Untersuchungsausschuss zu Afghanistan: Kabul noch nicht ganz vergessen
Der Bundestag bringt den Untersuchungsausschuss zum desaströsen Truppenabzug aus Afghanistan auf den Weg. Der Linken geht er nicht weit genug.
„Sie haben sich für unsere Interessen und Werte eingesetzt. Jetzt werden sie im Stich gelassen“, sagt M. Einen Platz in deutschen Evakuierungsflügen haben seine Verwandten nämlich nicht bekommen. Die Bundesregierung lehnt ihre Aufnahme bis heute ab.
Wem hat Deutschland nach der Machtübernahme der Taliban geholfen, wem nicht, und wer hat nach welchen Kriterien entschieden? Das sind ein paar der Fragen, mit denen sich ab Herbst ein Untersuchungsausschuss im Bundestag beschäftigen wird. Der Einsetzungsantrag wird am Donnerstag erstmals im Plenum beraten, am 7. Juli steht er zur Abstimmung. Die parlamentarische Sommerpause wollen die Abgeordneten nutzen, um erste Regierungsakten zu studieren, so dass ab September die Ausschusssitzungen und Zeugenbefragungen starten können.
Schon im vergangenen Sommer hatten FDP und Grüne aus der Opposition heraus gefordert, den chaotischen Abzug aus Afghanistan parlamentarisch aufzuarbeiten. In den Koalitionsverhandlungen hielten sie daran fest, die SPD stimmte zu, die Union holte man schließlich auch noch ins Boot. Die Koalition hat den U-Ausschuss also mit der größten Oppositionsfraktion in die Wege geleitet – eine seltene Konstellation.
Ursprünglich sollte die Arbeit schon vor Monaten beginnen. Der Ukrainekrieg hat Afghanistan aber nicht nur aus der öffentlichen Aufmerksamkeit verdrängt, sondern auch die Kapazitäten der Abgeordneten in Beschlag genommen. Die Einigung auf den genauen Untersuchungsauftrag – acht Seiten lang, in 38 Punkte gegliedert – verzögerte sich.
Viele Fragen, enger Zeitraum
Neben dem Umgang mit den Ortskräften soll der Ausschuss unter anderem klären: Warum war die Bundesregierung vom Kollaps des afghanischen Staats so überrascht? Warum hielt sie fast bis zuletzt an Abschiebungen nach Afghanistan fest? Und welche Konsequenzen müssen für Bundeswehreinsätze in anderen Krisenregionen folgen?
Konzentrieren soll sich der Ausschuss auf den Zeitraum zwischen dem 29. Februar 2020 (als Donald Trump den Taliban in einem Abkommen auf eigene Faust den Abzug der US-Truppen zusagte) und dem 30. September 2021 (als das Mandat der deutschen Evakuierungsmission offiziell auslief). Nicht abgedeckt sind somit Auseinandersetzungen nicht anerkannter Ortskräfte mit deutschen Behörden, die sich bis heute hinziehen – so wie etwa im Fall der Verwandten von Sabur M.
Nach Ansicht von Ampel-Abgeordneten war die Einschränkung nötig, um den Rahmen eines U-Ausschusses nicht zu sprengen. Laut Ralf Stegner (SPD), der das Gremium leiten soll, wird die aktuelle Dimension des Themas trotzdem nicht untergehen. „Wir haben es nicht mit einem abgeschlossenen Vorgang zu tun. Es gibt Betroffene, die noch heute in großer Bedrängnis sind“, sagt er. „Ich bin mir sicher, dass wir der Frage sachgerecht nachgehen und dass uns die Akten und Zeugenbefragungen auch über den Untersuchungszeitraum hinaus Erkenntnisse liefern werden.“
In den Augen der Linkspartei ist dagegen nicht nur der Zeitraum, sondern auch der Untersuchungsauftrag zu eng gefasst. „Es ist der verbrecherische, 20 Jahre lange Krieg der Nato in Afghanistan, der nach einer parlamentarischen Untersuchung verlangt“, sagt die Abgeordnete Sevim Dağdelen. „Die enormen Kosten des Krieges mit laut Uppsala Conflict Data Program über 200.000 getöteten Afghanen und Millionen Flüchtlingen dürfen nicht unter den Tisch gekehrt werden, die unzähligen Drohnenmorde und anderen Kriegsverbrechen gerade auch engster Verbündeter rufen geradezu nach Aufklärung.“ Das sei der Bundestag den Menschen in Afghanistan, den Opfern des Krieges und den zu Tode gekommenen Bundeswehrsoldaten schuldig.
Zweites Gremium in Vorbereitung
Komplett ignorieren wollen Koalition und Union die 20 Jahre vor dem Abzug allerdings auch nicht: Neben dem Untersuchungsausschuss soll der Bundestag am 7. Juli auch noch eine Enquete-Kommission beschließen. Abgeordnete und externe Expert*innen sollen in dem Gremium den gesamten Bundeswehreinsatz reflektieren und Lehren für künftige Konflikte formulieren. Unter Leitung des ehemaligen Berliner Bürgermeisters Michael Müller (SPD) soll dieses Gremium die Arbeit ebenfalls nach der Sommerpause aufnehmen.
Zu klären ist bis zu den Einsetzungsbeschlüssen aber noch, wie sich die Gremien genau zusammensetzen werden. Die Linksfraktion, seit der Bundestagswahl geschrumpft, diskutiert zum Beispiel noch, welche Abgeordneten sie in den arbeitsintensiven Untersuchungsausschuss schicken wird. Andere Fraktionen haben zum Teil noch nicht geklärt, welche externen Expert*innen sie für die Enquete-Kommission nominieren.
Klarheit gibt es zumindest schon bei der SPD, die ein breites Spektrum in das Gremium holen will: Mit Hans-Joachim Giessmann und Ursula Schröder hat sie zwei Wissenschaftler*innen aus der Friedens- und Konfliktforschung eingeladen; mit André Wüstner kommt der Vorsitzende des Bundeswehrverbands hinzu. Ihre Arbeit in der Enquete-Kommission könnte sich bis ins Jahr 2025 hinziehen. Spätestens zum Ende der Legislaturperiode muss dann der Abschlussbericht vorliegen. Der Untersuchungsausschuss muss auch vor der nächsten Wahl fertig werden, wird den Zeitraum erfahrungsgemäß aber nicht ganz ausreizen.
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