Verfassungsschutzchef über NSU-Terror: „Keine umfassende Klarheit“
Verfassungsschutzpräsident Haldenwang räumt ein: In seinem Amt gelte der Umgang mit den NSU-Verbrechen als „vollständiges Versagen“.
taz am wochenende: Herr Haldenwang, vor zehn Jahren, am 4. November 2011, erschossen sich die Thüringer Rechtsextremisten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt – und Beate Zschäpe verschickte die NSU-Bekennerschreiben. In den Folgetagen offenbarte sich die schwerste Rechtsterrorserie der Bundesrepublik. Sie gehörten damals zur Führung im Bundesamt für Verfassungsschutz. Wie haben Sie reagiert, als Sie von diesen Vorgängen erfuhren?
Thomas Haldenwang: Das war in der Tat ein einschneidendes Ereignis. Es herrschte eine große Aufgeregtheit im Hause, immer wieder gab es Besprechungen. Präsident Fromm veranlasste umgehend, dass keinerlei Material aus diesem Themenkomplex vernichtet werden durfte und eine Aufarbeitung startete.
Es war eine Bankrotterklärung: Da ermordet eine rechtsextreme Terrorzelle über Jahre zehn Menschen in Deutschland, verletzte viele weitere durch Anschläge – und der Verfassungsschutz hat das nicht erkannt.
Auch in unserer Mitarbeiterschaft wurde das als Tiefpunkt und vollständiges Versagen empfunden. Das zeigte sich auch darin, mit welchem Eifer die Mitarbeitenden bei den anschließenden Reformen mitgewirkt haben -eben weil sie so betroffen waren. Natürlich war das Bundesamt für Verfassungsschutz nicht die einzige Sicherheitsbehörde, die mit diesem Sachverhalt befasst war. Der wesentliche Fehler war die mangelnde Zusammenarbeit der Behörden.
Die Reichelt-Affäre, Springer und der „Boy-Club“: Warum man das ganze System feuern müsste – in der taz am wochenende vom 23./24. Oktober. Außerdem: Das immer salziger werdende Wasser im Südwesten Bangladeschs gefährdet die Gesundheit der Frauen, die im Flusswasser arbeiten müssen. Und: Gefühle steuern unser Handeln, sind jedoch keine Programme, die immer gleich ablaufen. Eine emotionale Sachkunde. Ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Nicht alle Mitarbeiter schienen so betroffen. Einer, Tarnname Lothar Lingen, schredderte bereits am 10. November 2011 mehrere Akten von Thüringer V-Männern. Können Sie heute sagen, warum?
Ich bin da heute auch nicht schlauer als all die anderen, die versucht haben, diesen Sachverhalt aufzuklären. Fakt ist: Das war eine massive Pflichtverletzung, ein Fehlverhalten einer Einzelperson. Diese Aktion war nicht im Bundesamt veranlasst, kein Vorgesetzter hat das angeordnet. Lingen selbst hat sich ja dazu im Untersuchungsausschuss geäußert. Er habe wegen der großen Zahl der V-Leute in Thüringen nicht die Frage aufkommen lassen wollen, warum wir nicht über die Aktivitäten des Trios informiert waren. Das ist nicht unplausibel. Auch ist es uns gelungen, die wesentlichen Inhalte der Akten zu rekonstruieren, so dass wir diese den Untersuchungsausschüssen vorlegen konnten. Dennoch haben wir keine umfassende Klarheit über das Motiv.
Die Akten betrafen V-Leute aus dem Thüringer Heimatschutz – in dem sich Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe radikalisiert haben. Mit dabei war auch die Akte von V-Mann “Tarif“, der später angab, er hätte das untergetauchte Trio beherbergen und auffliegen lassen können – sei von seinem V-Mann-Führer aber daran gehindert worden.
Das haben wir aufgeklärt und weisen diese Behauptung zurück. Weder in den rekonstruierten Akten noch in Aussagen damals beteiligter Mitarbeitender gab es Hinweise, dass dieser Vorhalt des V-Manns zutreffend ist.
