Verschobener Atomausstieg: Kabinett beschließt Streckbetrieb

Die Bundesregierung bringt die Verschiebung des Atomausstiegs um dreieinhalb Monate auf den Weg. Anti-AKW-Initiativen sind entsetzt.

Atomkraftgegner demonstrieren in der Nähe des Kernkraftwerks. Die Demonstration findet im Rahmen eines dreiwöchigen Dauerprotests, einer Anti-Atom-Radtour durch Süddeutschland, die Schweiz und Frankreich statt.

Anti-AKW-Protest vor dem Atomkraftwerk in Neckarwestheim im August Foto: Ferdinando Iannone/dpa

BERLIN taz | Das Bundeskabinett hat am Mittwoch die Änderung des Atomgesetzes beschlossen, mit der der Streckbetrieb der drei noch laufenden Atomkraftwerke möglich gemacht wird. Gleichzeitig sieht der Gesetzentwurf vor, dass die drei Meiler spätestens zum 15. April 2023 den Betrieb einstellen. „Danach ist Schluss“, sagte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) unmittelbar im Anschluss an die Kabinettssitzung. Die AKW arbeiten mit dem vorhandenen Material weiter. „Es gibt keine neuen Brennstäbe“, so Habeck.

Ursprünglich sollten alle drei noch in Deutschland aktiven AKW zum Jahresende abgeschaltet werden. Wegen der Energiekrise hatte Habeck Anfang September einen Reserve- und möglichen Streckbetrieb der Meiler Isar 2 in Bayern und Neckerwestheim 2 in Baden-Württemberg für den Fall in Aussicht gestellt, dass Stresstests einen Energiemangel ergeben.

Die FDP hatte die entsprechende Änderung des Atomgesetzes aber blockiert, weil sie für den Weiterbetrieb aller AKW ist. Am Montagabend hat Bundeskanzler Scholz auf Grundlage seiner Richtlinienkompetenz verfügt, dass alle drei AKW bis zum 15. April weiterlaufen können, entgegen der ursprünglichen Pläne also auch das AKW Emsland. Das Bundesumweltministerium hatte zügig einen entsprechenden Entwurf vorgelegt.

Bei der Kabinettssitzung am Mittwoch habe es keine erneuten Diskussionen über die Änderung des Atomgesetzes gegeben, berichteten Habeck und Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) bei einem gemeinsamen Auftritt vor dem Bundeskanzleramt. In „maximal vier Minuten“ sei die Sache über die Bühne gegangen, sagte Habeck.

Anti-AKW-Bewegung sieht Sicherheitsrisiko

Jetzt geht der Entwurf ins parlamentarische Verfahren, in dem es durchaus noch zu Änderungen kommen kann. In der zweiten Novemberwoche könnte der Bundestag über das Gesetz abstimmen. Der Bundesrat muss nach Angaben des Wirtschafts- und Umweltministeriums nicht zustimmen. Auf den Bund kommen mit dem Streckbetrieb keine Kosten zu, teilten die Ministerien mit. Sollten die AKW-Betreiber sehr hohe Gewinne machen, werden die nach den Plänen der Bundesregierung abgeschöpft und für die vorgesehene Strompreisbremse für Ver­brau­che­r:in­nen verwendet.

Der Entwurf sieht einen Streckbetrieb vor, bei dem die Leistung der AKW schrittweise gesenkt wird. Habeck und Lemke betonten, dass mit der Gesetzesänderung der Atomausstieg zum 15. April 2023 definitiv steht. Das Problem: Ob die FDP jetzt Ruhe gibt oder weiterhin vehement das Einsetzen neuer Brennstäbe und einen Weiterbetrieb der AKWs fordert, ist offen. „Ich gehe davon aus, dass die FDP vertragstreu ist“, sagte Habeck. Wegen des vorgesehenen Ausstiegs waren zuletzt die Sicherheitsprüfungen für die AKW ausgesetzt worden, dabei bleibt es. „Das ist vertretbar für wenige Monate, aber nicht für länger“, sagte Lemke.

Anti-AKW-Initiativen reagierten mit Entsetzen auf den Weiterbetrieb. Sie sehen darin ein erhebliches Sicherheitsrisiko. „Die Entscheidung ist rein politisch motiviert, allein um die FDP zu beruhigen“, heißt es in einer Erklärung von acht Anti-AKW-Initiativen aus Niedersachsen und NRW sowie dem Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU).

Sie kritisieren, dass im Emsland auch eine Brennelementefabrik des französischen Konzerns Framatome betrieben wird. Sie tauche in dem Gesetzentwurf nicht auf. „Framatome Lingen hat gerade erst Genehmigungen für neue Urangeschäfte ausgerechnet mit dem Kreml-Konzern Rosatom erhalten“, kritisieren die Initiativen. Auch die Anti-Atom-Organisation „.ausgestrahlt“ ist strikt gegen den Streckbetrieb. „Ein längerer Betrieb der AKW spielt nur jenen in die Hände, die die Energiewende kippen wollen“, sagte Armin Simon von „.ausgestrahlt“.

AKW sind bei Stromerzeugung unflexibel

In der Erneuerbaren-Energien-Branche ist die Verstimmung ebenfalls groß. Der Weiterbetrieb werde weder die Preis- noch die Versorgungskrise lösen, sagte die Präsidentin des Bundesverbands für Erneuerbare Energie (BEE), die frühere Grünen-Vorsitzende Simone Peter. „Er kann aber gerade in Norddeutschland dazu führen, Erneuerbare vom Markt zu drängen, sodass diese ihre preissenkende Wirkung nicht ausspielen können.“

Der Hintergrund: Atomkraftwerke sind bei der Stromerzeugung ex­trem unflexibel, einmal hochgefahren, bleiben sie am Netz und verdrängen so erneuerbare Energien wie Windkraft, die unkompliziert an- und abschaltbar sind.

„Alleine im Jahr 2021 wurden 5,8 Terawattstunden wertvoller Ökostrom aus Erneuerbare-Energien-Anlagen abgeregelt, verbunden mit einem Millionenschaden“, sagte Peter. Diesen Zustand zu verlängern und so die Chance zur Senkung der Strompreise zu verschenken, ergebe in Zeiten der Kostenkrise in der Energieversorgung wenig Sinn.

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