Tucker Carlson startet Twitter-Show: Mit der Wahrheit lügen
Der Ex-Fox-News-Moderator sammelt auf Twitter viel Aufmerksamkeit. Das zeigt, Hetzer brauchen klassische Medien nicht mehr.
Klassische Medien sind nicht mehr nötig für Erfolg. Das will, das muss Tucker Carlson beweisen. Und so ärgerlich es in diesem Fall ist: Der rechte, hasssäende Moderator und Verbreiter von Verschwörungserzählungen dürfte damit recht haben – zumindest für den Fall, dass man, wie er, schon eine Fanbase in den klassischen Medien aufgebaut hat, für die nicht mehr der Kanal, sondern der polarisierende Inhalt zählt, bei ihm unter anderem ein bestimmtes Narrativ über Medien und Wahrheit.
Carlson wurde Ende April vom Fernsehsender Fox News entlassen. Laut Medienberichten wegen privater Nachrichten, in denen er eine Gewalttat von Turmp-Anhängern an einem Gegendemonstranten verherrlichte. Zudem verbreitete Carlson unter anderem Lügen über einen angeblichen Wahlbetrug durch den Wahlmaschinenhersteller Dominion. Fox News musste in einem Vergleich wegen der Unterstellungen, die im Sender gemacht wurden, beinahe 790 Millionen Dollar an Dominion zahlen.
Wirklich überraschend waren die Chat-Nachrichten von Carlson wohl für niemanden. Seit Jahren ist er dafür bekannt, rechte Ressentiments und Hass zu fördern. Genau das war ja das Erfolgskonzept seiner Sendung, eines Aushängeschilds von Fox News. Dienstagabend hat Carlson nun auf Twitter in einem Video angekündigt, dass er ab jetzt auf eben dieser Plattform seine Abendshow ausstrahlen werde. Schon 14 Stunden nach dem knapp dreiminütigen Video wurde es beinahe bei 80 Millionen Accounts in den Feed gespült und dort präsentiert. So wichtig findet Twitter diesen Menschen. Über 17 Millionen haben das Video dann auch tatsächlich abgespielt.
Carlson kündigte darin aber nicht nur sein Programm an. Nein, er goss darin auch ein Fundament, das er braucht, um sein neues mediales Zuhause möglichst stabil zu bauen: Er argumentierte gegen klassische Medien und bediente sich dabei klassischer Narrative aus der Szene von Desinformation und Verschwörungsideologie. „Oft hört man Menschen sagen, die Nachrichten seien voller Lügen. Aber das ist nicht ganz richtig“, erklärte er. Vieles sei richtig. Was man im Fernsehen sehe oder bei der New York Times lese, würde Fact-Checks auch überstehen. „Aber das macht sie nicht wahr.“
Gewöhnliches, journalistisches Prozedere
Es würden grundlegende Informationen verheimlicht. Sie würden damit lügen, jeden Tag in der Woche, jede Woche im Jahr. Es sei eine „Lüge der verschlagensten und heimtückischsten Art“. Dann sprach er die Zuschauenden wieder direkt an: „Sie werden manipuliert.“
Carlson spricht damit einen Grundmechanismus des Journalismus an: die Nachrichtenauswahl. Was ist wichtig? Was zeigen wir den Leser*innen und Zuschauer*innen? Journalist*innen kuratieren täglich Nachrichten, viele Nachrichten schaffen es nicht ins TV-Abendprogramm oder auf die Seite, weil jene Journalist*innen andere Nachrichten als wichtiger einordnen. Das ist normal. Und ja, es hat einen Einfluss auf die Rezipient*innen.
Das, was dabei entsteht, ist jedoch keine Lüge. Es ist das Ergebnis einer durch Ressourcen gegebenen Notwendigkeit. Vor allem ist es ein an das Publikum gerichteter Service, denn nicht jede Nachricht ist tatsächlich für alle wichtig und die Aufnahmefähigkeit von Menschen ist nicht unendlich.
Carlson weiß das ganz genau. Deswegen liefert er auch keine Beweise für seine Unterstellung. Er möchte ja selbst manipulieren. Er stellt sich selbst und ein ominöses, nicht genauer definiertes „wir“ als diejenigen dar, die die Wahrheit haben. Das macht er auf der „weltweit größten, einzigen Plattform“, auf der seiner Ansicht nach noch freie Meinungsäußerung herrscht: Twitter. Das ist das, was Carlsons Fans hören wollen: Ihr seid die mit dem Durchblick! Hier ist unser neues Zuhause! Durch den wahren Teil seiner Erzählung, also die notwendige tägliche Nachrichtenauswahl in Redaktionen, wird sein Vorwurf der Lüge umso attraktiver, glaubwürdiger – gefährlicher.
Dass Carlson dafür ausgerechnet Twitter auserkoren hat, ist nachvollziehbar. Elon Musk, mit dem Carlson gerüchteweise schon im Vorfeld über seine Show auf Twitter gesprochen hat, hat seine Plattform als Ort der freien Meinungsäußerung ausgerufen, sich selbst hat Musk zu einem Ultra der Redefreiheit ernannt. Dass er dabei auf Twitter gegen unliebsame Personen und Institutionen vorgeht, sie blockt, teilweise von der Plattform verbannt: geschenkt. Ebenso seine negative Einstellung zu kritischen Medienhäusern, die er gerne auch mal verleumderisch auf Twitter als „Staatsmedien“ brandmarkt.
Deutsches Beispiel
Carlsons drohender Erfolg besteht aus mehreren Zutaten. Zum einen ist da die Selbstdarstellung als Wissens- und Wahrheitsträger, als Widerständiger. Zum anderen ist da aber seine Basis aus Fans, auf denen er aufbaut. Auch Julian Reichelt hat seine Fans mitgenommen, als er das Format „Achtung, Reichelt!“ auf Youtube startete. Mit seinen Videos polarisiert der ehemalige Chefredakteur der Bild-Zeitung und bedient damit die Bedürfnisse jener, die er schon vor seinem Abgang beim Springer-Verlag begeistern konnte. Ohne seine Vergangenheit dort wäre Reichelts Kanal heute aber vermutlich nicht halb so bekannt.
Bild, Fox News und Twitter und viele andere Social-Media-Plattformen funktionieren auf eine ähnliche Weise: Sie packen uns an unseren Ängsten, an unserer Wut. Dabei brauchte Fox News den charismatischen Lügner Carlson ebenso wie der Moderator Fox News. Seine Strategie wird vermutlich auch auf Twitter funktionieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands