Urteil des obersten Gerichts: In bester britischer Justiztradition
Die Entscheidung der Richter zur Parlamentszwangspause in Großbritannien hält der Politik den Spiegel vor. Die Institutionen müssen sich neu ordnen.
![Ein Mann, der eine riesige Boris Johnson-Maske und Sträflingskleidung trägt, hält ein Schild, auf dem steht «Boris Johnson GUILTY» Ein Mann, der eine riesige Boris Johnson-Maske und Sträflingskleidung trägt, hält ein Schild, auf dem steht «Boris Johnson GUILTY»](https://taz.de/picture/3697437/14/23818953.jpeg)
S ie ist die neue Heldin Großbritanniens. Die Klimaschützer haben Greta Thunberg; die Hüter des Rechtsstaats haben jetzt Lady Hale, die Präsidentin des britischen obersten Gerichts. Das einstimmig ergangene Urteil gegen den Umgang von Premierminister Boris Johnson mit dem britischen Parlament schreibt nicht nur Rechtsgeschichte. Es könnte auch das Fundament für eine neue Verfassungsordnung im lädierten Vereinigten Königreich legen.
Jede Machtausübung hat Grenzen, und es ist Aufgabe der Gerichte, deren Einhaltung zu überwachen – das ist der Kern des Urteils, das die „Prorogation“ des Parlaments durch Johnson für „rechtswidrig, null und nichtig“ erklärt. Der Richterspruch baut auf allgemeinen Grundsätzen und klarer Logik auf, in der besten Tradition britischer Rechtsprechung und der vernunftgeleiteten Denkschule der Universität Cambridge, wo Brenda Hale – damals noch ohne Titel – vor über fünfzig Jahren die jahrgangsbeste Jurastudentin war. Es ist derzeit in Mode, über Großbritanniens Eliten zu schimpfen, die angeblich nur ihre Privilegien wahren wollen. An Lady Hale und an ihren Kollegen sieht man, was das Land an seinen Eliten hat. Ihr Auftritt ist dabei unscheinbar und geradlinig, das Gegenteil von Allüren und Potenzgehabe. Ihr beim Einzug ins Oberhaus gewähltes Wappen, ein gekrönter Frosch, passt dazu.
Das Urteil, betonte das Gericht, habe nichts mit dem Brexit zu tun. Aber die meisten Dinge, die der Brexit bewirkt, haben nichts mit dem Brexit zu tun. Der tiefere Sinn des britischen EU-Austritts besteht ja darin, dass er Großbritannien auf sich selbst zurückwirft und die politische Klasse dazu zwingen soll, die Probleme des Landes selbst zu lösen. Das wollten die Wähler vor drei Jahren, und das fordern die Brexit-Befürworter bis heute zu Recht ein. Boris Johnson hatte das, anders als Theresa May, erkannt – aber er wählte dafür die völlig falschen Mittel, nämlich Machtallüren und die Geringschätzung des Gegners.
Die Briten haben das Vertrauen in ihre Institutionen zwar längst verloren – aber umso weniger sind sie bereit, irgendeinem Politiker zuzujubeln, bloß weil die Rhetorik stimmt. Um Vertrauen zurückzugewinnen, müssen Großbritanniens Institutionen sich selbst neu ordnen. Dazu gehört mehr als nur der Brexit. Es bedarf einer föderalen Verfassungsordnung, wie sie mindestens seit dem gescheiterten schottischen Unabhängigkeitsreferendum von 2014 dringlich ist – ebenso eine klare Neudefinition der Gewaltenteilung, wie sie die obersten Richter jetzt in Umrissen skizzieren.
All das ist Zukunftsmusik. Vorerst blockiert nach wie vor der Niedergang des Bestehenden die Geburt des Neuen. Ein Premierminister, der sich selbst gegen die Wand fährt; ein Parlament, in dem es keine Mehrheit für irgendetwas gibt – aber immerhin jetzt eine Justiz, die den anderen den Spiegel vorhält. Gekrönte Frösche sind im Märchen Vorboten der Erlösung. Vielleicht auch in der Wirklichkeit.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Macrons Krisengipfel
Und Trump lacht sich eins
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
USA und Russland besetzen ihre Botschaften wieder regulär
Maßnahmenkatalog vor der Bundestagswahl
Grünen-Spitze will „Bildungswende“
Frieden in der Ukraine
Europa ist falsch aufgestellt
Die Neuen in der Linkspartei
Jung, links und entschlossen
Gentrifizierung in Großstädten
Meckern auf hohem Niveau