Überschwemmungen in Indien: Die Mittelschicht ruiniert ihr Land
Versiegelungen von Flächen und Privatautos haben in Indien vor allem heftige Überflutungen zur Folge. Das System kann kaum mehr repariert werden.
I m vergangenen Monat habe ich erstmals seit vier Jahren Assam besucht, einen Bundesstaat im Nordosten Indiens. Dort wurde ich geboren. Ich war überrascht, als das Taxi vom Flughafen von Guwahati auf seiner Fahrt eine lange, neu erbaute Überführung nutzte und über allem dahinzuschweben schien. Die Leute dort sind froh, dass sie jetzt schneller zum Airport kommen, aber in der Stadt fließt der Verkehr weiterhin zäh. Guwahati mit knapp einer Million Einwohnern ist eine der ethnisch vielfältigsten Städte Nordost-Indiens, aber effizient sind hier nur die Schnellstraßen.
Die Busfahrt weiter nach Norden in meine Geburtsstadt Jorhat dauerte sechs Stunden. Seit meiner Kindheit waren wir jeden Sommer auf dieser gewundenen Straße durch die grüne Hügellandschaft gereist. Einmal sahen wir sogar eines der berühmten Panzernashörner im Kaziranga-Nationalpark. Aber jedes Jahr war zu beobachten, dass die grüne Landschaft von immer breiteren Straßen zerschnitten wurde. Jetzt war ich schockiert, wie nach vier Jahren überall Straßen und Überführungen gebaut wurden und die Bäume in diesem sehr grünen Teil Indiens von grauem Staub bedeckt waren.
In Jorhat wurde ich von meiner Verwandtschaft mit großartigem Essen verwöhnt. Aber die Hitze war erbarmungslos. Früher holten die Leute im November die Winterkleidung hervor, das scheint heute nicht mehr nötig. Stattdessen waren die Straßen überflutet, sobald es nur ein paar Minuten geregnet hatte. Wo soll das Wasser auch hin, wenn alles zugebaut wird?
Meine Freunde in der Millionenstadt Chennai im Süden setzten nach dem Zyklon „Michaung“ auf Facebook ein Häkchen hinter „in Sicherheit“. In den Nachrichten hieß es, dass Menschen aus ihren Häusern gerettet wurden, nachdem sie von den Wassermassen eingeschlossen worden waren. Die Bilder von Einkaufsstraßen mit Luxusgeschäften, durch die nach Regengüssen Schlauchboote fahren, sind in vielen indischen Städten alltäglich geworden.
ist preisgekrönte Journalistin. Sie schreibt für die taz über Indien.
Am Ende sind alle betroffen
Die privilegierte Mittelschicht kann es sich leisten, aus dem Homeoffice zu arbeiten, aber ihre Köchinnen und Nannys, ihr Sicherheitspersonal und die Paketboten müssen sich durch die Fluten auf den Weg zur Arbeit machen. Am Ende sind alle betroffen, und sei es nur, weil sie sich nun gegen Flutschäden versichern müssen.
Es war nicht immer so, und in Assam zeigt sich, wie Indien sich dies selbst eingebrockt hat. Niemand mit Einfluss setzt sich vor Wahlen für öffentlichen Nahverkehr ein. Die Mittelschicht hat ihre Bedürfnisse längst eigenständig organisiert: Sie wird in privaten Krankenhäusern kuriert, schickt ihre Kinder auf Privatschulen, lässt sich ihre Lebensmittel an die Türschwelle liefern. Wenn sie irgendwohin müssen, bestellen sie sich per App einen Fahrdienst.
So steigt die Zahl der Fahrzeuge weiter. Ich möchte nicht darüber nachdenken, wie viele Menschen auf der Fahrt ins Krankenhaus gestorben sind, weil ihr Rettungsfahrzeug im Stau feststeckte. Dabei kann man den Bessergestellten nicht zum Vorwurf machen, dass sie komfortabler leben wollen, jeder wünscht sich, dass es den eigenen Kindern besser gehen soll als einem selbst.
Der Auto- und der Bauindustrie ist es gelungen, den Staat zu bestechen, damit es ihnen gut geht. Das ist in Indien so unübersehbar wie der allmorgendliche Sonnenaufgang. Wir haben Städte mit Überführungen für Privatautos und Straßen, die schon nach zwei Regentropfen überflutet sind. Unser System ist an einem Punkt, an dem es nicht mehr repariert werden kann. Die Klimakrise wird mehr extremes Wetter bringen – wir müssen darüber nachdenken, warum wir den lokalen Verwaltungen erlaubt haben, die Verhältnisse so eskalieren zu lassen.
Aus dem Englischen von Stefan Schaaf
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Fußball-WM 2034
FIFA für Saudi-Arabien
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins