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Verhältnis Kolonialismus und NSKrise der Erinnerung

Der sogenannte neue Historikerstreit berührt eine zentrale Frage: Wie soll Deutschland geschichtspolitisch für ein neues Zeitalter aufgestellt werden?

In welchem Verhältnis stehen Kolonialismus und die Shoah zueinander? Holocaust-Mahnmal in Berlin Foto: Jürgen Ritter/imago

Nur zwei Tage nachdem Bund und Länder Ende März letzten Jahres den ersten Lockdown beschlossen hatten, nahm im Feuilleton und auf Twitter mit der sogenannten „Causa Mbembe“ eine sich bis heute hinziehende öffentliche Debatte über das Verhältnis von Holocaust und Kolonialismus ihren Anfang, die von vielen als neuer „Historikerstreit“ betrachtet wird.

Dass sich die ursprünglich eher abseits geführte Diskussion über die israelfeindlichen Äußerungen des kamerunischen Philosophen Achille Mbembe binnen kürzester Zeit zu einer erinnerungspolitischen Fundamentaldebatte auswuchs, ist durchaus erklärungsbedürftig.

Die Gründe sind sicher vielfältig, aber auch ein Zusammenhang mit dem Lockdown, in dem die Welt für einige Wochen stillzustehen schien und die aus den Büros Vertriebenen über ihr eigenes Leben und den Zustand der Welt sinnierten, ist naheliegend. In der verschärften sozialen, politischen und ökologischen Krise (Pandemie, Klimawandel, Niedergang der USA als Ordnungsmacht etc.) wuchs das Bedürfnis, über die Fehler der Vergangenheit nachzudenken und die bisherige Weltsicht infrage zu stellen.

Zumal mit China längst ein in der Pandemie besonders sichtbarer Akteur die politische Bühne betreten hatte, der unter Xi Jinping inzwischen lautstark die Systemfrage stellt und historische Deutungsmacht beansprucht.

Sich verändernde Welt

Inmitten der allgemeinen Verunsicherung und Panik also fungierten die Mbembe-Debatte und der sich anschließende Historikerstreit als Foren, auf denen Deutschlands Rolle in einer sich radikal verändernden Welt verhandelt werden konnte. Anstatt aber offen über globale Herausforderungen und Bedrohungen der Demokratie zu sprechen, richtete sich der Blick auf die deutsche Vergangenheit – und auf die Frage, wie sie richtig zu deuten sei.

Die Mbembe-Debatte war folglich nur ein eher zufälliger Auftakt für weitere Kontroversen, die sich alle um denselben Themenkomplex drehten: Wie muss eine nationale Gedenkkultur beschaffen sein, um der globalen Gegenwart endlich gerecht zu werden? In welcher Weise muss die koloniale Vergangenheit Deutschlands im nationalen Erinnerungsnarrativ berücksichtigt werden? Wie „provinziell“ ist das deutsche Holocaustgedenken?

Philipp Lenhard

ist Historiker an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Auf welcher geschichtspolitischen Grundlage beruht die deutsche Israelpolitik? Was ist Antisemitismus und was „legitime Israelkritik“? Inwiefern grenzt der Begriff der „Singularität“ postmigrantische Erfahrungen mit Rassismus und Ausgrenzung aus?

Solche Fragen sind zweifellos wichtig, doch der Verdacht, manchen an der Diskussion Beteiligten gehe es hauptsächlich darum, Deutschland geschichtspolitisch für ein neues Zeitalter flottzumachen, das wohl nicht mehr im Zeichen westlicher Hegemonie stehen wird, drängte sich rasch auf. Zahlreiche Kritiker erklärten, das Holocaustgedenken sei nicht mehr „zeitgemäß“, als ob das irgendetwas über dessen Richtigkeit aussagen würde.

Neue Zeiten

Im modernisierungstheoretischen Sinne könnten dieser Lesart zufolge jene, die Erinnerungspolitik noch am Geschichtsbild der scheinbar untergehenden Pax Americana ausrichten, als „konservativ“ bezeichnet werden. Als „progressiv“ dagegen erscheinen all jene, die den Glockenschlag der Geschichte vernommen haben und sich vorlaufend auf neue Zeiten unter der Ägide Chinas einstellen.

Die elementare wissenschaftliche Kategorie der Wahrheit, die zwar nicht kontext- und standortunabhängig ist, aber eben auch nicht vom historischen Geschehen selbst abgelöst werden kann, blieb in diesem zähen Ringen um Deutungsmacht zunehmend auf der Strecke.

