„Tugendgesetz“ in Afghanistan: Singen gegen die Taliban

Afghanische Frauen dürfen nach dem neuen „Tugendgesetz“ öffentlich nicht mehr singen. Nun erheben sie in Social-Media-Videos ihre Stimme als Protest.

Screenshot: Social Media/taz

Wir Frauen werden uns aus diesem Gefängnis befreien, wir werden uns aus diesem Käfig befreien“, singen zwei verhüllte Afghaninnen mit entschlossener Stimme. Es ist eines von vielen Videos, die in den letzten Tagen nicht nur in Afghanistan die Runde machten. Meist wurden sie auf Tiktok, Instagram oder X (ehemals Twitter) verbreitet und erreichten Zehntausende.

Kurz nach dem dritten Jahrestag der Rückkehr der Taliban verkündeten die Radikalislamisten „Tugendgesetze“, die sich in erster Linie gegen afghanische Frauen richten und die zunehmende Gender-Apartheid im Land befeuern. Laut den neuen Anordnungen ist es Afghaninnen unter anderem nicht erlaubt, in der Öffentlichkeit laut zu sprechen oder zu singen. Viele Frauen reagierten prompt auf die Repressalien und teilten Gesangsvideos in den sozialen Medien.

Während Afghaninnen in der Diaspora ihr Gesicht zeigten, beteiligten sich jene, die weiterhin in Afghanistan leben, anonym an der Aktion. Ein Video zeigt etwa eine mutmaßliche junge Frau, die singend durch die Straßen Kabuls läuft, während höchstwahrscheinlich in ihrer unmittelbaren Umgebung Taliban-Soldaten patrouillieren.

Die Message ist klar: Die afghanische Frau lässt sich nicht unsichtbar machen, obwohl die Taliban alles daran setzen, dass dies geschieht. Und dies geschieht auch, weil der Westen seit seinem desaströsen Abzug aus Afghanistan wegschaut, mit anderen Konflikten beschäftigt ist oder – wie in den letzten Tagen in Deutschland – sich nur mit Afghanistan beschäftigen will, sobald es um Abschiebungen und rechte Migrationsdebatten geht. Am Freitag wurden 28 Personen überraschend wieder nach Afghanistan ausgewiesen, zum ersten Mal seit der militant-islamistischen Machtübernahme.

Gender-Apartheid

Seit der Wiedergeburt des Taliban-Emirats im August 2021 ist der Alltag für afghanische Mädchen und Frauen düster geworden. Seit über 1.000 Tagen dürfen Afghaninnen keine Oberstufenschulen besuchen. Ende 2022 kam ein Universitätsverbot hinzu. Außerdem bestehen zahlreiche Arbeitsverbote: Im afghanischen Fernsehen gibt es vor den Kameras praktisch keine Frauen mehr.

Vor einem Jahr wurden Zehntausende Schönheitssalons im Land geschlossen, unter anderem, weil die Taliban sie mit Bordellen gleichstellten. Auch die Bewegungsfreiheit wird eingeschränkt. Mädchen und Frauen dürfen keine öffentlichen Parks besuchen und sich nicht ohne männliche Begleitung („mahram“) fortbewegen. Taxifahrer, die Frauen, die alleine sind, mitnehmen, müssen mit Strafen rechnen.

Durchgesetzt wird all dies von der Sittenpolizei der Taliban, die nicht überall gleichermaßen agiert. Vor allem in Kabul fällt es den neuen, alten Machthabern schwer, alle Frauen wegzusperren. Proteste gegen das Regime wurden aber brutal niedergeschlagen. Und Frauenaktivistinnen wurden verschleppt, drangsaliert und mehreren Berichten zufolge gefoltert.

„Ich musste vor sechs Monaten wieder schließen. Es kamen einfach keine Kundinnen mehr“, erzählt Khatera*, eine Visagistin aus Kabul, der taz am Telefon. Vor einem Jahr war sie gezwungen, ihren Schönheitssalon aufgrund des Taliban-Dekrets zu schließen. Kurz darauf begann sie, von zu Hause aus zu arbeiten. Anfangs lief das gut und Khatera konnte sich auf einige ihrer Stammkunden verlassen. Doch mittlerweile liegt das Geschäft brach.

Ein internationales Publikum

Allein der Umstand, dass das im 21. Jahrhundert so einfach geht und dass Khatera oder die singenden Afghaninnen innerhalb weniger Minuten die ganze Welt erreichen können, ist eine Hürde, die für die Taliban praktisch unüberwindbar ist. Als die Radikalislamisten das erste Mal während der 1990er Jahre regierten, verließen nur wenige Nachrichten das isolierte Land.

Doch für viele Afghanen und Afghaninnen ist das noch lange kein Grund für Optimismus. „Irgendwann wird man müde. Man hat Angst und ist eingeschüchtert“, erklärt Mustafa Akbari*, ein Student aus Kabul. Die Sittenregeln der Taliban gelten auch für ihn und andere Männer – und seit einem Jahr hält er sich daran. Einst trug der Student Jeans und westliche Hemden, war kahl rasiert. Es war sein kleiner, persönlicher Protest gegen das Taliban-Regime. „Ich habe kein Problem mit Vollbart und traditioneller Tracht. Aber ich mag es nicht, wenn mir das aufgezwungen wird“, meint er.

Doch dann wurde der Druck an der Universität zu groß. Wer den Taliban nicht gehorchte, wurde von den Sittenwächtern schikaniert und eingeschüchtert. „Es ging einfach nicht mehr“, so Akbari.

Auch nach den jüngsten Videos gilt Vorsicht, denn der Taliban-Geheimdienst scheint überall zu sein, vor allem in den sozialen Medien. Dass Afghaninnen unter all diesen Umständen überhaupt demonstrieren, ist ein mutiges Zeichen, das vor allem in diesen Tagen unseren Respekt verdient.

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