Es war ja nicht nur “Tarif“. Im Umfeld des NSU-Trios bewegten sich rund 30 V-Leute. Kaum zu glauben, dass der Verfassungsschutz nichts vom Treiben der Untergetauchten mitbekam.
So ist es aber. Welches Interesse sollte ich haben, Fehlverhalten des Verfassungsschutzes zu decken? Im Gegenteil habe ich, seit ich mit diesen Vorgängen ab 2012 zu tun hatte, alles mir Mögliche getan, um diesen Sachverhalt aufzuklären, und habe auch die verschiedenen Untersuchungsausschüsse unterstützt und Sonderermittlern umfangreichen Einblick in die Akten gewährt. Aber trotz all dieser Bemühungen und des Prozesses gegen Beate Zschäpe können wir heute keine andere Geschichte des NSU schreiben.
Thomas Haldenwang, 61, Jurist, arbeitete erst im Bundesinnenministerium, ab 2009 im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). Als der NSU aufflog, leitete er die Zentralabteilung, ab 2013 war er Vizepräsident. Im November 2018 wurde als Nachfolger von Hans-Georg Maaßen BfV-Präsident. Haldenwang ist CDU-Mitglied.
Die Opferfamilien können nicht glauben, dass über 14 Jahre kein V-Mann und keine Behörde etwas über den Verbleib und das Tun der Untergetauchten wusste.
Ich habe großes Mitgefühl mit den Familien und kann nur zu gut verstehen, dass sie unglücklich sind mit dieser ganzen Situation. Auch ich bedaure sehr, dass über so lange Zeit die Motive für die Morde bei den Familien selbst gesucht wurden und später die Aufklärung nicht voran kam. Wenn ich irgendwie könnte, würde ich den Familien gerne helfen. Mit Betroffenen des Anschlags in der Keupstraße habe ich mich auch schon einmal getroffen.
Sie könnten den Betroffenen helfen, indem Ihr Amt die NSU-Akten vollständig offenlegt. Das ist – anders als es eben klang – bis heute nicht passiert. Und in Hessen wurden NSU-Akten anfangs ja gar für 120 Jahre als geheim eingestuft.
Diese Einstufung würde ich nicht teilen und ich war froh, als die Akten dann heruntergestuft und dem hessischen Untersuchungsausschuss vorgelegt wurden. Klar aber ist auch: Wenn wir alles offenlegen, bestünde die Gefahr, dass unsere Quellen enttarnt würden, was in der Vergangenheit auch schon geschehen ist. Das kann zur Gefahr für Leib und Leben dieser Menschen führen, und dann würde künftig auch niemand mehr mit uns zusammenarbeiten. Insofern muss Quellenschutz für uns Vorrang haben.
Auch bei zehn Morden? Was muss denn noch geschehen, um vollständige Aufklärung einzufordern?
Auch in solch einem dramatischen Fall gilt es, Leib und Leben unserer Quellen zu schützen. Das ist auch von Gerichten so anerkannt.
Die Opferfamilien sind auch überzeugt, dass es jenseits des Trios Helfer gab, gerade an den Tatorten. Die Behörden halten dagegen an der Trio-These fest. Sie auch?
Wir wissen von zahlreichen Personen im Umfeld des Trios, die es unterstützt haben. Und auch für mich ist die Frage offen, wer eigentlich die Auswahl der Opfer getroffen hat und wer die Täter logistisch bei ihren Reisen durchs ganze Bundesgebiet unterstützte. Aber: Weder die Sicherheitsbehörden noch die Untersuchungsausschüsse oder die Gerichtsverfahren haben Anfasser für weitere Täter gefunden. Seien Sie sicher: Sollten sich neue Spuren ergeben, würden die Behörden diesen nachgehen.
Beim NSU-Mord an Halit Yozgat in Kassel war sogar ein Verfassungsschützer am Tatort: Andreas Temme. Ist dessen Rolle für Sie heute geklärt?
Auch ich kann diesen Vorgang bis heute sehr schlecht einordnen. Generell teile ich die Unzufriedenheit der Angehörigen und der Untersuchungsausschüsse darüber, dass vieles nebulös erscheint. Herr Temme war V-Mann-Führer des hessischen Verfassungsschutzes. Man hat ja schon viele Anläufe unternommen, Herrn Temme zu befragen und das aufzuklären. Wie es wirklich war, könnte nur Herr Temme sagen – aber er sagt es nicht. Also werden wohl auch hier offene Fragen bleiben.
Wenn man das alles zusammen nimmt: Hat der Staat eine Mitverantwortung für den NSU-Terror?
Die Verantwortung liegt zunächst mal bei den Tätern, Punkt. Aber natürlich haben die Sicherheitsbehörden ihren Auftrag nicht in der Weise erfüllt, wie man es von ihnen erwarten darf.
Der Verfassungsschutz hat nach dem NSU-Auffliegen Reformen eingeleitet, am V-Leute-System aber hielt Ihr Amt fest. Warum ausgerechnet das?
Wir versuchen, mit nachrichtendienstlichen Mitteln Erkenntnisse zu generieren. Und da ist der Werkzeugkasten sehr überschaubar. Wenn einem aber daran gelegen ist, Insiderwissen zu generieren und zu erfahren, was in den Hinterzimmern besprochen wird, dann braucht es letztlich das Mittel der V-Personen. In vielen Fällen ist es das einzig wirksame Instrument. Informationen von V-Personen haben uns in der Vergangenheit entscheidend bei der Bewertung von Beobachtungsobjekten geholfen und auch Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden erst ermöglicht.
Aber was bringen V-Leute, die wie im Fall NSU nichts Wesentliches mitteilen, aber stattdessen mit Staatsgeldern die Szene aufbauen?
Im Fall NSU gab es Mängel bei der Auswahl und der Führung der V-Leute. Inzwischen haben wir hierfür aber ganz andere Standards. Heute werden keine Führungsfiguren der Szene mehr angeworben, die großes Interesse daran haben, nur taktisch zu berichten, wie damals Tino Brandt. Wir werben auch keine schweren Straftäter mehr an. Das V-Mann-Salär darf nicht so hoch sein, dass man davon seinen Lebensunterhalt bestreiten kann und das Geld darf nicht zur Finanzierung der Szene eingesetzt werden. Die V-Mann-Führung wechselt grundsätzlich nach bestimmten Zeiten. Und es gibt seit der Einführung der V-Mann-Datei auch keinen Wildwuchs mehr. Damals gab es keinen gesamten Überblick, welche Sicherheitsbehörden in welcher Szene welche Quellen hatten.
Wie viele V-Leute setzt Ihr Amt denn heute in der rechtsextremen Szene ein?
Zu Zahlen kann ich nichts sagen.
Zumindest weniger als früher?
Ja, weniger. Aber: Aufgrund der Reformen können wir das Instrument wirkungsvoller einsetzen.
Im Fall des Mordes am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke erkannten aber erneut weder der Verfassungsschutz noch seine V-Leute, dass der Attentäter – ein langjähriger Rechtsextremist – wieder gefährlich war.
Bei dem Täter gab es in unserem Bundesamt keine Erkenntnisse für eine andere Einschätzung und nach zehn Jahren sind die Akten pflichtgemäß zu löschen. Im Übrigen gibt es kein Patentrezept zur Aufdeckung von Anschlagsplänen. Aber ich möchte auch daran erinnern, dass wir einige Erfolge hatten. Wir haben zahlreiche Terrorgruppierungen in den vergangenen Jahren enttarnt und der Justiz zugeführt, teilweise auch mithilfe von V-Leuten. Ich erinnere an Gruppen wie OSS, Gruppe Freital, Revolution Chemnitz oder die Gruppe S. Und mit der Einrichtung des Gemeinsamen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrums, als direkte Konsequenz aus dem NSU, haben wir eine behördenübergreifende Plattform für einen besseren Informationsaustausch zwischen Polizei und Verfassungsschutz von Bund und Ländern geschaffen. Das funktioniert außerordentlich gut. Dadurch würde man heute so einen Fall wie den NSU früher erkennen können.
