Übergriffe gegen Asylbewerber: Warum Sachsen?
Über zwei Jahrzehnte erzkonservatives Lebensgefühl: Das Bundesland führt die Statistiken zu fremdenfeindlichen Straftaten an.
Ausgerechnet ein Zugereister aus „Westberlin“, der von einem Linksbündnis aus SPD, Linke und einem lokalen Bürgerbündnis aufgestellt wurde, schlägt die sächsische Staatspartei CDU in einer ihrer Hochburgen.
Es war eine Sensation, als der parteilose Alexander Ahrens im August 2015 zum Oberbürgermeister von Bautzen in der Oberlausitz mit ihren 40.000-Einwohnern gewählt wurde. Die CDU war nach 25 Jahren das Rathaus Bautzen los. „Mit mir wird es keine Politik gegen Flüchtlinge geben!“ Das hatte Ahrens immer wieder im Wahlkampf verkündet – in Bautzen, wo 2014 bei der Landtagswahl 14,8 Prozent der Wähler für die AfD und 10,9 Prozent für die NPD gestimmt haben.
Am Montag konnte man einen bedrückten Ahrens erleben, wie er vor Fernsehkameras nach Antworten suchte, warum in seiner Stadt unter Applaus ein Flüchtlingsheim abgefackelt wurde. Warum Bautzen? Warum Sachsen? Warum brennen, zündeln johlen und pöbeln ausgerechnet in Sachsen so viele Menschen? Warum haben so viele Gefallen daran, Flüchtlinge rassistisch zu beleidigen?
Dass in Sachsen etwas entgleitet, ist auch an Zahlen ablesbar: 1.547 rechtsextreme und fremdenfeindliche Straftaten registrierte die Polizei nach vorläufiger Zählung im vergangenen Jahr in Sachsen. Nur in Nordrhein-Westfalen gab es noch mehr Delikte – in dem Land leben allerdings auch weit mehr Einwohner als in Sachsen. Dazu erfolgten von den bundesweit 1.105 Übergriffen auf Flüchtlingsunterkünfte 198 in Sachsen – jede sechste. 31 davon waren Brandanschläge. Seit Sonntag gehört Bautzen zur Statistik.
Gönnerhaft vorgetragene Verachtung
Es lohnt sich, den sächsischen Landtag zu besuchen. Im gläsernen Rondell am Elbufer kann man der CDU beim Walten zuschauen. Hier scheint die Erosion an der Peripherie weit weg. Zwischen einer marginalisierten SPD-Fraktion, der Linkspartei und den wenigen Grüne wandeln ihre Mandatsträger wie Gastgeber. Frank Kupfer ist Fraktionschef. Am 1. September 2015 fand er im Hohen Haus lobende Worte für Muslime: „Manche Regel, kein Alkohol, kein Schweinefleisch – „das kann man sogar noch tolerieren, ist ja gesund!“. Manchem hat es bei dieser gönnerhaft vorgetragenen Verachtung den Atem verschlagen. Ansonsten aber habe der Islam in Sachsen, einem Land mit christlicher Tradition, nichts verloren.
Die Töne im Landtag sind schärfer geworden. Das mag sicher auch an Frauke Petry liegen, die mit ihren AfD-Getreuen die CDU aufgescheucht hat. Allerdings spielt die sächsische CDU bereits viel länger auf der nationalen Partitur. Ein Meister ist Matthias Rößler. Der 61-Jährige ist seit der Neugründung des Freistaates Sachsen 1990 im Parlament. Rößler, seit 2009 Präsident des Landtags, betont seit Jahren schon die „Schicksalsgemeinschaft der Nation“.
Rößler, viele Jahre sächsischer Kultus-, später Wissenschaftsminister, wird nicht müde, die „Kulturrevolution von 1968“, ein Projekt des Westens, zu geißeln. Rößler preist demgegenüber das „tausendjährige Sachsen“, betont die Opfer der Ostdeutschen, welche die kommunistische Diktatur abgeschüttelt haben, und fordert heute „Momente kollektiver emotionaler Erhebung“. Weit entfernt ist Matthias Rößler da nicht mehr vom AfD-Mann Björn Höcke und von den Reden auf den montäglichen Pegida-Versammlungen.
