Umweltjurist über Klima-Urteile: „Gerechtigkeit ist ein logisches Mittel“
Weltweit wird vor Gericht um Klimaschutz gerungen. Hermann Ott erklärt, warum Klimaklagen zunehmen und wie man Kohlekraft verhindert.
wochentaz: Herr Ott, bei einem Verkehrsunfall findet man leicht heraus, wer Schuld hat. Lässt sich auch die Schuldfrage der Klimakrise juristisch klären?
Hermann Ott: Tatsächlich haben Wissenschaft und Technik einhundert Jahre gebraucht, bis wir zu exakten Ergebnissen gekommen sind, um die Schuldfrage bei Verkehrsunfällen zu klären. Was die Schuld am Klimawandel betrifft, war die Wissenschaft schneller – sie ist ein Ergebnis des Menschen und seiner Maschinen. Recht ist ein Mittel, Fehlverhalten in einer Gesellschaft zu korrigieren. Grundlage dafür sind die Gesetze. Wir verstehen mittlerweile immer besser, wie einzelne Extremereignisse dem Klimawandel zuzuordnen sind. Also ist es doch logisch, gegen dieses Fehlverhalten juristisch vorzugehen.
Einige Expert:innen halten Klagen für den entscheidenden Motor des klimapolitischen Fortschritts in diesem Jahrzehnt. Gerade in einer Zeit, in der die Klimabewegung wenig Aufwind hat, gilt vielen die Klimaklage jetzt als letzter Strohhalm für Veränderung. Ist das berechtigt?
Ich halte nichts davon, dem Rechtsweg alle Hoffnungen anzuvertrauen. Große Demos, ziviler Ungehorsam und der Klageweg sind allesamt Möglichkeiten, Staat und Wirtschaft zu mehr Klimaschutz zu bringen. Motor der Veränderung ist jedoch immer die Zivilgesellschaft, von den Bürgerinnen und Bürgern muss der Wille zum Wandel kommen. Aber natürlich: Das Schwert der Gerechtigkeit ist auch beim Klimawandel ein logisches Mittel, gegen die Ungerechtigkeit vorzugehen, dass einige mit der Aufheizung der Atmosphäre Milliardengewinne machen.
Ist das immer so einfach zu sagen: Hier hört die Verantwortung der Politiker:innen auf, da fängt die Verantwortung der Richter:innen an?
Auch das wird ja vor Gericht mitverhandelt. Es gab ja grundsätzliche Urteile, in denen die Politik in die Pflicht genommen wurde. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat gerade die Schweiz wegen Verletzung der Menschenrechtskonvention zu mehr Klimaschutz verdonnert. Geklagt hatte eine Gruppe Schweizer Seniorinnen. Und manchmal sagen die Gerichte auch, das sei nicht ihre Zuständigkeit.
ist Jurist mit dem Schwerpunkt Klima- und Umweltschutz. Von 2009 bis 2013 saß er für die Grünen im Bundestag und war dort klimapolitischer Sprecher. Seit 2016 ist Ott Honorarprofessor an der Hochschule Eberswalde, ab 2018 baute er zudem die deutsche Sektion der Umweltrechtsorganisation ClientEarth auf, deren Berliner Büro er bis Mitte 2024 leitete.
Zum Beispiel?
Im Jahr 2021 und 2022 haben mehrere Umweltorganisationen deutsche Autobauer verklagt. Sie argumentierten, dass wegen der Klimakrise nach 2030 keine Personenkraftwagen mit Verbrennungsmotor mehr verkauft werden dürften. Die Gerichte lehnten diese Klagen als „unbegründet“ ab. Nicht weil sie das Problem nicht sahen. Sondern weil für derartige Fragestellungen der Gesetzgeber verantwortlich ist.
Prozesse sind ein beliebtes Setting für Filme, Artikel und Podcasts – es gibt Gegner, Gewinner und Verlierer. Geht es bei den Verfahren eher um die öffentliche Aufmerksamkeit als ums Gewinnen an sich?
Selbst Prozesse, die man verliert, können etwas bewegen. Aber wir gewinnen auch! In Polen hat ClientEarth zum Beispiel ein Kohlekraftwerk verhindert. Die Organisation hatte Aktien eines Energiekonzerns gekauft, das berechtigte uns, an der Hauptversammlung teilzunehmen. Dort haben wir den Antrag gestellt, ein geplantes Kohlekraftwerk nicht zu bauen.
Dieser Antrag wurde wie erwartet abgelehnt, weil die große Mehrheit der institutionellen Anleger das Projekt wollten. 80 Prozent der unabhängigen Kleinanleger waren aber gegen den Bau, und so sind wir gegen das eigene Unternehmen vor Gericht gezogen. Unser Argument war der Investorenschutz: Wenn dieses Kohlekraftwerk gebaut wird, dann versenkt der Vorstand unser Geld. Schließlich belegen alle Studien, dass ein Kohlekraftwerk nicht mehr so lange am Netz sein kann, dass sich die Investition amortisiert. Statt eines Kohlekraftwerks wurde dann auf Gas umgesattelt.
Gerade wurde die Bundesregierung nach einer Klage der Deutschen Umwelthilfe verurteilt, ihr Klimaschutzprogramm zu überarbeiten. Das Gericht sagt, die bisherigen Maßnahmen reichen nicht aus. Dagegen ist Klimaschutzminister Robert Habeck in Berufung gegangen. Sie waren selbst mal Bundestagsabgeordneter für die Grünen, klimapolitischer Sprecher der Fraktion: Welches Signal sendet Habeck?
Ich hätte ihm dringend von einer Revision abgeraten. Dass zuletzt das Klimaschutzgesetz abgeschwächt wurde, ist ja auf Betreiben der FDP geschehen. Die Sektorenziele wurden gestrichen, das Herzstück des Gesetzes: Nach der bisherigen Gesetzeslage musste jeder Bereich – Verkehr, Gebäude, Industrie, Landwirtschaft und so weiter – bestimmte Treibhausgasmengen reduzieren.
Dafür hatten die Umweltbewegung und auch die Wissenschaft lange gekämpft, weil so die Verantwortung innerhalb des Kabinetts nicht mehr zwischen den einzelnen Ministerien hin- und hergeschoben werden kann. Ich vermute mal, Habecks Strategie hinter der Berufung war, für größere Wählerschichten akzeptabel zu sein. Ein Tempolimit war ja durchaus greifbar nahe als Maßnahme eines Sofortprogramms im Verkehr.
Das Urteil gegen die Bundesregierung könnte tatsächlich deutsche Politik verändern: Die Richter:innen haben einen Fehlbetrag von 200 Millionen Tonnen Treibhausgas festgestellt und die Bundesregierung verurteilt, dafür neue Gesetze vorzulegen. Können Gerichte doch bessere Politik machen?
Ein klares Jein! Auf der einen Seite Ja, weil Gerichte einem anderen Wertesystem unterliegen. Die juristische Logik unterliegt nicht in demselben Maße der Verwertungslogik wie der Rest unseres kapitalistischen Systems …
… das müssen Sie erläutern!
Ein Beispiel ist das Bundesverfassungsgericht, das 2021 quasi mit einem kleinen Nebensatz eines der Hauptargumente, das immer aus der ökonomischen Ecke kommt, zunichte gemacht hat: Deutschland sei ja „nur“ für 2 Prozent der weltweiten Emissionen verantwortlich. Dagegen hatte das Bundesverfassungsgericht geurteilt: Völlig egal, wie groß der Beitrag ist, die Regierung hat eine Rechtspflicht zur Vorsorge, also zum Klimaschutz. Damit hat das Gericht diese jahrzehntelange Diskussion einfach weggewischt. Gerichte können eher von ökonomischen Erwägungen absehen als das politische Establishment.
Das war jetzt der Ja-Teil vom Jein.
Die andere Seite sehen wir an der Entwicklung beim Klimaschutzgesetz: Um unbeliebte Urteile zu umgehen, schreibt sich die Politik einfach ein neues Gesetz. Oder sie ignoriert das Urteil, wie gerade in der Schweiz, wo die Regierung angekündigt hat, ein Urteil des europäischen Menschenrechtsgerichtshofs nicht anzuerkennen. Die Justiz selbst hat keine Machtmittel, um die Umsetzung eines Urteils gegen Regierungen zu erzwingen. Gerichte können Entwicklungen beschleunigen, sie können Entwicklung in Gang setzen. Aber sie können die politische Ebene nicht ersetzen – und das soll in einer Demokratie ja auch so sein.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Es heißt, der Klimawandel sei das Systemversagen des Kapitalismus. Mit den Klimaklagen bewegen sich die Akteure aber innerhalb des Systems. Können Klimaklagen also das System ändern?
Das ist die Gretchenfrage! Ich glaube, wir müssen insgesamt radikaler werden, also anerkennen, dass innerhalb dieses ökonomischen Systems ohne größere Veränderungen kein wirklicher Klimaschutz erfolgen kann. Es ist ja nicht damit getan, dass wir alles mit erneuerbaren Energien machen, denn der Ressourcenverbrauch, etwa die Vernichtung der Biodiversität, würden weitergehen. Wir müssen anerkennen, dass in einem endlichen System kein unendliches Wachstum möglich ist.
Wo wir bei den großen Fragen sind: Kann ein Umweltverbrechen ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit sein?
Im Völkerstrafrecht wird seit langem der Begriff des Ökozids diskutiert. Beispielsweise haben indigene Gruppen aus Brasilien den ehemaligen Präsidenten Bolsonaro vor dem Internationalen Strafgerichtshof verklagt, weil er die Abholzung der Regenwälder gefördert hat. Dies sei ein Ökozid, in der Wirkung vergleichbar mit kriegerischen Aggressionen. Der Internationale Strafgerichtshof ist noch nicht dazu gekommen, sich mit der Klage zu befassen. Aber ich meine, auch Regierungschef:innen sollten wegen großer Umweltverbrechen strafrechtlich verfolgt werden können.
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