Urteil zum Vergessenwerden im Internet: Chance auf einen Neuanfang

Auch Straftäter können grundsätzlich das „Recht auf Vergessenwerden“ im Netz beanspruchen. Offen ist noch, was konkret von Medien verlangt wird.

Nahaufnahme einer kaputten Festplatte

Festplatte kaputt, Daten weg? So einfach ist das nicht immer Foto: Peter Stark/plainpicture

KARLSRUHE taz | Verurteilte Straftäter können nach „Zeitablauf“ eine Korrektur von Pressearchiven verlangen. Ihr Name muss dann zum Beispiel geschwärzt werden, um ihre Resozialisierung nicht zu gefährden. Dies entschied jetzt das Bundesverfassungsgericht und korrigierte damit den Bundesgerichtshof (BGH), der einen solchen Korrekturanspruch bisher ablehnte.

Konkret ging es um einen heute rund 80-Jährigen Mann, der 1981 auf der Segelyacht „Appolonia“ in der Südsee zwei Menschen getötet hat. Der Mann wurde ein Jahr später vom Landgericht Bremen zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Der Spiegel berichtete damals über den Mordprozess, die Berichte sind im Online-Archiv des Spiegels heute noch abrufbar. Wer den Namen des alten Mannes googelt, stößt zuerst auf die alten Berichte über die Gerichtsverhandlung. Das wollte der Ex-Segler, der nach 16-jähriger Haft 1997 entlassen wurde, verhindern.

Doch der BGH lehnte 2012 eine Korrektur des Spiegel-Archivs ab. Es gebe ein „anerkennenswertes Interesse der Öffentlichkeit“, zeitgeschichtliche Ereignisse auch anhand der unveränderten Medienberichte recherchieren zu können. Wenn alle „identifizierenden Darstellungen“ in Online-Archiven gelöscht werden müssten, dann werde „Geschichte getilgt“ und ein Straftäter „vollständig immunisiert“, argumentierte der BGH.

Dagegen legte der verurteilte Mörder Verfassungsbeschwerde ein – mit Erfolg. Sein Persönlichkeitsrecht habe hier Vorrang vor der Pressefreiheit, entschieden jetzt die Verfassungsrichter. Es bestehe eine hohe Wahrscheinlichkeit, „dass Freunde, Nachbarn und insbesondere auch neue Bekannte aus einem oberflächlichen Informationsinteresse heraus den Namen des Beschwerdeführers im Suchfeld einer Suchmaschine eingeben“.

Wenn gleich die frühere Straftat auftaucht, werde die „Wahrnehmung in seinem sozialen Umfeld nachhaltig hierdurch geprägt“. Es bestehe sogar die Gefahr, dass der Mann aus Angst, wieder mit seiner Vergangenheit konfrontiert zu werden, neue Bekanntschaften meidet. So werde die „Chance eines Neuanfangs“ nach der Haftentlassung nachhaltig behindert.

Nur nach ausdrücklicher Aufforderung

„Die Möglichkeit des Vergessens gehört zur Zeitlichkeit der Freiheit“, schreiben die Verfassungsrichter poetisch. Die Richter erkennen damit ein grundsätzliches „Recht auf Vergessenwerden“ an.

Allerdings müssen Medien nun nicht von sich aus ständig ihre Online-Archive prüfen, sondern nur nach ausdrücklicher Aufforderung durch Betroffene. Nach wie vielen Jahren ein Anspruch auf Korrektur besteht, hängt ganz von den Umständen des Einzelfalls ab. Ein Straftäter, der ein Buch über sein Leben schreibt, kann nicht gleichzeitig die Korrektur von Pressearchiven verlangen. Auch bei Taten im politischen Kontext, etwa den RAF-Morden, wird vermutlich anderes gelten als bei gewöhnlicher Kriminalität.

Das Urteil könnte auch Menschen zugute kommen, die in Skandale verwickelt waren. „Die Rechtsordnung muss davor schützen, dass sich eine Person frühere Positionen, Äußerungen und Handlungen unbegrenzt vor der Öffentlichkeit vorhalten lassen muss“, heißt es in dem Karlsruher Beschluss. Zunächst müssen die Medien eine Abwägung vornehmen, im Streitfall die Gerichte.

Noch offen, was von Medien verlangt wird

Offen ist noch, was konkret von Medien verlangt wird. Gegenüber einer Schwärzung von Namen könne es auch mildere Mittel geben, „die zumindest gegen die Auffindbarkeit der Berichte durch Suchmaschinen bei namensbezogenen Suchabfragen einen gewissen Schutz bieten“.

In einem zweiten Beschluss bestätigte das Verfassungsgericht ein Urteil des Oberlandesgerichts Celle von 2016. Dort ging es um die Suchmaschine Google. Eine Unternehmerin wollte verhindern, dass Google bei der Suche nach ihrem Namen einen Beitrag des NDR-Politmagazins „Panorama“ mit dem Titel „Kündigung: die fiesen Tricks der Arbeitgeber“ verlinkt.

In dieser Sendung hatte sie 2010 gerechtfertigt, dass ein Beschäftigter, der mit seinem Kind zwei Stunden zum Arzt wollte, dafür eine Woche Urlaub nehmen muss. Das OLG durfte damals dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und der Pressefreiheit des NDR Vorrang geben vor dem Persönlichkeitsrecht der Unternehmerin, entschieden jetzt die Verfassungsrichter. Der Panorama-Link musste nicht aus der Google-Trefferliste entfernt werden.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.