Und Stanislaw Tillich? Inzwischen ist Tillich, 2008 ins Amt gewählt, der dienstälteste Ministerpräsident eines Bundeslands. Silbernes Haar, glatte Haut, faltenloser Anzug – sein Äußeres wirkt tadellos, keine Spur von Abnutzung. Und doch scheint das Äußere nur die Hilflosigkeit des 56-Jährigen zu verhüllen. Geradezu mechanisch wirkt Tillichs Wortwahl inzwischen. Freital, Heidenau, Clausnitz, Bautzen – dem Ministerpräsidenten kommen die immer gleichen Stereotype über die Lippen. „Widerlich – abscheulich – Verbrecher“ und: „Das ist nicht unser Sachsen!“
Doch. Es ist auch sein Sachsen und das Sachsen seiner CDU. Lutz Bachmann und seine Erfindung Pegida konnten da anschließen, wo die CDU den Boden bereitet hat. Die urbane, weltoffene Wählerschaft ist verloren. In Leipzig gewinnt die CDU keinen Blumentopf mehr. Doch im Vogtland, in der Oberlausitz, im Erzgebirge leben auch noch Wähler.
Kulturelle Absetzbewegung
„Wir wollen keine westdeutschen Verhältnisse“, schreiben die Patrioten von AfD und Pegida auf ihre Transparente. Westdeutsche Verhältnisse? Vor zwanzig Jahren konnte es damit nicht schnell genug gehen. Inzwischen betont man die Unterschiede zum degenerierten Westen, lobt Wladimir Putin und verachtet die Kompromisspolitik von Angela Merkel.
Die Klage über die westliche Gesellschaft, die unpatriotisch, unchristlich, bindungs- und heimatlos ist – ein Phänomen, das inzwischen in Polen und Ungarn Regierungspolitik ist. Monetär kann es mit den Zuweisungen aus dem Westen nicht schnell genug gehen, kulturell setzt man sich ab.
Was Victor Orbán undJarosławKaczyńskibeklagen, kann man sich – etwas weniger staatstragend – auf Pegida- und AfD-Veranstaltungen anhören. Ein Europa, geordnet, mit sicheren Grenzen und christlich geprägt. In Polen ist das stockkonservative Radio Marija längst zum Hetzsender geworden. Und es ist kein Ausrutscher, dass in Sachsen im vorigen Jahr – wenn auch mit knapper Mehrheit – ein Mann zum evangelischen Landesbischof gewählt wurde, für den Homosexualität eine Verirrung ist und der das Zusammenleben von homosexuellen Paaren in Pfarrhäusern grundsätzlich verbietet.
Krähwinkel in der Mitte Europas
Rentzing erhielt seine kirchliche Prägung in Sachsen, war Pfarrer im Erzgebirge und im Vogtland. Mit seinen selbst für die sächsische Landeskirche konservativen Einstellungen ist Rentzing nun die Speerspitze der Evangelischen Kirche in Deutschland. Keine Schwulen, keine Ausländer, erst recht keine Muslime – daraus spricht die Sehnsucht nach einem Krähwinkel mitten im satten Europa, der verschont bleiben möge von den Händeln der Welt: „Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen, als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, wenn hinten, weit in der Türkei, die Völker aufeinander schlagen. Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus und sieht den Fluss hinab die bunten Schiffe gleiten; dann kehrt man abends froh nach Haus und segnet Fried’ und Friedenszeiten.“ Goethe hat dieses erzkonservative Lebensgefühl, das die CDU in Sachsen kultiviert hat, im Faust schon gut beschrieben – viel Biedermeier, wenig Empathie.
Alexander Ahrens, Bautzens Oberbürgermeister, will in so einem Sachsen nicht leben. Ahrens kündigte am Montag an, die 300 Asylsuchenden in einer anderen Unterkunft in Bautzen einzuquartieren. „Wir lassen uns von einigen Hohlköpfen unsere Stadt nicht kaputt machen“, bekräftigte Ahrens. Das gilt auch für ein ganzes Land.
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