Über Rassismus reden: Tante Ernas Knochen im Museum
Weiße stehlen von denen, die nicht so viel Macht haben. Warum wir uns mit den eigenen Privilegien befassen müssen.
W ahrscheinlich werde ich mich noch mit 60 daran erinnern, was ich letzten Sommer getan habe: Um mir ein Bild von dem unter Linken beliebten Technofestival „Fusion“ zu machen, fuhr ich nach Lärz in Mecklenburg-Vorpommern.
Über meine Eindrücke, besonders hinsichtlich Weißsein und der kolonialrassistischen Praxis der kulturellen Aneignung, schrieb ich einen polemischen Text für das Missy Magazine, der mit einem monatelangen Shitstorm quittiert wurde. Zwischen all den ignoranten und hasserfüllten Kommentaren fand sich auch Kritik an der Critical-Whiteness-„Ideologie“ (lies: Theorie), die sich durch meinen Text zog. Diese fordert, weiße Privilegien infrage zu stellen, statt sich nur mit der Diskriminierung von Nichtweißen zu befassen.
Sich mit Privilegien, besonders den eigenen, auseinanderzusetzen, ist schmerzvoll. Viele Menschen können sich aber gar nicht aussuchen, ob sie sich mit diesen Themen beschäftigen wollen oder nicht, ganz einfach weil sie täglich und auf sehr persönliche Weise mit ihnen konfrontiert werden. Es ist schon ein Privileg, zu diesen Fragen nur mit den Augen zu rollen und alles anstrengend zu finden. Also, bereit für die Realitätsschelle?
Hinter kultureller Aneignung steckt die kolonialrassistische Praxis, in der sich die Mehrheitsgesellschaft die Kultur von Subalternen, also sogenannten Marginalisierten, vor allem Kolonialisierten, abschaut, aus dem Kontext reißt und aneignet. Beispiele gefällig?
Der kurdisch-deutsche Rapper Haftbefehl hat einen kreativen Mix aus Arabisch, Türkisch, Kurdisch, Deutsch und Jugendsprache für seine Arbeit kreiert. Jeder Kanake, der so sprechen würde, müsste sich anhören, er solle „richtig Deutsch“ lernen.
Traumaporno
Das verschafft Haftbefehl einerseits Street Credibility, andererseits wird er – und damit ist er eine Ausnahme innerhalb deutschen Gangster-Raps – auch von weißen Hipstern begeistert angehört. Das Identifikationspotenzial fällt zwar weg, dafür gibt es ein bisschen Traumaporno dazu und eine ironische Art des Fantums, die sich ins „schau, wie nah ich der Straße bin!“ übersetzen lässt.
Dann kommt da so ein Jan Böhmermann um die Ecke, kopiert Haftbefehls Sprache und Ästhetik und wird für seinen Song über sein Leben als Polizistensohn als witziger Satiriker abgefeiert.
Die Debatte: Nach der Wahl Donald Trumps heißt es in Medien und sozialen Netzwerken, Linke und Liberale hätten sich zu viel mit dem Kampf für Diversität befasst und die weißen „Abgehängten“ vergessen. Schon davor führte die Linke eine Debatte darüber, wie sich eine inklusive und gleichberechtigte Gesellschaft erreichen lässt. Wer hat welche Deutungshoheit, wer hat viel Macht? Und wer ist bereit, zu teilen?
Die Reihe: In einer wöchentlichen Reihe beleuchtet die taz die Aspekte der Debatte. Alle Beträge unter www.taz.de/ueberrassismusreden
Warum ist es okay, wenn kurdische Jugendliche und Rapper so sprechen, aber nicht Jan Böhmermann?
Was Böhmermann von Haftbefehl unterscheidet, ist, dass er als weißer Deutscher aufgrund seiner Sprache nicht geandert wird und jederzeit zwischen Slang und formalem Deutsch wechseln kann.
Aber er ist nicht nur in der Kategorie „Race“ privilegiert, sondern auch von seiner Klassenherkunft her: Als Beamtenkind und Fernsehmoderator steht er auf einer anderen Stufe als ein Rapper, der mit 15 die Schule schmiss, vor seiner Freiheitsstrafe von Deutschland in die Türkei floh, wiederkehrte und seine Ausbildung zum KfZ-Mechaniker abgebrochen hat.
Inderin im Sari
Und obwohl Haftbefehl im Vergleich zu anderen Azzlack-Rappern im deutschen Feuilleton gefeiert wird, wird er sicherlich so schnell keine Fernsehshow im ZDF bekommen und seine Gesellschaftskritik wird eher belächelt als anerkannt.
Ein Klassiker ist, wenn weiße Personen auf Technopartys Bindis tragen. Während eine traditionell gekleidete Inderin in Sari mit Bindi vermutlich in einen Technoclub mit exklusiver Einlasspolitik nicht reinkommen wird, können weiße Frauen sich die glitzernden Steinchen zwischen die Augenbrauen kleben und gelten als hip.
Auch in einer Gesellschaft, die sich selbst als weltoffen und multikulturell wahrnimmt, wird eine rassifizierte Frau mit Bindi stärker sanktioniert als die weiße. Bindi ist also nicht gleich Bindi. Es kommt darauf an, wer es trägt.
Kulturelle Aneignung passiert nicht nur in Mode, Kunst, Musik oder Popkultur, sondern auch in der Archäologie. Für Missy Magazine Online schrieb die Wissenschaftlerin und Vorständin des Migrationsrats Berlin-Brandenburg e. V. Noa Ha kürzlich über einen Fall, der Deutschland betrifft.
Das Karl-May-Museum in Radebeul bei Dresden ist im Besitz eines Schädels, den Native Americans seit Jahrzehnten zurückfordern, um ihren Angehörigen respektvoll beerdigen zu können. Das ist kulturelle Aneignung in ihrer materialistischsten Form: Das Museum schmückt sich mit einem gestohlenen Gegenstand und schlägt daraus Kapital, weil es so seine Sammlung aufwertet, was wiederum Besucher*Innen anzieht und Umsätze generiert.
„Ethnopluralismus“
Die Kultur, aus der der Gegenstand stammt, ist in den USA marginalisiert. Ihr fehlt es an Anerkennung, Lobby und Macht, um entscheiden zu können: Der Schädel soll ins Museum – am besten in eines, das von Native Americans verwaltet und unterhalten wird. Man stelle sich vor: Ein Museum in einem anderen Land würde beschließen, dass Tante Erna leider kein Grab bekommt, weil ihre gestohlenen Gebeine dort zur Ausstellung gehören. Da wär was los.
Nun gibt es Menschen, die behaupten, die Kritik an kultureller Aneignung sei identitär und bediene sich rechter Rhetorik, weil sie die Differenzen von Herkunft betont. Auch von „Ethnopluralismus“ ist die Rede. Aber Ethnopluralismus, also das Einfordern „reiner“ Kulturen, und die Kritik an kultureller Aneignung sind nicht dasselbe.
Die Kritik an der Praxis der kulturellen Aneignung will nicht die Hybridität von Kulturen abschaffen. Natürlich entsteht Kultur aus verschiedenen Einflüssen, die Grenzen sind fließend. Es gibt keine „reinen“ Kulturen.
Es geht nicht darum, weißen Menschen vorzuschreiben, dass sie ab sofort nur noch Lederhosen tragen und kein Sushi mehr essen dürfen. Ich gönne jeder Person schöne Kleidung und leckeres Essen.
Ich kritisiere auch keine weiße Person mit Wursthaaren (lies Dreadlocks), weil ich die „deutsche Kultur“ „reinhalten will“, sondern weil ich die kritische Praxis der Selbstreflexion und einen Blick für Machtverhältnisse stärken möchte. Es geht nicht um Verbote und Reinheit, sondern um Macht und darum, wie sie verteilt ist.
Kompliz*innenschaft
Nicht alles, was erlaubt ist oder nicht sanktioniert wird, ist automatisch cool. Mit cool ist hier antirassistisch gemeint, denn darum geht es ja: das eigene Verhalten und die Kompliz*innenschaft in anti-rassistischen Räumen.
Daran ändert auch der oft zitierte nichtweiße Beispielmensch nichts. Selbst wenn es nichtweiße Menschen gibt, die eine bestimmte Praxis der kulturellen Aneignung nicht stört – die wird man natürlich immer finden, weil es auch, Achtung! Überraschung!, unter nichtweißen Menschen unterschiedliche Meinungen gibt –, ist das noch lange kein Grund, von diesem einen Menschen auf alle anderen zu schließen und ganze Verbände von Rassismus betroffene Personen, die öffentlich Kritik ausüben, komplett zu überfahren.
Ohne Aneignung kein Austausch? Stimmt nicht. Austausch und Aneignung ohne Einwilligung sind nicht dasselbe. Wenn ich zum Beispiel auf eine indische Hochzeit eingeladen und zum Adaptieren der Kleidung aufgefordert werde, ist es ein Zeichen von Respekt, dem zu folgen. Ziehe ich dieses Sari aber in einen Technoclub an, ist es Aneignung. Eigentlich ganz simpel. Räume und Kontexte spielen eine große Rolle.
Und ja, es stimmt. Identitätspolitik wird uns nicht retten, wie auch schon Dominique Haensell für die Missy-Debattenreihe zu kultureller Aneignung schrieb. Aber sie ist definitiv eine Strategie, die wir nutzen können, bis wir eine postkoloniale Gesellschaft erreicht haben.
Gegner*innen von Critical Whiteness bemängeln häufig, dass die Benennung von Unterschieden (lies: Privilegien) diese erst zementiere. Diese Logik geht allerdings mit einer liberalen „Farbenblindheit“ einher und ignoriert die unterschiedlichen Realitäten, die durch Rassismus geschaffen werden.
Hengameh Yaghoobifarah ist Redakteurin beim Missy Magazine und taz-Kolumnistin
Wenn wir Weißsein nicht benennen dürfen, bleiben wir in der Bekämpfung weißer Vorherrschaft handlungsunfähig. Was wir allerdings gern neu verhandeln können (anstatt es aus den USA unverändert zu übernehmen), ist, wie wir Weißsein definieren. Aber dass es weiße Privilegien gibt, steht für mich nicht zu Debatte.
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