Sind Sie sicher? An der Analysefähigkeit Ihres Amtes gibt es immer wieder Kritik. Zu NSU-Zeiten schloss Ihr Amt aus, dass es einen Rechtsterrorismus gibt. Oder gerade erst wurde das neurechte Institut für Staatspolitik vom Landesamt in Sachsen-Anhalt eingestuft – vor dem Experten seit vielen Jahren warnten.
Das BfV beobachtet das Institut schon länger als Verdachtsfall. Bei einer solchen Einstufung müssen wir immer rechtsstaatlich vorgehen. Ich kann eine Organisation nur beobachten, wenn es hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine Verfassungsfeindlichkeit gibt. Alles, was ich öffentlich sage oder schreibe, muss vor Gerichten Bestand haben.
Mit Ihrem Amtsantritt im November 2018 erklärten Sie den Rechtsextremismus zur größten Bedrohung. Warum kam diese Erkenntnis erst so spät?
Das ist immer auch eine Frage von Ressourcen. Es wird sehr schnell verdrängt, dass wir es in den Jahren vor 2018 sehr intensiv mit dem islamistischen Terrorismus zu tun hatten, mit Anschlägen in ganz Westeuropa. Deshalb wurde ein Großteil der Ressourcen auf diesem Gebiet eingesetzt. Seit meinem Amtsantritt habe ich unsere Rechtsextremismus-Abteilung personell nahezu verdoppelt und in dichter Folge rechtsextremistische Organisationen zu Beobachtungsobjekten erklärt.
Einigen reicht das nicht. Die Linke und andere fordern bis heute die Abschaffung Ihres Amtes – stattdessen soll ein unabhängiges Institut die Arbeit übernehmen.
Dann würde ich mir Sorgen um die Sicherheit in diesem Land machen. Denn so ein Institut wäre ja rein auf öffentlich zugängliche Quellen angewiesen. Wenn extremistische Bedrohungen aber erst ab einer Schwelle der Polizeireife bekämpft werden, dann glaube ich, ist es in vielen Fällen viel zu spät. Dann würden wir unserer Rolle als Frühwarnsystem nicht mehr gerecht werden. Insofern würde ich niemanden zu diesem Schritt raten. Und es wäre zudem einmalig in der Welt.
Wie groß ist heute die Gefahr des Rechtsterrorismus?
Die Zahl der Rechtsextremisten steigt, auch deren Gewaltorientierung. Wo früher Gewalt von Kameradschaften oder klassischen Neonazis ausging, müssen wir uns heute mit Lone Wolves beschäftigen, selbst radikalisierten Einzeltätern wie in Halle oder Hanau. Hinzu kommt das Internet als Instrument für Propaganda, Radikalisierung und Vernetzung. Da gibt es eine gewaltige Dynamik. Daher habe ich in den vergangenen Jahren immer wieder vor den Gefahren durch Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus gewarnt.
Außerdem kennen wir Fälle von Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden. Von diesen kann ein erhöhtes Gefahrenpotential ausgehen, weil sie möglicherweise Zugang zu sensiblen Daten, zu Waffen und zu Munition haben. Das ist eine spezifische Form von Gefahr, zu der wir im Frühjahr ein zweites Lagebild vorlegen werden.
Ist es nicht verrückt, dass ausgerechnet Hans-Georg Maaßen nach dem NSU-Desaster 2012 als neuer Präsident und Ihr Vorgänger das Bundesamt aufräumen sollte – ein Mann, der zuletzt immer offener nach rechts rückte?
Ich bitte um Verständnis, dass ich mich einer guten Tradition folgend, nicht öffentlich zu meinem Vorgänger im Amt äußere. Zu dem Reformprozess kann ich Ihnen aber versichern: Ich habe diesen Prozess in meinen Positionen im Bundesamt immer vorangetrieben und zuletzt klare Akzente gesetzt. Bitte messen Sie mich an meinem Handeln.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken