Veraltete Ess-Regeln in Kindergärten: „Da wird Druck aufs Kind ausgeübt“
Kinder zum Essen zu zwingen, ist unzulässig, sagt die Kita-Fortbilderin Bianca Hofmann. Sie verlernten so, auf ihr Sättigungsgefühl zu hören.
taz: Frau Hofmann, in einer Kita in Duderstadt bei Göttingen wurden zwei Betreuer freigestellt, die Kinder zum Essen gezwungen haben sollen. Warum darf man das nicht?
Bianca Hofmann: Aus rechtlichen Gründen und weil wir heute besser wissen, wie Kinder Essen lernen. Früher galt zum Essen zwingen als pädagogisch richtig. Aber heute wissen wir, dass Kindern durch das Probierenmüssen ein Lebensmittel auch verleidet wird, sodass sie es gar nicht mögen. Fast jeder hat etwas, was er gar nicht mehr mag, das er als Kind probieren musste. Bei mir ist es Rosenkohl. Probierenmüssen verfehlt seinen Zweck.
Ist das in Kitas noch üblich?
Früher sehr, inzwischen haben sich viele Kitas weiterentwickelt.
Zwei Betreuer einer katholischen Kinderkrippe im Kreis Göttingen sollen Kinder zum Essen gezwungen haben – auch mit Gewalt.
Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen sie, wie die Justizbehörde mitteilte. Der Vorwurf lautet auf Misshandlung Schutzbefohlener.
Träger der Kindertagesstätte ist die Katholische Pfarrgemeinde St. Georg in Duderstadt. Ein Sprecher des Bistums Hildesheim sagte am Montag, dass die zwei betroffenen Mitarbeiter für die Dauer der Ermittlungen freigestellt wurden.
Die Eltern der Kinder seien frühzeitig über die Vorwürfe informiert worden. Erst einmal sind in der Kita nun ohnehin drei Wochen Ferien. (dpa)
Und was heißt Probierlöffel?
Da wird eine Speise auf den Löffel gelegt, die das Kind nicht essen möchte. Und die Betreuer sagen: „Probier das und wenn du das probiert hast, dann kriegst du auch Nachtisch“ oder „Dann kriegst du noch das Fleisch“, also eine Speise, die das Kind sehr gerne mag. Aber damit wird Druck auf das Kind ausgeübt. Probiere ich jetzt nicht diese eine Sache, die ich gar nicht mag, bekomme ich ja auch nicht die tolle Sache, die ich gerne hätte.
Wie Nachtisch?
Eben. Und dieser Druck widerspricht den UN-Kinderrechten und unserem aktuellen Verständnis von Partizipation. Beteiligung der Kinder am Alltag heißt für jede Fachkraft, auch ein „Nein“ eines Kindes zu akzeptieren.
Wo steht das im Gesetz?
Ein „Nein“ des Kindes zu akzeptieren, ist Teil des aktiven Kinderschutzes. Das fußt auf dem Kinderbetreuungsgesetz (KibeG) von 2004 und findet sich auch in den Landesgesetzen. Im Bayrischen KibeG steht zum Beispiel, alle Kinder werden darin unterstützt, ihr Recht auf Selbstbestimmung in persönlichen Angelegenheiten wahrzunehmen.
Also den Löffel abzulehnen?
Ja. In Wirklichkeit probieren wir auf sieben Arten. Probieren ist nicht das In-den-Mund-Nehmen und Runterschlucken, sondern auch: Ich beschäftige mich mit einem Lebensmittel, ich koche vielleicht was damit, ich probiere auch mit den Augen. Sieht ein Lebensmittel nicht appetitlich aus, dann haben wir schon mit den Augen probiert und uns dadurch entschlossen, es nicht weiter über die anderen Sinne zu tun. Wir probieren auch mit der Nase durch den Geruch. Dieses Runterschlucken ist erst die letzte Stufe, das ist wenig bekannt.
Also ist die Mahnung „mit Essen spielt man nicht“ überholt?
Mit Essen spielen ist für die Kinder wichtig. So können sie etwas erst mit den Fingern fühlen, bevor sie es in den Mund nehmen. Unser Mund ist eins der sensibelsten Organe.
Usus ist auch, Kinder so lange sitzen zu lassen, bis ihr Teller leer ist. Ist das zulässig?
Das ist auch nicht erlaubt. Denn Kinder sollen in der Kita lernen, Essen als Genuss wahrzunehmen. Sie sollen auch unterscheiden: Habe ich Hunger? Habe ich Appetit, bin ich satt? Sie sollen Anzeichen von Sättigung erkennen. Das ist ganz wichtig und in den Bildungsplänen festgeschrieben. Und das wird damit ja unterlaufen. Also es ist heutzutage nicht in Ordnung, Kinder so lange sitzen zu lassen.
Aber genau das soll in vielen Kitas noch die Regel sein.
Da bin ich mir ziemlich sicher. Weil ich davon immer wieder in unseren Fortbildungen höre.
Sie machen genau zu dieser Frage Fortbildungen?
Ja. Es ist wichtig, zu wissen, wie Kinder Essen lernen. Zum Beispiel gibt es die Neophobie-Phase, da meiden Kleinkinder alle neuen Lebensmittel. Das dauert vielleicht ein halbes Jahr. Danach fangen die Kinder wieder an, etwas zu probieren. Wenn wir die missachten, dann missachten wir diese natürlichen Entwicklungsschritte der Kinder.
Wissen denn Kinder selbst, was sie essen müssen?
Ja, das ist untersucht. Alle haben immer dieses Bild vor Augen, dass die Kinder, wenn man sie ließe, nur noch Nudeln mit Soße und Pommes essen. Das stimmt nicht. Stellt man den Kindern eine gesunde Auswahl zur Verfügung, dann greifen sie automatisch zu dem, was ihr Körper auch gerade für die Entwicklung braucht. Und da kann es sein, dass ein Kind wochenlang viel Fleisch isst, weil der Körper das braucht. Und dieses Gefühl geht bei den Kindern kaputt, wenn sie lernen: Ich muss meinen Teller leer essen, vorher darf ich nicht aufstehen. Und das führt später bei Erwachsenen zu Fettleibigkeit. Manche hören nicht auf zu essen, bevor der Teller leer ist, weil sie Sattsein nicht merken.
Der aktuelle Fall bei Göttingen betraf eine Krippe. Gilt, was Sie sagen, auch für Kinder im Fütteralter?
Ja. Kinder, die man füttert, zeigen auch, dass sie satt sind. Die öffnen nicht mehr den Mund. Viele Erzieher sorgen sich, dass die Kinder schnell wieder Hunger haben. Da reicht aber ein Apfel bis zur nächsten Mahlzeit. Die Kinder essen in der Kita mit Frühstück, Mittag und Nachmittagssnack alle zwei, drei Stunden, die können nicht verhungern. Es lässt sich gut überbrücken, wenn ein Kind doch wieder Hunger hat.
Spielt hier auch der Personalmangel eine Rolle?
47, ist Inhaberin der Online-Fortbildungsakademie Praxis-Kita, Erzieherin, Fachkraft für Kleinkindpädagogik und Trainerin für Erwachsenenbildung.
Das ist ein Problem. Es kann sein, dass eine Fachkraft aus dem Wunsch heraus „Ich möchte jetzt schnell alle Kinder satt kriegen, damit schnell alle Kinder im Bett sind“, dem Kind Essen in den Mund schiebt, was nicht erlaubt ist. Nur hält man auch Personen, die nicht für den Beruf geeignet sind, um den Kita-Rechtsanspruch zu erfüllen.
Von Essenszwang hört man öfter. Was muss passieren?
Jede Kita braucht ein gutes Kinderschutzkonzept. In den meisten Bundesländern sind die Kitas dazu verpflichtet, ein solches Konzept zu haben, in dem auch ganz klar hinterlegt ist: „Wir zwingen kein Kind zum Essen.“ Dann brauchen wir in den Teams eine gute Gesprächskultur. Damit Kollegen, so ein Verhalten auch ansprechen können. Und die dritte Säule ist Fortbildung.
Wirkt auch noch die Sorge vor Hunger der Nachkriegszeit nach?
Sicher. Deswegen ist es wichtig, dass Fachkräfte auch ihre Erziehung reflektieren. Meistens geben wir weiter, was wir als Kind lernten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles