Transfeindlichkeit in Russland: Doppelt gefangen
Der 38-jährige Nazar Gulewitsch ist trans. Eine Haftstrafe in einem russischen Gefängnis wird für ihn lebensbedrohlich.
Der 38-Jährige ist trans und sitzt derzeit eine mehrjährige Haftstrafe wegen angeblichen Immobilienbetruges in Russland ab. Bereits einmal hat er versucht, sich das Leben zu nehmen. Olga befürchtet, er könnte erneut Hand an sich legen.
Nazar Gulewitsch wird in der belarussischen Kleinstadt Molodetschno geboren und bekommt den Namen Anastasia. Bereits im Alter von 12 Jahren wird Nazar klar, dass er sich als Junge fühlt, erinnert sich Gulewitsch in einem Interview mit der russischen Zeitung Moskowski Komsomoletz vom vergangenen April.
Während die Klassenkameradinnen in Kleidern im Unterricht sitzen, kommt Anastasia in einem Trainingsanzug in die Schule. Nach dem Abschluss eines Technikums geht die damals 18-Jährige 2002 nach Moskau und nimmt Kontakt zu dem Institut für Sexualpathologie auf. Die Konsultationen ziehen sich über anderthalb Jahre hin, ein erster operativer Eingriff scheitert am Geld. Im Jahr 2004 lernt Nazar seine künftige Frau in Moskau kennen.
Brustentfernung mit schweren Komplikationen
Vier Jahre später lässt sich Nazar, damals noch Anastasia, in Minsk beide Brüste entfernen. Die kostenlose Operation, die mit schweren Komplikationen einhergeht, folgt auf einen einmonatigen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik.
Nach der Genesung bekommt Nazar einen neuen Pass – so wie nach einer Geschlechtsangleichung im belarussischen Gesetz vorgesehen. Aus Anastasia wird Nazar. Dem folgt die Einberufung, der Wehrdienst dauert 18 Monate. Nach seiner Entlassung aus der Armee geht Nazar erneut nach Moskau. Dort arbeitet er auf einer Baustelle und nimmt parallel dazu ein Studium an der Akademie für Rechts- und Finanzwesen auf. 2018 wird Nazar festgenommen. Als Direktor einer Firma soll er sich angeblich widerrechtlich eine Immobilie angeeignet haben.
Für Nazar beginnt jetzt ein Leidensweg der besonderen Art. Zunächst wird er an das Moskauer Untersuchungsgefängnis Nummer 3 für Männer überstellt. Nazars Bitte, die Anstaltsleitung vorab über den nicht alltäglichen Gefangenen zu informieren, wird ignoriert. „Ich ziehe mich aus. Um mich herum stehen andere Häftlinge. Alle hören zu und gaffen. Der Arzt, schockiert, sieht mich an und fragt: Was sind das für Narben? Alle Augen richten sich auf mich, es ist totenstill. Ich sage, ich sei unter einen Kipplaster geraten. Der Arzt: Was sind das für Lügen“, erzählt Gulewitsch der Moskowski Komsomolez.
Krankenstation und Einzelhaft
Die Haftanstalt weigert sich, Nazar aufzunehmen. Auch das Gefängnis Nr. 6, der einzige Frauenknast in Moskau, fühlt sich nicht zuständig. Schließlich landet er im berüchtigten Untersuchungsgefängnis Nr. 1 (Matrosenruhe) und kommt auf der Krankenstation in Einzelhaft. Nach 40 Tagen bekommt Nazar zum ersten Mal die Möglichkeit, einen Anruf entgegenzunehmen. Als er zum Telefon geführt wird, hört er jemanden raunen: Der da werde es wohl nicht mehr lange machen, zitiert das Journal Takie Dela Nazars Frau Olga. Die ersucht den Gefängnischef, ihren Mann zu schützen.
Kurz darauf wird Nazar ins Frauengefängnis gebracht. Dort sitzt er monatelang alleine in einer fensterlosen Zelle im Untergeschoss. Einmal pro Woche darf er mit seiner Frau, die er im Gefängnis heiratet, telefonieren und sie zweimal pro Monat zu einem Besuch empfangen. Laut Olga verzichte Nazar auf Hofgänge – aus Angst vor den Gefängniswärterinnen. Die hätten ihn mehrmals in die Dusche gezerrt und auch noch andere ihrer Kolleginnen herbeigerufen, um dabei zuzusehen. Am 27. Juli 2020 ergeht das Urteil gegen Nazar: viereinhalb Jahre Haft wegen Betruges. Im Februar dieses Jahres wird das Strafmaß auf vier Jahre reduziert.
Für Nazar bedeutet das, dass er die noch verbleibende Haftzeit in einer Strafkolonie verbüßen muss. Doch in welcher? Das sei in Russland ein großes Problem, da es für Transgender keine speziellen Einrichtungen gebe. Diese seien sowohl in Strafanstalten für Männer als auch für Frauen zu einer erniedrigenden Situation verurteilt, zitiert das russische Nachrichtenportal Meduza Eva Merkewitsch, stellvertretende Vorsitzende der Öffentlichen Aufsichtskommission (ONK).
In Männergefängnissen sei das Risiko besonders groß. Denn dort herrsche, im Unterschied zu Strafanstalten für Frauen, eine Gefängnishierarchie, sagt Leonid Agafonow, ehemaliges Mitglied der ONK. „Transgender gehören automatisch zur niedrigsten Kaste. Ob sie sexueller Gewalt ausgesetzt sind, hängt von den Gegebenheiten an einem konkreten Ort ab. Aber dass die Mitgefangenen diese Menschen psychologisch versuchen zu brechen, ist sicher.“
Abschiebung nach Belarus geplant
Im Falle von Nazar gebe es die Möglichkeit, die gesamte Strafe in U-Haft zu bleiben. Das sei in vergleichbaren Fällen geschehen, sagt Merkewitsch. Darum bemüht sich auch Nazars juristischer Beistand, die Menschenrechtlerin Tatjana Sucharewa. Mit Erfolg. Laut Berichten des Onlineportals tvernews.ru wird Nazar im März zunächst in das Untersuchungsgefängnis in der Kleinstadt Rschow und nach 20 Tagen in die Haftanstalt Nr. 1 in Twer verbracht. Dort wartet er in einem Karzer, wiederum eine Schutzmaßnahme, auf seine Freilassung. Diese soll am 27. Mai 2021 erfolgen.
Doch die Freude darüber ist getrübt. Am 6. Mai postet Tatjana Sucharewa auf Facebook, dass Nazar, nachdem er das Gefängnis verlassen hat, sofort in sein Heimatland Belarus abgeschoben werden solle. Als unerwünschte Person darf er acht Jahre lang nicht nach Russland einreisen. Sucharewa spricht von schweren Menschenrechtsverletzungen. Im Urteil finde sich kein Wort über eine Ausweisung und ein Einreiseverbot. Nazar sei dort verheiratet und gemeldet. Dass die Ehe offensichtlich nicht anerkannt wird, stelle eine weitere Diskriminierung von Nazar als Transperson dar. Sucharewa wird weiter für Nazar kämpfen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen