Verbraucherzentralen-Chef über Ökologie: „Die Leute sind ja nicht blöd“
Die Umwelt- und Klimaprobleme sind drängend, die Politik geht sie aber nicht ehrlich an. Das meint der Chef der Verbraucherzentralen, Klaus Müller.
taz am wochenende: Herr Müller, ich möchte mit Ihnen darüber reden, wie man die sozialökologische Transformation so gestaltet, dass viele Menschen gerne mitmachen …
Klaus Müller: Puh, sozialökologische Transformation – ein fürchterliches Wort.
So sollte man das Kind also nicht nennen?
Ich wette, diesen Begriff verstehen 99 Prozent der Menschen nicht. Er ist vielleicht ein passender Slogan für Parteitage oder für Sozialwissenschaftler, aber er hat nichts mit dem Alltagsleben von „Lieschen Müller“ zu tun. Mehr noch: Er schreckt sogar Menschen davon ab, sich mit Ökologie zu beschäftigen, die eigentlich sensibel für Probleme sind.
Wie begeistert man denn Lieschen Müller und Otto Normalverbraucher für das Thema?
Zunächst mit einer bildhaften, konkreten Sprache, die im Kleinen anfängt. Viele Verbraucher sehen im Urlaub altes Plastik am Strand. Und sie haben erlebt, wie im vergangenen Dürresommer ihr Gartenrasen braun wurde. Dort, in ihrem Alltag, muss man sie abholen. Aber Politiker sprechen lieber über abstrakte Ziele und Visionen als über den harten, unglamourösen Weg dahin. Ich bin ganz bei Franz Müntefering, der gesagt hat, Politik sei vor allem Handwerk. Weniger Transformationsgerede oder wolkige Wünsche wie Weltfrieden, mehr klare Veränderungsschritte, das wäre schon mal wichtig.
Was noch? Die Grünen von heute versuchen ja empathischer zu sprechen als die Generation Trittin.
Die richtige Geschwindigkeit ist bei Reformen entscheidend. Progressive Parteien mit Veränderungsanspruch neigen dazu, alles auf einmal und sofort machen zu wollen. Die Energiewende, die Verkehrswende, die Agrarwende – und irgendeine Wende habe ich bestimmt noch vergessen. Das verkennt, dass man eine Gesellschaft auch überfordern kann.
Klaus Müller ist Chef des Bundesverbandes der Verbraucherzentralen. Bis 2006 hatte er für die Grünen politische Ämter inne, war Umweltminister in Schleswig-Holstein und MdB.
Aber die ökologischen Krisen sind nun mal so dramatisch, dass sie sofort angegangen werden müssten.
Ich weiß. Aber vor allem muss ihre Lösung nachhaltig sein – und sie dauert lange. Der Schildkröte mit Plastik im Magen, dem Insektensterben oder dem Klimawandel ist wenig geholfen, wenn eine ambitionierte Regierung nach vier Jahren in Schimpf und Schande abgewählt wird. Als Politiker muss ich aushalten, dass ich dem wissenschaftlichen Ruf nach schnellen, dramatischen Veränderungen nicht gerecht werden kann.
Welches Projekt sollten die Grünen priorisieren?
Diese schwierige Aufgabe kann ich weder den Grünen noch einer anderen Partei abnehmen. Aber klar ist: Eine Partei, die in eine Regierung will, muss wissen, was sie in einem knapp bemessenen Zeitraum abarbeiten will – und was nicht. Dabei muss sie legitime Bedürfnisse der Menschen berücksichtigen.
Zum Beispiel den Wunsch nach Sicherheit in einer sich rasant ändernden Welt?
Genau. Der Alltag der Menschen ist von so vielen Veränderungsprozessen geprägt. Die Digitalisierung verändert den Job, aber auch ihr Leben als Verbraucher im Online-Supermarkt oder das soziale Miteinander auf Facebook oder Instagram. Jede Partei, die das Bedürfnis nach Sicherheit ignoriert, wird keine gesellschaftlichen Mehrheiten erringen. Außerdem müssen sich diejenigen, die die ökologische Transformation wollen, über die Bezahlbarkeit Gedanken machen. Und, ganz wichtig, die Menschen dürfen sich nicht gegängelt fühlen.
Da haben die Grünen ja ihre Erfahrungen gemacht. Der Veggieday war eigentlich nur ein vorsichtig formulierter Vorschlag, einen fleischfreien Tag an Kantinen einzuführen. Warum provozierte er so massive Abwehrreflexe?
Weil Menschen sich ungern von Politikern sagen lassen, was sie persönlich tun oder lassen sollen. Ökologische Politik muss deshalb bei den Produktionsbedingungen ansetzen, sie darf nicht die persönliche Wahlfreiheit einschränken. Der Veggieday hat den Ansatz, Verzicht zu üben, auf Jahre in Verruf gebracht. Obwohl es da um sehr bürgerliche, konservative und auch christliche Werte geht: Freitags isst man Fisch, einmal die Woche gibt es den Sonntagsbraten.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Müsste Verzicht im politischen Diskurs nicht eine wichtigere Rolle spielen? „Alle fahren weiter Auto, nur eben E-Auto“ wird nicht funktionieren. Dafür sind die Ressourcen zu knapp.
Den Diskurs über Verzicht gibt es ja.
Wirklich? Robert Habeck erzählt gerne, dass er auch Dosenbier trinke. Botschaft: Jeder tue das, was er will.
Habeck sagt zumindest, dass man den Sixpack nicht in der Plastiktüte an den Badesee tragen sollte. Scherz beiseite: Ich habe schon den Eindruck, dass die Grünen, aber auch Kirchenvertreter oder Wissenschaftler in bestimmten Bereichen deutlich sagen, dass weniger mehr sein kann.
Wie wichtig ist es, bei der ökologischen Transformation für sozialen Ausgleich zu sorgen? In Frankreich protestieren die Gelbwesten immerhin auch gegen höhere Spritsteuern.
Es ist zwingend, das Ökologische und das Soziale zusammen zu denken und auch für Ausgleich zu sorgen. Bitte kein Elitenprojekt. Die Energie-, die Agrar- und auch die Verkehrswende werden scheitern, wenn die Parteien nicht die sozialen Auswirkungen bedenken und dafür Lösungen anbieten. Die Zeche ökologischer Politik zahlen selten die Gutverdiener. Es haben sich zum Beispiel sehr viele Rentnerinnen und Rentner an die Verbraucherzentralen gewandt, weil die Strompreise in den vergangenen Jahren so kräftig gestiegen sind. Diese Menschen haben wenig mehr als die Grundsicherung und werden durch eine höhere Stromrechnung erheblich in ihren Konsummöglichkeiten eingeschränkt.
Halten Sie eine Bewegung wie die Gelbwesten in Deutschland für möglich?
Ein französischer Freund hat mir mal die Mentalität unserer Nachbarn erklärt. Er sagte, der Weg vom Sofa auf die Straße sei in Frankreich kürzer als bei uns. Deutsche bleiben lieber und länger auf dem Sofa sitzen. Aber der Erfolg der AfD hat zum Beispiel auch viel damit zu tun, wie Menschen den Umgang mit dem Dieselskandal wahrnehmen.
Inwiefern?
Bundesregierungen haben jahrelang ignoriert, dass es europäische Grenzwerte gibt, und damit in Kauf genommen, dass Gerichte irgendwann Fahrverbote anordnen. Und sie setzen sich gegenüber der Autoindustrie nicht durch. Für eine Familie, deren Budget auf Kante genäht ist, bedeutet ein vierstelliger Wertverlust ihres neuwertigen Dieselautos einen tiefen Einschnitt in die Lebensplanung. Solche Leute dann mit Software-Updates abzuspeisen, ohne Garantie, natürlich, das ist frech. Dieses Politikversagen hat viel Verunsicherung verursacht, aber auch viel Wut und Ärger. In den sozialen Medien hatte die AfD teilweise die Diskurshoheit über den Dieselskandal – und nicht CDU, SPD, FDP, Linke oder Grüne.
107 Lungenärzte sorgten im Januar für Aufregung, weil sie mit fragwürdigen Argumenten die Stickoxid-Grenzwerte in Frage stellten. Wichtige Medien und der CSU-Verkehrsminister haben ihre Zahlen unkritisch übernommen. Wie konnte das passieren?
Na ja, der Berufsstand des Arztes genießt einen besonderen Nimbus. 107 Lungenärzte, das klingt erst mal nach maximaler Glaubwürdigkeit. Das mag manche verleitet haben, diesen offensichtlich falschen Berechnungen zu glauben. Wenn hinter diesem Vorstoß eine bewusste Strategie der Autoindustrie steckte, würde ich sagen: gut gemacht.
Zeigt das, wie anfällig unsere Mediendemokratie ist? Plötzlich sah es so aus, als gäbe es zwei wissenschaftliche Meinungen. Dabei stand eine krude These gegen die gesamte Meinung der weltweiten Gesundheitsforscher.
Es zeigt, wie wichtig vertrauenswürdige, von Parteien oder der Regierung unabhängige Institutionen sind. Es hat bitter lange gedauert, bis sich der Berufsstand kritisch geäußert hat. Und ich habe von tollen Institutionen wie dem Umweltbundesamt, Gesundheitsinstituten oder Universitäten bis heute zu wenig Allgemeinverständliches zu der existenziellen Frage der gesundheitlichen Beeinträchtigung durch Stickoxide gehört. Im Kern geht es ja darum, ob man Todesfälle aus statistischen Berechnungen herleiten kann. Das ist keine triviale Frage, aber auf dieser Annahme basiert die Umwelttoxikologie seit Jahren.
Wie haben Sie das Agieren der Bundesregierung wahrgenommen?
Sie hat mich enttäuscht. Dass Andreas Scheuer sich die Thesen zu eigen macht, weil sie in seine Agenda passen, ist das eine. Aber ich wünsche mir Umweltministerin Schulze, Gesundheitsminister Spahn und Wissenschaftsministerin Karliczek mit lauten Stimmen in dieser Diskussion. Ihre Ministerien sind unmittelbar mit der Qualität ökologischer, gesundheitsmedizinischer und wissenschaftlicher Arbeit befasst.
Was können die, die die ökologische Transformation wollen, aus dem Lungenarzt-Skandal lernen?
Sie müssen in solchen Fällen fundiert, ruhig und freundlich dagegenhalten. Ich glaube, die Menschen erwarten heute, dass ihnen die Parteien bei ökologischen Themen reinen Wein einschenken. Die Leute sind ja nicht blöd. Sie beobachten auch, dass ihre Windschutzscheibe nach einer Autobahnfahrt sauberer bleibt, während früher tote Insekten daran klebten. Wer ökologische Politik will, muss den Leuten ehrlich sagen, dass ökologische und soziale Veränderungen Folgen haben. Er sollte es in einer verständlichen Sprache tun, mit einer klaren Priorisierung und nachvollziehbaren Umsetzungsschritten.
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