu erhöhen, mit 74,7 Prozent der Stimmen abgelehnt.

Aus deutscher Perspektive ist das zunächst interessant, weil es hierzulande meist nur schlechte Nachrichten im Zusammenhang mit der Rente gibt. So ging hier kürzlich die Meldung um, dass immer mehr Menschen zwischen 63 und 67 Jahren arbeiten, was einen Zusammenhang mit zu niedrigen Renten nahelegt. Etwa zeitgleich sagte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil in einem Interview, dass Minijobs, die wegen fehlender Rentenbeiträge zu Altersarmut führen können, nicht abgeschafft werden können, was der Präsident des Bundessozialgerichts gefordert hatte. Heil sagte, dass das „angesichts des Koalitionsvertrages kein Thema für diese Legislaturperiode“ sei.

Damit wies Heil auf die Grenzen progressiver Sozialpolitik in der repräsentativen Demokratie hin, die in der aktuellen Dreierkoalition der Ampel-Regierung besonders eng gefasst sind. Denn die Partner sind schon damit ausgelastet damit, die nächste Regierungskrise zu verhindern. Weil einer der Partner immer dabei ist, einen mühsam erarbeiteten Konsens bei der erstbesten, machtpolitisch opportunen Möglichkeit über den Haufen zu werfen. Die repräsentative Demokratie hat viele Vorteile, ihre Nachteile hat die Bundesrepublik vermutlich noch nie so deutlich demonstriert bekommen wie unter der aktuellen Regierung.

Offenbar läuft es nicht so gut

Währenddessen gewinnen jene an Zustimmung, die sich von diesen drei Parteien unterscheiden, nämlich ums Ganze, weil sie mit völkischen und autoritären Fantasien da reingehen, wo die Leute über die Regierenden den Kopf schütteln –also über vergeigte Heizungsgesetze, beschlossene und zurückgenommene Subventionskürzungen oder Bürgergelddauerdiskussionen.

Dass auch Rechte mehr direkte Demokratie fordern, ist kein Grund, nicht darüber zu diskutieren

Die letzte Mitte-Studie von Sozialpsychologe Andreas Zick und weiteren Wis­sen­schaft­le­r:in­nen hat gezeigt, dass das Vertrauen in die Institutionen und das Funktionieren der Demokratie in den letzten Jahren stark abgenommen hat. Nur noch knapp mehr als die Hälfte der Befragten haben dieses Vertrauen noch. Gleichzeitig haben demokratiegefährdende Einstellungen in den letzten Jahren auf bedenkliche Weise zugenommen. Der Populismus-Forscher Philip Manow sagte in einem interessanten Interview mit Zeit Online kürzlich, dass der Populismus „nicht der Gegner des Liberalismus, sondern sein Gespenst“ sei; dass eine liberale Demokratie, die sich „überdehnt“ und „entdemokratisiert“ habe, den gefährlichen Populismus hervorbringe.

Gerade mit Blick auf die Horror­szenarien, die für die Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen gezeichnet werden, reicht es deshalb nicht mehr, Diskussionen über Formen direkter Demokratie mit altbekannten Argumenten abzumoderieren. In Deutschland sind Volksentscheide auf Bundesebene nicht möglich. Diejenigen, die das gut finden, argumentieren oft historisch. Volksentscheide würden Demagogen und Populismus und Lobbyismus begünstigen, komplexe politische Entscheidungen auf ein schlichtes Ja oder Nein reduzieren.

Dabei tun die Gegner der direkten Demokratie selbst so, als gäbe es nur ein Für oder Wider und nichts dazwischen. Wie etwa eine repräsentative Demokratie, bei der Elemente direkter Demokratie als Korrektiv dienen können. Eine neue, aufrichtige Diskussion über direkte Demokratie könnte auch helfen zu verstehen, was gegenwärtig nicht gut läuft. Denn offenbar läuft es ja nicht so gut, wenn so viele Menschen die AfD wählen wollen, die nicht nur einen großen Teil der Bevölkerung, sondern auch gut funktionierende politische Prozesse loswerden will.

Auch wenn Po­li­ti­ke­r:in­nen das Ergebnis der Abstimmung bisher ignorieren, hat in Berlin die Bürgerinitiative Deutsche Wohnen und Co. enteignen gezeigt, wie politisierend Volksinitiativen wirken können, auf progressive Weise. Dass auch Rechtsextreme mehr direkte Demokratie fordern, ist kein Grund, nicht über mehr direkte Demokratie zu diskutieren. Dass Rechtsextreme auch ohne direkte Demokratie der Macht gefährlich nahekommen, zeigen die aktuellen Umfragewerte.

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Volkan Ağar
Redakteur taz2
Kolumnist (Postprolet) und Redakteur im Ressort taz2: Gesellschaft & Medien. Bei der taz seit 2016. Schreibt über Soziales, Randständiges und Abgründiges.
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17 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

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  • Grundsätzlich finde ich direkte Demokratie auch gut. Aber eines sollte einem klar sein, wenn man mehr davon fordert: Wer verbindliche Volksentscheidungen über eine 13. Rente einführt, bekommt auch verbindliche Volksabstimmungen über Minarettverbote und Gendern. Das eine geht nicht ohne das Andere.

  • Das ist ja interessant. Eine AFD Forderung wird in der TAZ diskutiert von einem Autor. Dass ich das mal erleben darf, das ist wirklich schön.







    Mehr direkte Demokratie durch Volksentscheide würde ich mir auch wünschen, aber das ist etwas, was die Regierung in Berlin seit Jahrzehnten offenbar fürchtet wie der Teufel das Weihwasser.

    Direkte Demokratie neben der parlamentarischen Abgeordnetendemokratie; das wäre wirklich wünschenswert.

  • Den Träumen von sozialen Wohltaten per Volksentscheid steht der Haushaltsvorbehalt entgegen. In allen Ländern können Abstimmungen nicht stattfinden, wenn damit direkt oder (zu sehr) indirekt in den Haushalt oder die Erhebung Steuern und Abgaben eingegriffen wird. Dieses sei Kern des parlamentarischen Systems und ist damit auch nicht änderbar. Außer, man schafft das GG ab. Würde es Volksentscheide auf Bundesebene geben, würde es also auch die gleichen Einschränkungen geben.

  • Das wäre direkte Demokratie. Ich vermute mal, deshalb wird es in D nicht dazu kommen.



    13 Rentenzahlungen gibt es auch in Austria. Bei uns ist Flaschensammlung und Tafel.

  • Guter Überblick: www.mehr-demokrati...Grundlagenheft.pdf , auch zur Einführung sehr zu empfehlen

  • Volksentscheide bei bestimmten Themen sind vermutlich eine nette Sache. Problematisch wird es meiner Ansicht nach dann, wenn Populisten die Abstimmung kapern und teils mit offenen Lügen versuchen das Ergebnis zu beeinflussen.



    Bei einer 13. Monatsrente oder einem höheren Renteneintrittsalter findet sowas kaum statt, warum auch?

    Ein Negativbeispiel sollte aber immer der Brexit bleiben. Die Initiatoren haben gelogen was das Stammtisch-Säckchen hergab und damit sehr wahrscheinlich das knappe Endergebnis zu ihren Gunsten gedreht.



    Die Frage ist halt, wo man direkte Demokratie anwenden möchte und wo lieber nicht.

  • Den Artikel von Philip Manow fand ich auch hochspannend, weil er mehrere Punkte zum Umgang mit der AfD liefert.

    Nur als Ergänzung zu Herrn Ağar:



    Manow schreibt in dem Artikel auch, dass die Demokratiekultur in Deutschland extrem stark von Delegation der Politik an Juristen geprägt ist.

    Statt eines Diskurses wartet man beispielsweise einfach auf eine Entscheidung des Verfassungsgerichtes.

    Manow bezieht das auf das gesamte Wahlvolk, nicht eingeengt auf Politiker.

    Das Beispiel „Bürgerinitiative Deutsche Wohnen und co. enteignen“ sehe ich auch in dieser Kultur. Wir entscheiden, egal, ob es realistisch umsetzbar ist.

    Mehr direkte Demokratie hieße, der Souverän - das Volk – muss sich mal selbst kümmern.

    Fehler lägen in der Verantwortung des Souveräns.

    Diese den Politiker zuzuschieben, geht nicht mehr so richtig.

    Herr Ağar hat völlig recht, mehr direkte Demokratie könnte der AfD effektiv das Wasser abgraben.

    Man muss nur damit leben, dass man selbst manche Entscheidung blöd finden wird.

    (Ich würde zum Beispiel darauf tippen, dass ein Volksentscheid zur Bezahlkarte für Asylbewerber positiv entschieden wird.)

    Das könnte einem der Erhalt einer funktionierenden Demokratie aber wert sein.

  • Ich finde Volksentscheide gut und bin der Ansicht, dass die Möglichkeit besteht, die AFD dadurch (in größerem oder kleinerem Umfang?) zurückzudrängen.

    Meine Begründungen:



    Das Gefühl, das meiner Einschätzung/Meinung/Erfahrung nach viele AFD-Wähler umtreibt, "denen da oben" ohnmächtig und hilflos ausgeliefert zu sein, ohne relevanten Einfluss nehmen zu können, kann dadurch reduziert werden.



    Ebenso könnte das meiner Meinung nach Vorurteil, es würde "nur noch" Minderheitenpolitik betrieben, widerlegt werden.



    Vielleicht würde durch Volksentscheide auch die Macht der Lobbyisten gebrochen werden können.

    Und tatsächlich gehe ich davon aus, dass sozialere Politik gemacht werden würde, weil die "Entscheider", in dem Fall die Bürger, bodenständiger und "normaler" leben als Berufspolitiker. Beispielsweise gehe ich nicht davon aus, dass Politiker die Probleme von Rentenempfängern und gesetzlich Krankenversicherten ausreichend gut nachvollziehen und beheben (können/wollen), da sie selbst Pensionen erhalten und privat versichert sind.

    Für mich selbst wünsche ich mir Volksentscheide, weil ich darauf hoffe, dass ich (dann auch durch Medien) besser aufgeklärt und über die Vor- und Nachteile einer Entscheidung informiert werde. Jetzt muss man sich alles selbst mühevoll zusammensuchen und erfährt oft trotzdem nur die halbe Wahrheit. Die Deutsche Rentenversicherung ist ein gutes Beispiel insofern, dass nicht klar und einfach verständlich kommuniziert wird, wieso und weshalb versicherungsfremde Leistungen übernommen und durch Steuerzuschüsse teilweise nicht ausgeglichen werden. Ebenso bei den gesetzlichen Krankenversicherungen, auf die Ausgaben abgewälzt werden, die "eigentlich" durch alle Steuerzahler erbracht werden müssten.

  • Das ist leider eine sehr einseitige Sicht.



    Zum einen war die Beteiligung mit 59% bei dieser Abstimmung enorm hoch. Im Umkehrschluss heißt das, dass man schon froh ist, wenn endlich mal wieder die 50%-Marke erreicht wird. Die Menge der zweimal jährlich stattfindenden Abstimmungen hat nämlich schon längst zu einer Politik- und Beteiligungsmüdigkeit geführt.

    Zweitens wird die Mehrzahl der Abstimmungskampagnen von den Populisten der SVP dominiert und leider auch gewonnen. "Masseneinwanderung", Verbesserungen der AHV, Konzernverantwortung im internationalen Handel u.v.m. wurden sämtlich im Sinne der Populisten beschieden, und das jeweils bei Abstimmungsquoten, die eigentlich nicht mehr demokratisch sind. Ganz zu schweigen von der Zumutung der wirklich unschönen, hetzerischen Kampagnen.

    PS: Ich lebe als Deutscher in der Schweiz.

  • An Bürgerräten auf kommunaler Ebene wird langfristig kein Weg vorbeiführen. Die Voraussetzung für einen Volksentscheid auf Bundesebene, wäre ja zuerst einmal die, dass die Politik den Bürger auch als mündig ansieht und ihm zutraut umsichtige Entscheidungen zu treffen. Und da nur wenige progressive Parteien in den Parlamenten vertreten sind, bleibt das wohl Zukunftsmusik.

    Meiner Meinung nach sollte man zuerst einmal Menschen mit Migrationshintergrund, die dauerhaft in Deutschland sesshaft sind, aber nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, ein Wahlrecht einräumen. Es ist nicht fair, erwachsen Steuerzahlern kein Mitbestimmungsrecht einzuräumen.

    Dieses sollte der erste Schritt sein und danach kann man weitersehen.

  • Letztlich braucht es zweis Volksabstimmungen zu jedem Thema. Zunächst ja oder nein. Bei 'ja' dann genaue Umsetzung ausarbeiten, Machbarkeit, Konsequenzen. Wenn dann alles klar ist: Leute, so nochmal, ob das wirklich das ist was ihr wolltet.



    Brexit als Beispiel.

  • Bei mehr "direkter Demokratie" dürften aktuell die wenigsten an ein 13. Monatsgehalt denken. Vielmehr wären hier Themen wie, Wiedereinstieg in die Kernkraft, härtere Gangart in der Flüchtlingspolitik, Waffenlieferungen an die Ukraine, konsequente Bekämpfung der Gewaltkriminalität durch hohe Haftstrafen, Reformierung der deutschen Europapolitik, u.v.m. von größeren Interesse. Fraglich ist nur, ob jedem "Demokraten" die Konsequenzen solcher basisdemokratischen Entscheidungsfindungen so recht gefallen würden. Ich habe da so meine Zweifel, auch wenn ich die Idee der Basisdemokratie grundsätzlich nicht verkehrt finde. Politik, die auf langfristige Perspektiven angelegt ist, ließe sich z.B. basisdemokratisch sicherlich kaum noch umsetzen.

  • Bereits die Überschrift ist populistischer Natur, den sie unterstellt, dass Volksentscheide "mehr" und Entscheidungen gewählter Volksvertreter "weniger" demokratisch wären. Weshalb lässt sich die taz auf so ein Niveau überhaupt ein?

    Unter so einer Überschrift kann man den Artikel überhaupt nicht mehr ernst nehmen und dessen Inhalt auch nur ansatzweise diskutieren. Möglicherweise gefällt eine so plumpe Aufmache ja AfD-Anhängern, ich verwehre mich dagegen.

  • Gerne mehr direkte Entscheidungen durch das Wahlvolk - man muss dann allerdings in jeder Richtung mit dem Ergebnis leben können. Oder um es mit der Schweizer Praxis zu beschreiben: Mehr Rente und das Minarettverbot basieren auf dem gleichen Politikprinzip.

    • @vieldenker:

      Ja.



      So läuft Demokratie.



      Muss man sich hierzulande aber erst mal dran gewöhnen.

  • Ich würde sagen, die Gesellschaft braucht überhaupt erst Demokratie.

    Wenn irgendwelche Abgeordneten, denen teilweise "egal ist, was meine Wähler denken" über die Lebensverhältnisse anderer Menschen bestimmen und von ihren Entscheidungen selber praktisch nie betroffen sind, dann ist das von Haus aus antidemokratisch.

    Demokratie heißt immer, dass die von Entscheidungen Betroffenen mit diskutieren, mitentscheiden, mitbestimmen können.

    Was nun das Thema Volksabstimmungen betrifft, so gibt es da das Problem, dass Entscheidungen nicht per Diskussion und inhaltlicher Argumentation der Betroffenen zustande kommen, sondern in Form einer formalen Grobabstimmung, meist "ja - nein" und unter Ausblendung aller anderen gesellschaftlichen Themen, zu denen es diverse Abhängigkeiten und Zusammenhänge gibt.

    Volksabstimmungen sind somit extrem unterkomplex angesichts der Kompliziertheit dieser Welt.

    Soziale Gerechtigkeit wird man durch Volksabstimmungen allein höchstens partiell und zufällig herstellen können, aber nie systematisch und grundsätzlich.

  • Schattenseiten der Volksabstimmung



    Die Volksabstimmung zu S21 hat mir gezeigt, dass wir leider für diese Form der Demokratie noch nicht reif sind. Mit falschen Zahlen und viel "Volkmarketing" wurde den Wählern eine günstig und gute Lösung vorgegaugelt, nun kostet er 11Milliarden, statt der 2,8 Milliarden Euro. Und nun findet auch eine große Mehrheit, dass sie mit ihrem "JA" falsch entschieden hat.



    Die Schweiz kennt dieses Mittel seit 1848, da funktioniert es, weil sie Erfahrung haben und sich nicht so leicht täuschen lassen, während bei uns manipulativer Populismus und mediale Beeinflussung zu befürchten sind.



    Vielleicht sollten wir erst mal 10 Jahre klein anfangen, in Gemeinde- und Stadträten, um es zu erlernen.