Unfallexperte über E-Scooter: „Das war das Risiko nicht wert“

Dass vor allem Touristen die E-Scooter nutzen, sei nicht der Sinn des neuen Mobilitätsangebots, sagt der Unfallforscher Siegfried Brockmann.

Zwei Personen fahren gemeinsam gleichzeitig auf einem E-Tretroller

Eigentlich verboten: die Nutzung eines E-Scooters zu zweit Foto: Jens Kalaene/dpa

taz: Herr Brockmann, seit einem Monat rollen die E-Scooter durch Berlin. Haben sich Ihre Vorhersagen erfüllt?

Siegfried Brockmann: Zu 100 Prozent. Ich wundere mich eigentlich, dass sich noch jemand wundert.

Wie meinen Sie das?

Plötzlich ist eine gesellschaftliche Diskussion darüber ausgebrochen, dass es Unfälle gibt, dass Scooter im Weg herumstehen, dass Fußgänger behindert werden. All das war 100-prozentig abzusehen. Das Einzige, was ich nicht erwarte habe, ist, dass vor allem Touristen das Ding benutzen.

Man sieht auch Berliner damit.

Eingeführt worden sind die ­E-Scooter aber nicht zur Vergnügung, sondern um einen besseren Mobilitätsmix zu ermöglichen: damit man das Auto stehen lässt und mit dem Scooter zum S-Bahnhof oder zur Bushaltestelle fährt. Dass jetzt Touristen vom Brandenburger Tor zum Alexanderplatz nicht mehr laufen, sondern mit dem Scooter fahren – ehrlich gesagt, das war das Risiko nicht wert.

60, hat Politologie studiert. Seit 2006 leitet er das Institut für Unfallforschung des Gesamtverbands der deutschen Versiche­rungswirtschaft (GDV).

Wer sind die Leidtragenden?

Die Rollerfahrer gefährden sich selbst, auch wenn sie zu zweit auf einem Ding fahren, was ich oft gesehen habe. Richtig gefährlich sind die Dinger auf dem Bürgersteig aber für die Senioren. Ein Sturz kann bei ihnen schnell zu sehr schweren Verletzungen führen.

Die Medien haben bereits über Unfälle berichtet. Gibt es schon eine Unfallstatistik?

Es gibt keine seriösen Erhebungen. Die Frage ist doch: Ist das überproportional und wie spielt sich das ein? Sehr viele probieren die Scooter zurzeit einfach mal aus. Das kann sich auch wieder nivellieren. Letztlich entscheidend ist für den Unfallforscher das Verhältnis zu den gefahrenen Kilometern. Und die gefahrenen Kilometer kenne ich im Moment noch gar nicht. Außerdem kann sich da noch erheblich etwas verändern. Denn eines haben wir hier fast noch gar nicht: Scooter in privater Hand.

Es gibt Zahlen aus den USA: Auf 100.000 Kilometern gab es zwölf verletzte Scooter-Fahrer. Beim Auto kam ein Unfall auf 250.000 Kilometer.

Das kann man nicht übertragen. Wenn, müsste man das mit dem Fahrrad und dem Motorrad vergleichen, weil einspurige Fahrzeuge ein ganz anderes Problem darstellen, zumal noch ein ungeschützter Verkehrsteilnehmer obendrauf sitzt. Wenn der stürzt, gibt es gleich einen Verletzten. Die USA sind für uns aber auch deshalb kein Vergleichsmarkt, weil dort viel weniger Fußgänger unterwegs sind.

Was ist für einen Fußgänger gefährlicher: die Kollision mit einem Scooter oder einem Rad?

Beides birgt Risiken. Die Frage ist aber eher: Wie häufig wird das vorkommen? Wenn meine Prognose zutrifft, werden Scooter weiterhin trotz Verbots auf dem Bürgersteig unterwegs sein. Der Radfahrer ist dort zwar leider auch, aber hoffentlich nur gelegentlich, weil er dort zu langsam vorwärtskommt. Beim Aufprall selbst ist weniger das Gewicht des Fahrzeugs entscheidend als die gefahrene Geschwindigkeit. Die maximale Geschwindigkeit beim Scooter sind 20 Stundenkilometer. Da habe ich die Hoffnung, dass die auf dem Gehweg nicht voll ausgereizt wird. Ein Fahrrad schafft ohne Weiteres 25 bis 30 km/h. Stürze vom Fahrrad sind tendenziell schwerer, weil die Fallhöhe größer ist.

Viele Radfahrer werden bei sogenannten Alleinunfällen verletzt. Ist das auch bei Scootern zu erwarten?

Ja. Aber wie beim Fahrrad wird es auch dort eine große Dunkelziffer geben. Alles, was nur mit Hautabschürfungen verbunden ist, werden wir in der Statistik nicht sehen.

Würden Sie als Unfallforscher die Scooter am liebsten wieder aus dem Verkehr verbannen?

Siegfried Brockmann und sein Team haben das erste Einsatzjahr der Fahrradstaffel der Polizei evaluiert. Die aus 20 Beamtinnen und Beamten bestehende Einheit wurde im Juli 2014 eingeführt. Seither wird die Staffel im Bezirk Mitte (City Ost) eingesetzt. Im Juni 2019 wurde das Einsatzgebiet auf von Radfahrern stark frequentierte Örtlichkeiten in Friedrichshain-Kreuzberg ausgeweitet: Frankfurter Tor, Kottbusser Tor, Moritzplatz, Am Oberbaum/Mühlenstraße/Warschauer Straße/Stralauer Allee. Eine sukzessive räumliche und personelle Ausweitung ist in den kommenden Jahren geplant. Das sei aber Gegenstand noch andauernder Haushaltsverhandlungen, so die Polizei. (plu)

Das wird nicht funktionieren. Gucken Sie nach London, wo es gerade einen tödlichen Unfall gab: Dort sind die Roller gar nicht erlaubt. Aber es gibt sie trotzdem. Deswegen fand ich es richtig, das gesetzlich so zu kanalisieren, dass es überhaupt Regeln gibt, von denen wir glauben, dass sie einigermaßen funktionieren – immer vor dem Hintergrund, dass die Roller eine sinnvolle Ergänzung im Mobilitätsmix sind.

Und wenn das nicht so ist?

Dann müssen wir intervenieren. Im Entwurf des Bundesverkehrsministeriums waren ja ein Mindestalter von 15 Jahren und eine Prüfbescheinigung vorgesehen. Das ist unter anderem gekippt worden, weil man gesagt hat, ein Tourist hat vielleicht keine Prüfbescheinigung.

Wofür plädieren Sie?

Mein Rat ist, ruhig zu bleiben. Wir brauchen einen längeren Zeitraum, um das Risiko richtig zu ermessen, und der ist mindestens ein Jahr. Wenn wir wirklich feststellen, es gibt sehr viele Unfälle, auch gemessen an den gefahrenen Kilometern – falls wir die herausbekommen, dafür müssten ja die Scooterverleiher kooperieren –, muss man nach­steuern. Wenn es viele schwere Kopfverletzungen gibt, wird man auch über eine Helmpflicht nachdenken müssen.

Was könnte gegen das wilde Abstellen und Fahren auf dem Bürgersteig getan werden?

Da sind Ordnungsamt und Polizei gefordert. Und genau das erwartete ich jetzt auch. Beim Scooterfahrer darf sich nicht das Gefühl einschleichen, dass das sowieso nicht verfolgt wird. Das ist jetzt eine ganz heikle Phase. Wenn erst mal jeder das Gefühl hat, ich kann machen, was ich will, kriegen wir das nie wieder zurückgedreht.

Sie haben seinerzeit die Einführung der Polizei-Fahrradstaffel wissenschaftlich begleitet. Brauchen wir jetzt eine Scooter-Polizei?

Nein, die Fahrradstaffel ist das Mittel der Wahl, aber sie ist eindeutig unterbesetzt. Die Politik hatte nach unserer Evaluation versprochen, dass die Fahrradpolizei aufgestockt und über die Innenstadt hin­aus ausgeweitet wird. Das ist jetzt mehr denn je nötig – auch um renitente Rollerfahrer zu verfolgen in Bereiche, wo Autos nicht hinkommen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.