Umgehung von Russland-Sanktionen: Tödliche Mikrochips
Um seine Raketen zu bauen, braucht Russland westliche Komponenten. Die gelangen trotz Sanktionen in das Land – und stammen auch aus Deutschland.
A ls Russland am 24. Februar 2022 seine großangelegte Invasion in die Ukraine beginnt, sind es vor allem Iskander-Raketen, mit denen sich die russischen Streitkräfte den Weg freischießen. Unter Militärexperten gehören die Raketen zu den effektivsten Waffen ihrer Art.
Im November 2022, ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn, erklärt der ukrainische Verteidigungsminister, Russland habe den Großteil seiner Iskander-Raketen verschossen. Zwei Jahre später hat Russland die Produktion offenbar wieder hochgefahren. Im Dezember 2024 heißt es aus der Ukraine, Russland produziere mittlerweile schätzungsweise 50 Iskander-Raketen im Monat, und auch der Vorrat an anderen Raketentypen sei aufgebaut.
Der russischen Industrie gelingt das auch dank westlicher Komponenten, die eigentlich nicht nach Russland gelangen dürften. 15 Sanktionspakete hat die EU mittlerweile verabschiedet. Russische Privatpersonen sind genauso sanktioniert wie die Einfuhr bestimmter Waren oder der Handel mit russischen Unternehmen. Doch so weitreichend die Sanktionen sind, so löchrig ist stellenweise ihre Durchsetzung. Westliche Ware landet weiterhin in Russland und Belarus – über verworrene Lieferketten, über Drittstaaten oder über Schmuggel.
Wie genau das funktioniert, lässt sich an dem staatlichen belarussischen Unternehmen Integral nachzeichnen. In einer wochenlangen Recherche haben Journalist*innen des unabhängigen Belarusian Investigative Center (BIC) die Lieferwege wichtiger Komponenten nachvollzogen. In Zusammenarbeit mit der taz und anderen Medienpartnern veröffentlicht das BIC nun seine Erkenntnisse: Deutsche Unternehmen liefern demnach weiterhin über Zwischenhändler an das Unternehmen Integral, das Kunden aus der russischen Rüstungsindustrie bedient. Die deutschen Unternehmen verstoßen damit wahrscheinlich gegen Sanktionen und verdienen indirekt am Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Das Belarusian Investigative Center (BIC) untersucht Korruption und deckt Fake News auf. Das BIC ist Mitglied im Global Investigative Journalism Network (GIJN) sowie beim OCCRP (Organized Crime and Corruption Reporting Project).
Ziel des BIC ist eine unabhängige und unvoreingenommene Berichterstattung über Ereignisse in Belarus und den Nachbarländern. Ihre Journalist*innen wurden mehrfach mit dem nationalen Preis „Free Word“ der Vereinigung der Journalisten von Belarus ausgezeichnet. 2021 sah sich das Team gezwungen, Belarus zu verlassen. Das BIC sitzt seitdem in Warschau.
Für die vorliegende Recherche hat das BIC wochenlang recherchiert, gemeinsam mit dem OCCRP. Veröffentlicht werden die Erkenntnisse nun in Zusammenarbeit mit der taz und weiteren Medienpartner.
Elektronik für die russische Rüstungsindustrie
Das belarussische Unternehmen Integral stellt Schaltkreise, Halbleiter und Mikroelektronik her. Seinen Sitz hat es in Minsk, in China und Indien hat es Niederlassungen. Mikrochips von Integral finden sich vor allem in Medizintechnik – und in russischen Raketen.
Integral liefert die Technik, die Russland dringend braucht – und fertigt sie mit Hilfe europäischer Maschinen und Wertstoffe. Die Geräte, mit denen Integral arbeitet, stammen aus Deutschland, England und der Schweiz. Die Salzsäure zur Produktion von Mikrochips wird von einem Münchner Unternehmen hergestellt und von einem Unternehmen aus Nordrhein-Westfalen geliefert. Das Unternehmen aus NRW bestreitet den Vorwurf, das aus München prüft nun den Fall.
Salzsäure zählt zu den Dual-Use Gütern – Güter, die zivil und militärisch genutzt werden können. Der Export von Salzsäure nach Russland und Belarus ist von der EU sanktioniert. Das Unternehmen Integral selbst ist von den USA sanktioniert, von der EU aber nicht.