Wie im ersten Historikerstreit ging es auch im zweiten um die Deutung des Nationalsozialismus, um die angemessene Form des Erinnerns, um die richtigen „Lehren aus der Vergangenheit“.

Doch während die politische Kultur der alten Bundesrepublik noch durch ein konservatives Lager geprägt war, das die deutsche Schuld kleinredete und den Holocaust relativierte, sind die Vorzeichen heute gänzlich andere: Die ursprünglich von lokalen Initiativen getragene erinnerungspolitische Modernisierung, die erst unter der rot-grünen Regierung Schröders und Fischers richtig Fahrt aufnahm, festigte in den Nullerjahren das Bekenntnis zur deutschen Verantwortung für den „Zivilisationsbruch“ Holocaust und beförderte die Revisionisten aus dem ersten Historikerstreit ins politische Abseits.

Kern der Staatsräson

Seither bildet die Erinnerung an Nationalsozialismus, Vernichtungskrieg und Holocaust den Kern deutscher Staatsräson, aus der Prinzipien politischen Handelns abgeleitet werden sollen. Dazu gehört die Solidarität mit Israel, dem Staat der Holocaustüberlebenden, dessen Unterstützung insbesondere die Merkel-Regierung zu einem Eckpfeiler deutscher Außenpolitik gemacht haben will.

Was im ersten Historikerstreit „progressiv“ war, nämlich die Position Jürgen Habermas’, der gegen seine konservativen Widersacher Ernst Nolte und Michael Stürmer die Singularität des Menschheitsverbrechens Holocaust betonte und eine kulturelle Integration Deutschlands in die Tradition des westlichen Liberalismus anstrebte, entspricht heute dem politischen Kompass nahezu der gesamten politischen Klasse.

Wer diesen Kompass neu ausrichten möchte, und sei es auch aus besten, postkolonialen Absichten, kann dies offenbar nicht mit kleinen Positionsveränderungen tun, sondern muss auf das Zentrum der deutschen Staatsräson zielen.

Deshalb geriet im zweiten Historikerstreit erneut die Konzeption des Holocaust als eines „singulären“ oder „präzedenzlosen“ Ereignisses systematisch unter Beschuss. Dieser als „Narrativ“ oder gar „Mythos“ relativierte geschichtswissenschaftliche Begriff ziele darauf ab, so die Kritiker, nichtwestliche Erfahrungen und Narrative auszugrenzen.

Nur ein schreckliches Beispiel

Zudem führe er zur Unterstützung Israels, in dem manche Diskutanten gar ein siedlerkolonialistisches und rassistisches Apartheidsystem auszumachen glaubten. Der Holocaust wiederum sei zweifellos ein schreckliches Verbrechen gewesen, aber zugleich auch nur ein besonders schreckliches Beispiel für die Blutexzesse des westlichen Kolonialismus. Mit großen interpretatorischen Verrenkungen versuchte etwa der australische Genozidforscher Dirk Moses, Holocaust und Vernichtungskrieg in koloniale Verbrechen umzudeuten.

Im geschichtspolitischen Überschwang, der dazu tendierte, alle Differenzen in einer einzigen Gewaltgeschichte des „westlichen Kolonialismus“ verschwinden zu lassen, wurde also nicht nur die Präzedenzlosigkeit des Holocaust bestritten, sondern auch die spezifische deutsche Verantwortung unsichtbar gemacht.

Aus einer solchen Perspektive lassen sich die westlichen Siegermächte des Zweiten Weltkriegs letztlich nicht mehr vom Nationalsozialismus unterscheiden. Und auch der jüdische Staat passt plötzlich ins Passepartout eines Kolonialrassismus, dessen Bekämpfung die wichtigste „Lehre aus der Geschichte“ sei.

Wenig erstaunlich daher, dass Achille Mbembe, der in seinem Buch „Politik der Feindschaft“ die südafrikanische Apartheid, die israelische Palästinenserpolitik und den Holocaust allesamt zu Manifestationen eines kolonialen „Trennungswahns“ erklärt hatte, so viel Zuspruch aus dem „progressiven“ Lager erhielt.

Ideologische Soft Power

Erst in einigen Jahren wird sich abschließend beurteilen lassen, wie der zweite Historikerstreit ausging – und zwar nicht zuletzt abhängig davon, wie der Westen aus der globalen machtpolitischen Auseinandersetzung mit China hervorgehen wird. Schon jetzt nutzt der chinesische Imperialismus den Postkolonialismus als ideologische Soft Power, um seinen Einflussbereich in Afrika und Südostasien auszuweiten und die westliche Hegemonie zu torpedieren.

Dabei stört das Wissen um die Spezifik des Holocaust nur insofern, als dieser sich eben nicht in das Schema des bösen westlichen Kolonialismus einfügen lässt. Solange die Vernichtung der europäischen Juden als ein „westlicher Genozid“ unter anderen rubriziert werden kann, kommt das Holocaustgedenken der chinesischen Staatsideologie dagegen nicht in die Quere.

Aber auch der Postkolonialismus kann zum Bumerang für die Herrscher in Beijing werden: dann nämlich, wenn sich „Konservative“ und „Progressive“ gemeinsam gegen den chinesischen Neokolonialismus wenden und den drohenden Genozid an den Uiguren anprangern, ohne damit die Spezifik des Holocaust zu leugnen.

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6 Kommentare

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  • Bei diesem wie bei einigen anderen Beiträgen dieser "Debatte" (die keine ist), muss ich jedesmal tief einatmen:

    Werte woke Holocaustrelativierer: Abgesehen davon, dass wir es hier mitnichten mit einem "neuen Historikerstreit" zu tun haben. da die wenigen NS-Historiker (Saul Friedländer und Götz Aly), die sich dazu äußerten, sehr einmütig in ihrer kalten Ablehnung der abstrusen Auftritte von Michael Rothberg und A. Dirk Moses waren.

    Auch war der Holocaust mitnichten der Kern der Staatsräson der vielmehr auf seiner Leugnung beruhenden Gründung der Bonner Repunlik, sondern die Westintegration, deren Zementierung sich selbst Adenauers Bemühen um diplomatische Beziehung zum jüdischen Staat Israel verdankt. bei dem er vielmehr auf die Gunst der US-Politiker schielte.

    Mit Recht hat dennoch Habermas 1980 die Thesen Noltes als Angriff auf die Demokratie in Deutschland gesehen - wobei dieser dennoch nicht etwa durch ein vermeintlich "hegemoniales neues Narrativ", sondern durch empirische Forschung spätestens da widerlegt wurde, als westliche Historiker Einblick in die Dokumente auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs erhieleten.

    Erst recht bleibt mir aber die Spucke weg, wenn Phrasen fallen wie die, ob deutsche "Erinnnerungspolitik" noch angemessenn für das 21. Jahrhundert sei. Nein, werte oder unwerte Holocaustrelativierer aller Couleur: Es gibt so etwas wie eine objektive empirisch beschreibbare Wirklichkeit. Und just deren Erforschung obliegt der Geschichtswissenschaft - ganz unabhängig davon. welche akademischen Freizeitmätzchen gerade schick und "woke" sind.

    Solange dieses Land aber eine rechtsstaatliche Demokratie bleibt, wird Gedenken sich daran orientieren, was wirklich geschehen ist - und sich wenig an den Selbstdarstellungsambitionen von Popstars der jeweiligen flüchtigen Avantgarde scheren. Ihr werdet die industrielle Massenvernichtung der europäischen Juden nicht in eine alles einebnende Reihe von 'weißen Verbrechen' einmotten können.

  • Jürgen Habermas Begriff Singularität Holocausts 1941-45 baut im kalten Krieg Verteidigung auf, konzentriert beim Thema Holocaust in Europa zu bleiben, nicht Versuchungen zu erliegen u. a. auf stalinistische, maoistische Verbrechen gegen eigene Bevölkerung auszuweichen, NS Holocaust mit europäischem Kollaboration Netzwerk über deutschbesetzte Gebiete hinaus bis nach Spanien, Algerien, Marokko, Tunesien, Libyen zu relativieren, Insofern hat Singularität Holocaust eigene Wirkgeschichte, die auf den Prüfstand gehört, ob sie heute noch ihre Gültigkeit im Habermaschen Sinne aufrechterhalten kann und muss? Ob nicht vielmehr zu prüfen ist, ob es Singularität zwischen allen Formen von Vernichtungskampagnen gibt in Menschheitsgeschichte, die über regionale, staatliche Grenzen hinaus vernetzt finanziert, organisiert sind, beginnend mit christlichen Kreuzzügen nach Palästina europäischer Mächte unter Segen Papstes, nach Entdeckung Amerikas durch Columbus 1492 folgender Ausrottung indigener Völker nach Erteilung päpstlicher Bullen auch entfacht als entfesselte Reaktion auf Reformation Luthers, Calvins, Zwingli Feuer&Flamme solcher Art gegen sog Ungläubige entsetzlich zu handeln, Sklavenhandel im Dreiecksgeschäft Europa Stoffe, Afrika Sklaven, Südstaaten Nordamerikas Baumwolle, Südamerikas Gold, Kupfer Abbau in Bergwerken fremdfinanziert anzutreiben s. Bartolomé de Las Casas kurzer Bericht 1542, der systematische Grausamkeit Genozids an idigenen Völkerstämmen (15 Millionen und mehr Opfer) der Konquistadoren aufzeichnete, Abschaffung Sklaverei Mitte 19. Jahrhundert, ersetzt mit humanistischem Impetus staatlich finanzierten Kolonialismus europäischer Mächte, Zaren-, Osmanisches Reich eingeschlossen, Berliner Kongo Konferenz 1884/85 unter Schirmherrschaft Reichskanzler Bismarcks mit Effizienzgebot in Kolonien Rohstoffe Arbeitskraft in sog bildungsfördernder Mission auszubeuten, kontraproduktiv Lizenzen an Kaufleute, Könige wie Leopold II Belgien private Joint Ventures zu vergeben

  • Die durch Corona "aus den Büros Vertriebenen"? Ernsthaft?

    • @Orwell1984:

      Um das noch zu Spezifizieren: eine unbedacht frivole Wortwahl angesichts der in diesem Beitrag verhandelten Themen. Aber gut.



      Inhaltlich schließ ich mich julianm an. Der Wahrheit ist es egal, ob sie China nützt oder es diese gleichzeitig verdreht. Dass der Holocaust einen besonderen Status hat und haben sollte ist angesichts von Quantität und Qualität m. E. unstrittig. Dass er aber nicht auch unter kolonialen Gesichtspunkten plausibel zu interpretieren ist (s. Mark Terkessidis), irritiert mich. S. Hitlers Lebensraum-Ideologie.



      Es ist durchaus korrekt, anzunehmen, dass es keinen physischen Grund gibt, warum ein solches Verbrechen nicht etwa auch wiederholbar wäre. Singularitäten haben das, soweit ich weiß, nicht als Eigenschaft.

      • @Orwell1984:

        Die Ideologie des Lebensraums, die millionenfach und für jeden erkennbar durch 'Mein Kampf' und Hans Grimms 'Volk ohne Raum' propagiert wurde, findet sich schon bei den Alldeutschen ab 1905, aber sie erklärt nicht den nazistischen Vernichtungswillen der europäischen Juden.

        Der Bezug auf den britischen Kolonialismus begleitete freilich die Legitimation des Vernichtungskriegs gegen die slawische Bevölkerung Osteuropas, vor allem Russlands. Doch selbst beim "Generalplan Ost" hieße die Behauptung, die Nazis hätten sich nur am britischen und französischen Kolonialismus orientiert, aber lediglich in den Augen der Weltöffentlichkeit den 'Fehler' begangen, weiße Menschen imperialer Unterdrückung zu unterwerfen, selbst postum auf NS-Propaganda reinzufallen. Auch von vornherei dreißigmillionenfaches Verhungern der Zivilbevölkerung kalt einzukalkulieren (Hunger- bzw Backeplan) ist eine neue Dimension der Dehumanisierung von Politik. Vor allem aber geht in der Inhumanität der mörderischen Pläne gegen die slawische Bevölkerung, die aus der Proklamation des Anspruch 'arischer' Ansprüche auf den russischen 'Raum' erwuchs, der Holocaust schlicht nicht auf. Dass der Vernichtungswille eine Dimension erreichte, dass Juden noch aus allen Winkeln Europas in die Vernichtungsmaschinerie transportiert wurden, als der damit verbundene Aufwand den eigenen Untergang im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion nur beschleunigte, ist in keiner Weise durch irgendein historisch früheres Phänomen zu erklären.

        Hier geht es ganz klar um Holocaustrelativierung, in der auf einmal derjenige Teil der Enkelgeneration ins gleiche Horn wie die extreme Rechte bläst, jedoch glaubt, sie käme damit durch, da sie doch auf das here moralische Etikett des Antikolonialismus zeigen kann. An dem akademischen Milieu das A. Dirk Moses in seiner Holocaustrelativierung unterstützt, erkennt man, dass weit mehr als die offen Rechtsextremen unter den Enkeln mit der Wahrheit des NS nicht klarkommen.

  • Ich habe keinen Zweifel, dass es der "Wahrheit" einen großen Dienst erwiesen hat, dieses hochkomplexen Themenfeld um ein Thema zu erweitern, das tatsächlich nur sehr wenig & sehr indirekt mit dem neuen Historikerstreit zu tun hat, & anschließend den gesamten Diskurs auf eine Auseinandersetzung zwischen "für den Westen" oder "für China" herunterzubrechen. Ja, ganz sicher. Genau darum geht es.