Traumatherapie für Geflüchtete: Alleingelassen in der Wartehalle
Viele Geflüchtete haben traumatische Erfahrungen gemacht, aber geholfen wird ihnen kaum. Für die Integration dieser Menschen ist das schlecht.
I ch finde es furchtbar, dass wir Menschen so unterbringen müssen“, sagt Gunild Kiehn mit ernstem Blick und öffnet die Tür zu einem der Wohncontainer des „Refugiums Tempelhof“ – einer riesigen, in den Hangars des alten Flughafens Berlin-Tempelhof gelegenen Sammelunterkunft für geflüchtete Menschen. Im klinisch weißen Licht stehen in dem gerade nicht bewohnten Container zwei silbergraue Hochbetten mit blauen Schaumstoffmatratzen, eine metallene Schrankwand aus vier gleichförmigen Spinden, zwei Stühle und ein kleiner Tisch. Jeweils zu viert, oft beliebig zusammengewürfelt – Familien ausgenommen – müssen sich die Bewohner*innen der Unterkunft diese zwölf Quadratmeter Container teilen.
Besonders für die vielen Personen, die psychisch belastet sind und unter Traumafolgestörungen leiden, seien der geringe Platz und die fehlende Privatsphäre schwer zu ertragen, so Kiehn. Die 58-Jährige arbeitet hier als Psychologin. Die Wohnsituation der Menschen, erklärt sie, verschlimmere so ein ohnehin schon gravierendes Problem, das ihr und ihren Kolleg*innen alltäglich im Job begegne: die akute Mangelversorgung geflüchteter Menschen mit psychosozialer Hilfe.
Wie groß die Versorgungslücke im Bereich der psychosozialen Hilfe für geflüchtete Menschen ist, geht aus dem aktuellen Versorgungsbericht der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) hervor. Die BAfF vereint als Dachverband 48 Organisationen, die psychosoziale Unterstützung für geflüchtete Menschen anbieten.
Die Angebote der Psychosozialen Zentren reichen von Traumatherapien über Mentoring- und Ehrenamtsprogrammen bis hin zu traumasensiblen Sozial- und Asylrechtsberatungen. Auch für Frauen, LSBTIQ* und unbegleitete Minderjährige bieten manche Zentren spezielle Unterstützungsmöglichkeiten. Den BAfF-Berechnungen zufolge kommen bundesweit auf 20.000 Plätze pro Jahr etwa eine halbe Million Menschen mit Unterstützungsbedarfen. Pro Jahr können also nur vier Prozent der Geflüchteten die Unterstützung in Anspruch nehmen, die sie eigentlich bräuchten.
Gipfeltreffen Am Mittwoch treffen sich in Berlin die Ministerpräsident*innen der Länder mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), um über den weiteren Kurs in der Flüchtlingspolitik zu beraten. Konkret dürfte die Bezahlkarte ein inhaltlicher Schwerpunkt bei dem Treffen sein. Im November, beim letzten Bund-Länd-Gipfel zur Flüchtlingspolitik, wurde die Einführung der Bezahlkarte beschlossen: Asylbewerber*innen sollen ihre Leistungen vom Amt künftig nicht mehr in bar ausgezahlt bekommen. Hintergrund ist, dass die Ampelkoalition vermeiden will, dass Menschen Geld an Angehörige in der Heimat senden. Der Rat für Migration, ein Zusammenschluss von 220 Migrationsforscher*innen im deutschsprachigen Raum, kritisiert das scharf: Es sei „spekulativ“, ob Geflüchtete wirklich Geld an Schlepper oder Familie sendeten, hieß es in einer Stellungnahme am Dienstag. Die Länder müssen den Bezahlkarte-Beschluss umsetzen.
Wüste Kritik Der NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) kritisierte am Dienstag im Redaktionsnetzwerk Deutschland die Bundesregierung für ihre „Untätigkeit“ seit dem letzten Migrationsgipfel. Damals seien weitere Beschlüsse gefasst worden, etwa die Erneuerung des EU-Türkei-Abkommens zur Rücknahme von Geflüchteten. Auch Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hatte das noch mal ins Spiel gebracht. Auch schnellere Rückführungen, die nicht zuletzt Scholz zum Regierungsziel erklärt hatte, dürften am Mittwoch Thema werden.
Aus der Mangelversorgung „ergeben sich enorme gesellschaftliche Konsequenzen“, erläutert Gunild Kiehn. Wer unter Traumafolgestörungen leide, könne kaum arbeiten, studieren, zur Schule gehen oder Deutsch lernen. Vielen falle es schwer, sich Termine zu merken und ihren Verpflichtungen nachzukommen. Manche würden sich selbst vernachlässigen oder in destruktive Verhaltensweisen abdriften, Alkohol oder andere Drogen konsumieren, um die Erinnerungen an ihre Traumata zu vermeiden. „Wie sollen die Menschen so Teil unserer Gesellschaft werden?“, fragt die Psychologin.
Wie viele der insgesamt in Deutschland schutzsuchenden Menschen sind traumatisiert? Und wie viele leiden unter Traumafolgestörungen? Wissenschaftler*innen gehen davon aus, dass fast neun von zehn Geflüchteten in der Bundesrepublik Traumatisches erlebt haben. Damit sind Situationen gemeint, die etwa das Gefühl von Kontrollverlust oder gewaltvolle Fremdbestimmung beinhalten – das betrifft häufig Menschen, die politischer Verfolgung und Folter ausgesetzt sind oder den plötzlichen Verlust von Freund*innen und Angehörigen im Krieg erlebt haben. Menschen, die zur Flucht gezwungen sind.
Etwa 30 Prozent der in Deutschland Schutzsuchenden, so die Forschung, leiden unter entsprechenden Traumafolgestörungen, also den Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). In anderen Worten: Etwa jede*r dritte Geflüchtete kann nicht richtig schlafen, kommt nicht zur Ruhe, hat Konzentrationsstörungen, Schmerzen, oder ist geplagt von realitätsnahen Rückblicken in die erlebten traumatisierenden Situationen – sogenannten Flashbacks. Ende 2023 lebten insgesamt 3,1 Millionen geflüchtete Menschen in Deutschland.
Psycholog*innen wie Gunild Kiehn sind für viele psychisch belastete Geflüchtete oft die Ersten, mit denen sie ihr Leid teilen. In der Tempelhofer Sammelunterkunft bekommen sie von den Sozialarbeiter*innen den Hinweis, dass es Kiehn und ihre zwei Kolleg*innen gibt und sie werktags einen Termin mit ihnen ausmachen können. „Dann müssen sie für sich entscheiden: Will ich wirklich mit einer Frau sprechen, die meine Sprache nicht spricht und ganz anders lebt als ich?“, sagt Kiehn mit ruhiger, freundlicher Stimme und zugewandtem Blick.
Gegen die Sprachbarriere helfe in der Regel ein*e Dolmetscher*in – sofern eine*r telefonisch oder in Präsenz verfügbar ist, denn auch Dolmetscher*innen sind rar. Dennoch sei der Schritt, zu ihr zu gehen, für viele geflüchtete Menschen eine Überwindung, sagt Kiehn. Auch weil das Aufsuchen einer Psycholog*in in einigen Gesellschaften ein Tabu sei.
Aber oft, wenn die Symptome stärker werden, bleibe den Menschen kaum eine Wahl, so Kiehn. Viele würden sich dann fragen: „Warum habe ich ständig Kopfschmerzen und kann nicht schlafen? Warum funktioniere ich nicht mehr so wie früher? Ich habe mich verändert, erkenne mich nicht wieder. Bin ich verrückt?“
Wenn die Menschen sich Kiehn öffnen und ihr ihre brutalen Geschichten von Kriegen, Vertreibung und Flucht erzählen, versuche sie zunächst, sie aufzuklären: „Deine Symptome sind normale körperliche Reaktionen auf nicht normale Ereignisse. Du bist nicht verrückt. Du kannst lernen, mit deinen Erfahrungen zu leben.“ Das beruhige die Menschen zunächst einmal. Sie würden sich gesehen fühlen und erkennen, dass sie mit ihren Problemen nicht alleine sind.
Doch oft helfe ein solches entlastendes Gespräch nur kurzfristig. Dann jedoch stehe Kiehn immer wieder vor einem Problem, sagt sie. Denn es gebe oft keine Behandlungsplätze. Nur wenige ihrer vielen Klient*innen habe sie im vergangenen Jahr an die Psychosozialen Zentren in Berlin vermitteln können. Die Wartelisten seien lang. Oft dauere es mehrere Monate, bis Menschen einen Platz bekämen – für Therapieplätze betrage die Wartezeit zum Teil bis zu einem Jahr. Zudem gebe es aufgrund der hohen Auslastung teilweise enge Auswahlkriterien in der Platzvergabe. Zum Beispiel würden manche Einrichtungen eine längerfristige Bleibeperspektive in Deutschland von mindestens einem Jahr voraussetzen oder im Team nach Dringlichkeit entscheiden, wer Unterstützung bekommt.
Wenn ihr Gegenüber diesen Kriterien entspricht „und ich eine Chance auf einen Platz sehe, klemme ich mich natürlich sofort dahinter und versuche, etwas zu organisieren“. Meistens sei das jedoch nicht der Fall – oder eben mit erheblichen Wartezeiten verbunden. Die Gesprächssituation sei dann mitunter schwer auszuhalten: „Du weißt, dass der Mensch, der vor dir sitzt, psychisch am Ende ist, schnell Hilfe braucht, es aber nichts gibt, dass du für ihn machen kannst – außer vielleicht einer medikamentösen Behandlung in der Psychiatrie.“
Kiehn sagt, sie fühle sich dann fast genauso hilflos und ausgeliefert wie ihr Gegenüber. Auch Kolleg*innen gehe das so. Mit etwa 30 anderen Psycholog*innen aus anderen Berliner Sammelunterkünften tauscht sie sich regelmäßig zu den „Systemgrenzen“ in der Versorgung psychisch belasteter Geflüchteter“ aus. Das sei „eine Art Selbsthilfegruppe“, sagt sie.
Weshalb sind die Psychosozialen Zentren so stark ausgelastet? Neben dem generell hohen Bedarf liege ein Hauptgrund im Asylbewerberleistungsgesetz, erklärt BAfF-Geschäftsführer Lukas Welz der taz am Telefon. Durch das Gesetz ist allen geflüchteten Menschen in Deutschland, die noch auf ihren Asylentscheid warten oder bereits abgelehnt wurden und lediglich geduldet werden, der volle Zugang zu Sozial- und Gesundheitsleistungen verwehrt. Behandlungen werden nur im äußersten Notfall gestattet. Einen normalen Therapieplatz bewilligt zu bekommen, sei für Asylsuchende oder geduldete Menschen so nahezu unmöglich, so Welz. Für sie bliebe nur die Möglichkeit, die Hilfsangebote der psychosozialen Zentren in Anspruch zu nehmen.
Gunild Kiehn, Psychologin im „Refugium Tempelhof“
Die Ampelregierung hat im gerade erst verabschiedeten „Rückführungsverbesserungsgesetz“ zudem festgelegt, dass asylsuchende und geduldete Geflüchtete erst nach drei statt wie bisher nach eineinhalb Jahren Zugang zur medizinischen und damit auch psychotherapeutischen Regelversorgung bekommen. Das sei eine Katastrophe, sagt Welz. Dass Menschen nun bis zu drei Jahre aus der Regelversorgung ausgeschlossen werden können, werde die bestehende Versorgungslücke in der psychosozialen Hilfe nur noch vertiefen. „Und das wird das Leid der Menschen in Deutschland und letztlich das Ausbleiben von Integrations- und Teilhabechancen in der Zukunft massiv verschärfen.“, erklärt er.
Ein weiteres Problem sei der faktisch fehlende Zugang zur Regelversorgung für all diejenigen Geflüchteten, deren Asylanträge bereits positiv entschieden wurden, die also einen anerkannten Schutzstatus in Deutschland haben. Ende Oktober 2023 waren das etwa zweieinhalb Millionen Menschen, davon etwa 900.000 aus der Ukraine. Rein rechtlich sei der Zugang zur normalen, gesetzlichen – also über die Krankenkassen abgedeckten – medizinischen und psychologischen Unterstützung für diese Menschen zwar nicht durch das Asylbewerberleistungsgesetz eingeschränkt.„In der Realität ist die Regelversorgung jedoch kaum eine Option“, sagt Welz. In normalen therapeutischen Einrichtungen und Kliniken fehle es oft an kontextuellem Wissen aus den Herkunftsländern der Menschen. Auch mangele es häufig an Erfahrungen in der Behandlung geflüchteter Menschen und einem entsprechend sensiblen Umgang mit ihren individuellen Fluchtgeschichten und Bedürfnissen. Und zudem sei zu selten eine Sprachmittlung, also ein*e Dolmetscher*in, verfügbar.
Zumindest, um das Problem der unzureichend verfügbaren Sprachmittlung in der Regelversorgung in den Griff zu bekommen, arbeitet die Bundesregierung an einer Lösung. Im Koalitionsvertrag hat sie sich das Ziel gesetzt, eine bundesweit einheitliche Lösung im Sozialgesetz festzuschreiben. Auf taz-Anfrage teilte das Bundesgesundheitsministerium mit, dass die Diskussionen um die konkrete Umsetzung und Finanzierung noch liefen, man das Vorhaben aber schnell umsetzen wolle.
Für Welz sei jedoch klar, dass es einen grundsätzlichen Kurswechsel der Bundesregierung im Umgang mit traumatisierten Geflüchteten brauche – um den eigenen humanitären Werten gerecht zu werden, aber auch aus juristischen Gründen: „Als werteorientierte Gesellschaft hat Deutschland sich rechtlich zum Schutz und der Versorgung von Menschen verpflichtet, die verfolgt und gefoltert wurden“, so Welz.
Damit bezieht er sich auf internationales Recht. Mit der Genfer Flüchtlingskonvention, der Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist die Bundesrepublik gleich auf mehreren Ebenen verpflichtet, dafür zu sorgen, dass schutzsuchende Menschen, die Folter oder politische Verfolgung erlebt haben, hier angemessen versorgt werden. Dass sie in Sicherheit leben können. „Das schließt eine nachhaltige und systematische Versorgung schwerster Traumatisierungen als Folge von Verfolgung und Flucht mit ein“, mahnt Welz.
Um die Psychosozialen Zentren zu entlasten, brauche es also einen schnellen und wirklichen Zugang zur Regelversorgung für geflüchtete Menschen. Zudem sei es notwendig, so Welz, die spezialisierten Zentren zu stärken. Nicht nur brauche es eine ausreichende, sondern auch eine dauerhafte Finanzierung. Derzeit entscheide sich mit jedem Haushaltsbeschluss aufs Neue, wie viel Geld die Zentren jährlich zur Verfügung haben, wie viel Personal sie beschäftigen und wie vielen Menschen sie damit helfen können.
„Das ist für die Kolleg*innen sehr belastend“, erklärt er. Besonders als die Ampelkoalition im Sommer des vergangenen Jahres darüber debattierte, die Mittel für die Zentren um 60 Prozent zu kürzen, sei die Verunsicherung groß gewesen. Viele hätten Existenzängste geplagt. Im Herbst 2023 konnte ein Teil der Kürzung zunächst zurückgenommen werden.
Rund um die Uhr ist es hell
In Berlin-Tempelhof führt Kiehn mit forschen Schritten weiter durch die drei Hangars, die unzählige Deckenstrahler rund um die Uhr taghell erleuchten. Hunderte weiße Wohncontainer stehen hier dicht an dicht auf granitgrauem Boden. Ein Grundrauschen an unterschiedlichen Tönen aus allen Himmelsrichtungen liegt in der Luft. Leises und lauteres Sprechen in verschiedenen Sprachen. Kinderlachen. Und unverständliche, elektronische Töne von den Walkie-Talkies der zahlreichen Sicherheitsleute, die in gelben oder orangenen Warnwesten an fast jeder Ecke in kleinen Grüppchen sitzen oder stehen. 60 sind es pro Tag- und Nachtschicht.
„Wie sollen die Menschen hier zur Ruhe kommen?“, fragt Kiehn. Viele würden sehr unter der Geräuschkulisse leiden. Und besonders für Menschen, die in Foltergefängnissen gesessen oder Polizeigewalt erlebt haben, könnten das Ambiente im alten Flughafen und das viele Sicherheitspersonal retraumatisierend wirken.
Fast 1.400 Menschen leben in der von der Arbeiterwohlfahrt Berlin-Mitte (AWO) und dem Internationalen Bund gemeinschaftlich für das Land Berlin betriebenen Unterkunft in Tempelhof. Entweder warten sie hier auf ihren Asylbescheid, oder sie haben eine Ablehnung bekommen und sind von einer Abschiebung bedroht. Selbst Menschen mit einer Asylanerkennung lebten noch hier, weil das Land Berlin nicht ausreichend Plätze in Gemeinschaftsunterkünften vorhalte. Einige seit nunmehr über 14 Monaten, so Kiehn.
Bis zum Erstbescheid, also der ersten Entscheidung über das Asylgesuch, dauert es derzeit durchschnittlich viereinhalb Monate, teilt das Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge (BAMF) auf taz-Anfrage mit. Viele Menschen müssen jedoch weitaus länger in Unterkünften wie den Hangars ausharren. Denn während Positivbescheide nicht selten bis zu zehn Monate dauern, sind Absagen oft schon innerhalb weniger Monate erteilt. Und wer einen Negativbescheid erhält und dagegen klagt, müsse sich laut BAMF auf eine Verfahrensdauer von bis zu eineinhalb Jahren einstellen.
Wie viele schutzsuchende Menschen bundesweit in alten Kasernen oder Wohnblocks, Großzelten oder Containerdörfern, also in Massenunterkünften wie in Tempelhof leben, ist statistisch nicht erfasst. Ein Anhaltspunkt ist jedoch die Anzahl der Empfänger*innen von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Ende 2022 waren das 482.300 Menschen.
Eine aktuellere Zahl hat das Statistische Bundesamt noch nicht veröffentlicht. Allerdings dürfte sie leicht gestiegen sein. Zwar wurden in 2023 etwas mehr als die Hälfte aller Asylanträge bewilligt, jedoch lag auch die Zuwanderungszahl höher als in den Vorjahren. Und etwa ein Drittel derer, deren Asylantrag abgelehnt wurde, hat gegen den Negativbescheid geklagt. Hinzu kommen weitere Hunderttausende, deren Asylanträge angenommen wurden und die in den Gemeinschaftsunterkünften der Kommunen leben.
Kiehn stoppt an der Kantine von Hangar 2. Dort sitzen gerade zwei Menschen an einer Bierzeltgarnitur und schauen auf ihre Handys. Einer trägt eine Kapuze. Zu den Essenszeiten, also morgens, mittags und abends, sei der große Raum, eine alte Werkzeughalle mit Gittern vor den Fenstern, gut gefüllt, erklärt Kiehn. Lange Schlangen bildeten sich dann davor.
Alle geflüchteten Menschen hier bekommen Vollverpflegung. Das ist der Deal für Asylsuchende in Sammelunterkünften. Bargeld gibt es monatlich je nach Land bis zu 182 Euro, in bayrischen Ankerzentren gar nur 102 Euro. Bald soll dieses Guthaben zudem nur noch digital per Bezahlkarte zur Verfügung stehen, so haben es die Ministerpräsident*innen der Länder mit Kanzler Olaf Scholz (SPD) im vergangenen Herbst vereinbart. Auch der Gang zum Imbiss, wo Döner und Co. oft nur bar verkauft werden, dürfte dann für viele als selbstbestimmte Alternative zum Unterkunftsessen ausfallen. Einige Länder, darunter Bayern, wollen die Karte außerdem für den Kauf von Zigaretten und Alkohol sperren.
Das psychisch Belastende sei neben der täglich im Speiseplan wiederkehrenden Erfahrung der Fremdbestimmung aber vor allem auch, nicht selbst kochen zu können, erklärt Kiehn. „So banal es klingt: Für viele ist das besonders schlimm. Das zu kochen, was man mag, so viel man mag, das hat für alle eine große Bedeutung. Es ist Teil der kulturellen Identität.“
Einer, dem die Unterbringung im Tempelhofer Containerdorf sehr zu schaffen macht, ist Emin Sediyev. Er ist 44 Jahre alt und heißt eigentlich anders. Aus Angst vor Repressionen möchte er seinen echten Namen nicht in der Zeitung lesen. Sediyev ist aus seiner Heimat Tschetschenien geflohen, weil es dort zu gefährlich für ihn gewesen sei, sagt er. „Dort gelten keine Menschenrechte.“
Er habe sich politisch für die Unabhängigkeit des Landes eingesetzt und sei so ins Visier des tschetschenischen Regimes geraten. Eines Nachts hätten dann bewaffnete und vermummte Polizisten sein Haus gestürmt, ihn verschleppt, brutal zusammengeschlagen und schließlich schwer verletzt an der Straße aus dem Auto geworfen, erklärt er. „Sie wollten, dass ich sterbe.“
„Wir haben keine Privatsphäre“
Jetzt „in dieser Flugzeuggarage zu leben“ bedrücke ihn sehr, sagt er. Er beugt sich nach vorn, stellt die Ellenbogen auf die Knie, hält seine großen und doch feinen Hände fest zusammen und redet mit ernstem Blick: „Wir haben keine Privatsphäre. Es gibt kaum Platz.“ Und weil die kleinen Wohncontainer in den großen Hangars stehen, gebe es weder frische Luft noch Sonnenlicht.
Und auch die Ausübung seines muslimischen Glaubens falle ihm in der Unterkunft schwer. „Ich bete fünf Mal am Tag. Dazu gehören jeweils rituelle Waschungen der Hände und Füße.“ Gerade die Waschungen seien in der Unterkunft in Tempelhof allerdings kaum möglich. „Die Duschen sind im Kalten. In unserem Hangar gibt es kaum warmes Wasser. Das ist eine Zumutung.“
Schlafen könne er zudem auch nicht viel. „Nicht in der Nacht und nicht am Tag.“ Es sei schwer, in den Hangars Ruhe zu finden. Hinzu kämen die Sorgen, er könnte abgeschoben werden. Und auch die Misshandlungen, die er in seiner Heimat habe erleben müssen, holten ihn immer wieder ein.
Halt gebe ihm gerade nur zweierlei. Sein 20-jähriger Sohn, der auch in Berlin lebt – und die Sozialberatung von Xenion, einem Psychosozialen Zentrum in Berlin Steglitz, das auch Teil der BAfF ist. Die Büros des Vereins seien einer der wenigen Orte, an denen er sich sicher fühle, sagt Sediyev. Er gehe dorthin, wenn er nicht mehr weiterwisse. Und zur Kiezkantine in Kreuzberg, einer Art regelmäßigem offenem Kochevent für alle, die Lust haben – egal ob Deutsche, Afghan*innen oder Tschetschen*innen. Bereits seit November 2022 ist Sediyev hier immer wieder ein regelmäßiger Besucher. Xenion sei ein Glücksfall für ihn. „Hier finde ich Seelenruhe“, sagt er.
Um Menschen zu helfen, die sie nicht an Orte wie Xenion vermitteln kann, blieben ihr nur wenige Möglichkeiten, sagt Gunild Kiehn. Manchen könne sie einen Termin bei einem Psychiater organisieren, der sie dann medikamentös einstellt. Das sei zumindest eine Zwischenlösung für akute PTBS-Symptome. Für andere könne sie eine Stellungnahme schreiben, die vielleicht in der Asylprüfung berücksichtigt werde. Diese sei allerdings, wie auch die Gutachten von psychologischen Psychotherapeut*innen, nicht rechtlich bindend.
Wenn die geflüchteten Menschen dennoch eine Abschiebung erhielten, versucht Kiehn, sie auf das vorzubereiten, was vor ihnen liegt. Manche hätten große Angst und brächen zusammen bei dem Gedanken, zurück in die Heimat zu müssen, aus der sie geflüchtet sind. Sie gelte es dann zu stabilisieren, so Kiehn. „Ich frage dann: Wie kannst du dich auf deine Rückkehr vorbereiten? Was machst du, wenn du dort ankommst? Hast du wen, zu dem du gehen kannst? Was hast du in der letzten Zeit gelernt, das dir dort helfen könnte?“ Solche Gespräche seien jedoch sehr belastend. „Ich kenne die individuelle Situation der Menschen. Ihre Fluchtgeschichte und ihre psychische und physische Verfassung“, sagt sie. Mit der Zeit habe sie aber gelernt, professionell damit umzugehen. „Das ist auch wichtig für die eigene Psychohygiene. Gerade in diesem Umfeld hier muss man darauf achten.“
Auch den Menschen, die noch auf ihren Asylbescheid oder auf ihre Anhörung warten, rate sie, auf sich zu achten. Besonders jenen, denen sie nicht anders helfen könne als mit einem Gespräch. Und auch in diesen Fällen versuche sie, die Menschen darin zu unterstützen, sich selbst zu stabilisieren: „Was kannst du tun, damit es dir ein kleines bisschen besser geht? Woran kannst du denken, an deine Mutter, an Freunde? Was macht dir Freude, dass auch hier möglich ist?“ Oft findet sich irgendetwas. Manchmal nicht. Dann gehe es darum, sagt Kiehn, die unaushaltbare Situation gemeinsam auszuhalten.
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