Der Ukrainer Serhii Beskrestnov ist Elektronik- und Waffenexperte. Auf seinem Telegram-Account postet er mehrmals täglich Beiträge zum Krieg in der Ukraine. „Flash“ nennt er sich dort, 108.000 Follower hat sein Kanal. Im Oktober 2023 nimmt er das Bordcomputermodul Zarya-61M einer Iskander-Rakete auseinander. Alles sei veraltet und riesig, schreibt er. Aber: „Es fliegt, es tötet.“
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Technik der Firma Integral in russischen Iskander-Raketen
Wer die Fotos von Beskrestnov genau betrachtet, der entdeckt auf den Mikrochips einen kleinen Blitz oder den russischen Buchstaben ‚И‘ – das Logo des staatlichen belarussischen Unternehmens Integral.
Integral hat zwischen März 2022 und Juni 2024 mehr als sechs Millionen Mikrochips im Wert von mehr als 130 Millionen US-Dollar nach Russland geliefert. Integral ist damit für einen Großteil der belarussischen Chip-Lieferungen an Russland verantwortlich. Das geht aus Zolldaten hervor, die BIC und der taz vorliegen.
Seit Beginn des russischen Einmarschs in die Ukraine haben sich die Einnahmen von Integral vervielfacht: Im Jahr 2023 stieg der Nettogewinn des Unternehmens auf fast 150 Millionen belarussische Rubel (43 Millionen Euro). Das ist viermal so viel wie 2022, und 40 mal so viel wie im Jahr 2021.
Integral liefert seine Mikrochips seit März 2022 vor allem an das russische Unternehmen AO Integral-Zapad, das in der Vergangenheit mit dem russischen Verteidigungsministerium zusammengearbeitet hat. Ein zweiter wichtiger Abnehmer von Integrals Mikorchips ist seine Tochtergesellschaft in St. Petersburg. Deren CEO hat offen erklärt, dass die russische Rüstungsindustrie einer seiner Hauptkunden ist.
Integral fertigt mit Hilfe europäischen Materials
In den Entwicklungs- und Produktionsstätten von Integral wird mit westlicher Ausrüstung gearbeitet. Zu sehen ist das in einem Fernseh-Bericht aus dem Jahr 2024. Die Qualität der Chips wird unter deutschen Axiotron-Mikroskopen von Carl Zeiss kontrolliert. Vakuumsysteme der britischen Firma Edwards und der Schweizer Firma VAT Vakuumventile AG halten den Produktionsprozess steril.
Auch die Rohstoffe, die Integral verarbeitet, importiert das Unternehmen aus Europa – vorbei an den Sanktionen. Eine wichtige Materialie für Integral ist hochreine Salzsäure, auch bekannt als Chlorwasserstoff. Die Salzsäure wird zur Behandlung von Halbleiterwafern, also Grundplatten für elektronische Bauelemente, verwendet – um sie perfekt sauber und glatt zu bekommen. Die geringste Verunreinigung der Wafer kann die Qualität mindern.
Im Jahr 2021 hat das deutsche Unternehmen UrSeCo Handels GmbH & Co. KG Salzsäure mit einer Reinheit von 99,999 % direkt an Integral geliefert. UrSeCo steht für Ural Service Company. Die Firma wurde 1991 in Düsseldorf gegründet, offiziell als deutsche Vertretung von Chemie-Werken aus Russland und Kasachstan. Heute sitzt sie in Ratingen und hat sich auf die Lieferung von Chemikalien spezialisiert.
Der Chlorwasserstoff kommt weiterhin aus Deutschland
Im Jahr 2022, als die EU den Import von Chemikalien nach Russland verboten hat, änderte UrSeCo seine Lieferkette, wie Recherchen des BIC ergeben. Anstatt direkt nach Belarus, verschickt UrSeCo seine Lieferungen nun über Polen und die Türkei nach Kasachstan. Dort landet die Ware bei einem lokalen Unternehmen, der United Trading Group. Das geht aus internen Zolldaten hervor.
Hinter der United Trading Group verbirgt sich ein Unternehmen mit nur einem Mitarbeiter. Es wurde wenige Wochen nach Ausbruch des Krieges gegründet. In einer Broschüre der Außenhandelskammer Zentralasien von 2024 wird die United Trading Group als „eigene Vertretung“ der deutschen UrSeCo bezeichnet, ein Firmenvertreter von UrSeCo ist unter einer Mailadresse der United Trading Group zu erreichen.
Am 9. Juni 2022 lieferte die UrSeCo 860 Kilogramm hochreine Salzsäure, hergestellt von der deutschen Wacker Chemie AG, an die kasachische Einmann-Firma United Trading Group. Im selben Monat lieferte die United Trading Group eine Sendung derselben in Deutschland hergestellten Substanz mit genau demselben Gewicht an das russische Unternehmen Elektrosnab. Elektrosnab belieferte Integral bis Ende 2023 mit deutscher Säure.
Mit neuen Sanktionen tauchen neue Zwischenhändler auf
Im Juli 2024 verhängte die EU Sanktionen, die die Lieferung deutscher Säure nicht nur nach Russland, sondern auch nach Belarus untersagten. Etwa zeitgleich erhält die belarussische Firma Integral eine Säure-Lieferung von einem russischen Unternehmen. Das ist wohl kein Zufall: Das russische Unternehmen hat Verbindungen zum deutschen UrSeCo.
Das russische Unternehmen heißt Siltron und wurde weniger als drei Monate nach dem Überfall auf die Ukraine gegründet. Es steht in direktem Zusammenhang mit dem deutschen Lieferanten UrSeCo. Mitglieder derselben Familie halten jeweils Anteile an beiden Unternehmen.
Im Juli liefert Siltron erst 100 Kilogramm und später 150 Kilogramm Salzsäure über einen Zwischenhändler an Integral. Im September 2024 noch einmal direkt an Integral.
Siltron weist die Vorwürfe zurück. Auf Anfrage des BIC erklärte das Unternehmen, es habe „nie Chlorwasserstoff aus EU-Ländern importiert“, sondern produziere die hochreine Salzsäure selbst. „Unsere Produktion befindet sich in der Region Nischni Nowgorod.“
Auch UrSeCo wies auf Anfrage des BIC die Vorwürfe zurück und erklärte: „Wir arbeiten ausschließlich in Übereinstimmung mit der internationalen und nationalen Gesetzgebung und haben alle Geschäfte mit Belarus eingestellt.“
Wacker Chemie will den konkreten Fall nun prüfen und erklärte gegenüber der taz: „Das von Ihnen genannte Unternehmen ist bislang als deutscher Abnehmer noch nicht kritisch eingestuft worden und steht auf keiner Sanktionsliste.“ Man habe jegliche Geschäftsaktivitäten mit dem Unternehmen vorsorglich gesperrt. Geschäftsaktivitäten mit Belarus und Russland habe man bereits im Februar 2022 eingestellt.
Deutsche Motoren und Ersatzteile werden weiter gehandelt
Salzsäure ist ein Beispiel dafür, wie Integral weiterhin sanktionierte Materialien einkauft. Ein weiteres sind Motoren und Ersatzteile des deutschen Maschinenbauunternehmens Motorenwerke Mannheim (MWM), heute Caterpillar Energy Solutions. Deren Motoren gewährleisten die Stromversorgung für die Produktion von Mikrochips. Seit 2022 ist es verboten, Motoren aus der EU nach Belarus und Russland zu exportieren. Mit Hilfe von Zwischenhändlern gelangen die Motoren aber weiterhin in die Region.
Das Unternehmen erklärte auf Anfrage, Caterpillar verpflichte sich, im Einklang mit den in seinem Verhaltenskodex dargelegten Werten zu handeln: „Dazu gehört, dass wir unsere Geschäfte im Rahmen der geltenden Sanktionen, Gesetze und Vorschriften der Länder führen, in denen wir tätig sind.“
Im Frühjahr 2024 kauft Integral mehrfach Ersatzteile für MWM-Motoren über Zwischenhändler in Belarus. Spricht man verdeckt mit diesen Zwischenhändlern, machen die keinen Hehl daraus, wie sie die Sanktionen umgehen. „Sanktionen sind kein Thema“, sagt ein hochrangiger Mitarbeiter einer der Firmen. Sein Unternehmen betreibe eine Tochterfirma in Polen, die den Kauf von Waren erleichtere. Die Waren würden von Polen nach Belarus, Russland und in andere Länder geschickt. Auch der Mitarbeiter eines zweiten Zwischenhändlers betont, wie problemlos er liefern könne, dank der Sanktionsumgehung: „Wir werden die Ware schnell liefern“, sagt er. „Sie wird über Kirgisistan gehen.“
Russland kaufe westliche Komponenten nicht nur, um sie einzusetzen, sondern auch, um sie nachzubauen, sagt der ukrainische Luftfahrtexperte Anatolii Khrapchynskyi: „Russland kopiert westliche Elemente. Sie werden auseinandergenommen, Schicht für Schicht, auf ihre Funktionsweise hin untersucht und nachgebaut.“
Re-Engineering heißt dieses Konzept – und es scheint, Russland hat es perfektioniert.
(Anm. d. Red.: Am 28.01. um 14 Uhr haben wir den Text um eine Stellungnahme von Wacker Chemie ergänzt.)
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