Verkehrspolitik in der Krise: Das Chaos auf Reisen
Weihnachten nach Hause? Mit ordentlich Verspätung. Zeit, um über das Versagen der Verkehrspolitik und mögliche Alternativen nachzudenken.
Nicht nur, aber gerade zur Weihnachtszeit: Alle Tage wieder gilt – warten, warten, warten. Die einen stehen mit dem Auto im Stau am Kamener Kreuz, die anderen auf dem Bahnsteig in Hamburg, Leipzig, Köln oder München, etliche am Terminal A, B oder C im Flughafen Düsseldorf, Frankfurt oder Berlin. 2018 ist das Jahr der heftigsten Mobilitätskrise, die die Bundesrepublik je erlebt hat. Und es gibt keinen Anlass zur Entwarnung. Deutschland ist immobil.
Ob Berufsverkehr, Geschäftsreise oder Weihnachtsurlaub, der Verkehrskollaps kennt kein Erbarmen. Dass ein Flugzeug mal zu spät ist oder gar nicht abhebt, das kam früher ab und zu vor. Heute ist es ein Massenphänomen. In keinem anderen Jahr sind so viele Flüge innerhalb, von und nach Deutschland ausgefallen wie 2018. Von Januar bis Dezember waren es nach Angaben des Flugrechteportal EUClaims 27.939 Flüge, im gleichen Zeitraum 2017 waren es 18.904.
Hinzu kommen Tausende von Verspätungen. Und Besserung ist nicht in Sicht, im Gegenteil. „Wir fürchten, dass es nächstes Jahr noch schlimmer wird“, sagt Tim Lamyon, Chef von EUclaim Deutschland. Flugrechteportale wie EUClaim, FlightRights oder Fairplane profitieren allerdings von diesem Desaster. Über die Portale können Reisende nach Ausfällen oder großen Verspätungen Entschädigungen eintreiben – gegen stolze Provisionen zwischen 25 und 35 Prozent des erstrittenen Betrags.
Die Krise in der Luft ist hausgemacht. „Die Flugpläne sind auf Kante genäht“, erklärt Lamyon. Die Abflüge sind so dicht getaktet wie möglich. Doch die vermeintliche Effizienz schlägt um, sobald eine Störung auftritt, Beschäftigte krank werden oder ein technischer Defekt an einem Flieger entdeckt wird. „Die Fluglinien halten nicht genug Ersatzpersonal und Ersatzmaschinen vor“, sagt Lamyon.
44 zusätzliche Züge für Weihnachtsverkehr
Fehlende Kapazitäten bei der Flugsicherung, Streiks oder schlechtes Wetter verschärfen die Lage. Der Himmel ist jetzt schon dicht. Der Wettbewerb unter den Fluggesellschaften um PassagierInnen ist bereits hart. Und er wird härter. Sie werden noch mehr Flüge zu noch niedrigeren Preisen anbieten – und damit den Luftverkehr noch störanfälliger machen.
Auch politischen EntscheidungsträgerInnen ist mittlerweile aufgefallen, dass etwas schief läuft. Zwar haben Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) und Justizministerin Katarina Barley (SPD) jeweils zu groß angekündigten Krisengipfeln geladen – Barley mit Verbrauchschützern, Scheuer ohne. Doch abgesehen von Absichtserklärungen wie die, mehr Personal einzustellen, hat das nichts gebracht, sagt Lamyon.
Wer mit der Bahn reist, kann bei einem – ebenfalls nicht seltenen – Ausfall immerhin einfach den nächsten Zug nehmen. Anders als Frühjahrsstürme, Sommerhitze, Herbstlaub oder Winterschnee trifft immerhin Weihnachten die BahnmanagerInnen nicht unvorbereitet. „Im Durchschnitt rechnen wir mit 20 Prozent mehr Reisenden am 21. und 22. Dezember gegenüber dem Normalreiseverkehr“, teilt ein Bahnsprecher mit. Für den Weihnachtsverkehr werden 44 zusätzliche Züge eingesetzt.
Sanierungsarbeiten und Kommunikationskrise
Das würde allerdings schon zu normalen Zeiten nicht reichen, die ständigen Störungen abzustellen. Die BahnmanagerInnen haben sich Ende vergangenen Jahres fest vorgenommen, die Zahl der pünktlichen Züge zu steigern – also die, die weniger als sechs Minuten zu spät sind. Erst bei einer Fahrplanabweichung von sechs Minuten spricht die Bahn von einer Verspätung. Trotz bester Vorsätze ist die Fahrplantreue 2018 weiter gesunken.
Im Januar waren noch 82 Prozent der Züge im Sinne der Bahn pünktlich, im November waren es nur 70,4 Prozent. Dass es im Weihnachtsverkehr besser wird, ist unwahrscheinlich. Und auch im kommenden Jahr wird sich erst mal nichts zum Guten wenden, denn viele Weichen, Schienen und Oberleitungen müssen repariert werden. Die Bahn schreibt in diesen Tagen Kunden an, um sie auf Sanierungsarbeiten und damit verbundene Störungen auf Hauptstrecken hinzuweisen, die im kommenden Jahr anstehen.
Nebenbei hat die Bahn auch eine Kommunikationskrise. Bahn-Chef Richard Lutz stellt sich nicht der Öffentlichkeit – abgesehen von PR-Terminen mit hübschen Fotomotiven und maximal einer möglichen Frage für die anwesenden JournalistInnen. Er gibt zurzeit keine Interviews.
Bahn fehlen Beträge in zweistelliger Milliardenhöhe
„Im Rahmen der aktuellen Diskussion gab es eine Vielzahl von Interviewanfragen verschiedener Medien an die DB, die wir alle abgelehnt haben“, teilt ein Sprecher mit. Für einen Konzern, der zu 100 Prozent im Besitz der öffentlichen Hand und damit der SteuerzahlerInnen ist, ist das ziemlich frech. Chef der DB-Kommunikation ist Oliver Schumacher, der einst Sprecher des nicht wiedergewählten nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Peer Steinbrück (SPD) war.
Als Finanzminister blies Steinbrück 2008 in letzter Minute den geplanten Börsengang der Bahn ab – wegen der anrollenden Finanzkrise. Doch schon die Vorbereitung des Börsengangs hat dazu geführt, dass die ManagerInnen Kürzung nach Kürzung durchgedrückt haben. Unter den Folgen leidet der Betrieb noch heute. Die Bahn braucht Beträge in zweistelliger Milliardenhöhe, um auf Augenhöhe mit den benachbarten Bahnsystemen zu kommen, sagen Experten.
Die wird sie von der jetzigen Bundesregierung nicht bekommen. Auch zur Beilegung der Bahnmisere fällt Verkehrsminister Scheuer nicht mehr als ein Gipfeltreffen mit Leuten aus der Branche ein. Das „Zukunftsbündnis Schiene“ aus Politik, Wirtschaft und Verbänden hat im Oktober die Arbeit aufgenommen.
Umfassende Mobilitätsmisere
Wenigstens eines der dort verhandelten Projekte ist sehr vielversprechend: der Deutschlandtakt. Dieses Taktsystem für den Fernverkehr orientiert sich an einem Modell, wie es im Bahnmusterland Schweiz bereits bestens funktioniert. Dabei fahren Züge aufeinander abgestimmt, wodurch sich Fahr- und Wartezeiten verkürzen. Das ist ein guter Ansatz, loben VertreterInnen von Fahrgastverbänden und ökologischen Verkehrsverbänden.
Die Mobilitätsmisere ist umfassend. Auch das Auto, ökologisch ohnehin bedenklich, ist keine Alternative zur Bahn. Der Staat hat nicht nur das Schienennetz verkommen lassen. Auch die Straßen und erst recht viele Brücken sind in einem miserablen Zustand, weshalb die Geschwindigkeit vielerorts gedrosselt werden muss. Die Liste der „wichtigsten Staustrecken“ des ADAC für die Weihnachtszeit umfasst 18 Punkte mit jeweils zwei Richtungen – und fast die ganze Republik.
Der Autoclub warnt vor Staus in den Großräumen Hamburg, Berlin, Köln, Frankfurt und München (Punkt eins) und bei regionalen Strecken wie der A 93 Inntaldreieck–Kufstein oder der A 61 Mönchengladbach–Koblenz–Ludwigshafen. Auch außerhalb von Urlaubszeiten sind die Straßen dicht. Staus in Innenstädten und auf Autobahnen zu verhindern ist auch mit den besten Verkehrsleitsystemen nur begrenzt möglich. Zu viele Autos sind zu viele Autos.
Nachsicht, bitte
Dabei gibt es mehr als genug Ideen, wie die Mobilitätskrise gelöst werden könnte. Mehr Busse, U- und S-Bahnen, mehr Fernzüge, kürzere Taktzeiten und ein größeres Angebot, den Ausbau des Schienennetzes, eine vernünftige Besteuerung von Flugreisen – wo es hingehen muss, haben AktivistInnen, VerkehrspolitikerInnen und WissenschaftlerInnen auf unzähligen Power-Point-Präsentationen, Studien und Resolutionen festgehalten.
Der Ruf nach der „Verkehrswende“ gehört zu jeder halbwegs ambitionierten Sonntagsrede. „Aber die Bundesregierung tut dafür nicht genug“, sagt Matthias Kurzeck vom ökologischen Verkehrsclub Deutschland (VCD). Sie setzt immer noch aufs Auto, neuerdings auf elektrische – wegen der Arbeitsplätze. Doch auch E-Fahrzeuge verstopfen Straßen.
Kurzeck rät Reisenden zu etwas Nachsicht mit der Bahn. Die ist immer noch das beste Verkehrsmittel, sagt er. Ja, die Züge haben oft Verspätung, räumt er ein. „Aber wenn man mit dem Auto eine Viertelstunde später ankommt als geplant, freut man sich, weil man so gut durchgekommen ist“, sagt er.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern