Touristenvisa für Russ:innen: Nicht die Falschen bestrafen
Der Vorstoß, Russ:innen die Einreise zu verwehren, ist unüberlegt. Für Privilegierte würde sich nichts ändern, und Putin-Kritiker:innen säßen fest.
N achdem einige europäische Staaten keine Touristenvisa mehr an Russ:innen vergeben, gab es aus den Reihen der Union einen ähnlichen Vorstoß in dieser Richtung. Bundeskanzler Olaf Scholz lehnte die Forderung zu Recht ab, und selbst aus den CDU-Reihen wurde inzwischen Kritik daran laut. Eine solche Maßnahme träfe schlicht die Falschen.
Schön wäre, wenn nur Putinunterstützer:innen die Einreise in die EU verboten werden könnte. Doch gerade reiche, regime-nahe Russ:innen verfügen oft über den sogenannten goldenen Pass. Sie haben sich in Ländern wie Zypern oder Malta eine zweite Staatsbürgerschaft mit Geld besorgt und könnten auch bei einem generellen Visaverbot in der EU frei umherreisen.
Zwar sollen diese Pässe künftig nicht mehr ausgeteilt werden, doch Halter:innen, denen die jeweilige Staatsbürgerschaft nicht entzogen wurde oder gegen die explizit keine Reisesanktionen ausgesprochen wurden, können weiterhin von ihrem zweiten Pass Gebrauch machen. Gerade die, die man mit dem Visastopp treffen will, kämen ungeschoren davon.
Davon abgesehen erscheint die CDU-Forderung wie ein billiges Nachahmen der Politik anderer EU-Staaten und wie ein Ablenkungsmanöver von der eigentlichen und viel sinnvolleren Debatte über Sanktionen gegen Russland, wie zum Beispiel ein Gasembargo. Nach jahrelanger russlandfreundlicher Politik hat gerade die Union Deutschland in die fatale Gasabhängigkeit von Russland geführt, die uns aktuell beschäftigt.
Das Visum kann lebenswichtig sein
Die Forderung nach einem Stopp der Visavergabe ist auch insofern nicht zu Ende gedacht, da sie insbesondere die russische Opposition treffen würde. Im Gegensatz zu CDU-Politiker:innen müssen Regierungskritiker:innen in Moskau mit harten Restriktionen bis hin zu langjährigen Haft- und Lagerstrafen rechnen.
Schon kurz nach Russlands flächendeckendem Angriff gegen die Ukraine verließen Tausende Russ:innen dank der Touristenvisa ihre Heimat. Wenn die Vergabe solcher Visa jetzt gestoppt wird, wären Oppositionelle, Medienschaffende und Angehörige der LGBT+-Community, die noch nicht fliehen konnten, im schlimmsten Fall gezwungen, in Russland zu bleiben.
Das deutsche Innenministerium vergibt zwar humanitäre Visa, die Einzelfallprüfung dauert jedoch viel zu lang und oft werden die Anträge abgelehnt. Solange es keine schnelle und problemfreie Bearbeitung von Visaanträgen russischer Oppositioneller gibt, darf Deutschland den Fluchtweg über Touristenvisa nicht verbauen. Die Reise in die EU hat nichts mit Shopping zu tun, sondern sie kann überlebenswichtig sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen