Tödlicher Unfall in der Leipziger Straße: Populismus hilft jetzt nicht weiter
Nach dem Tod von zwei Menschen gibt es viel Kritik an der Verkehrspolitik des schwarz-roten Senats. Die scheint nicht wirklich durch Fakten gedeckt.
W enn Menschen sterben und dann auch noch ein Kind dabei, ist das meistens schrecklich, egal ob wie jetzt in der Leipziger Straße im Verkehr oder zuhause. Was es dabei nicht braucht: Versuche, diese Todesfälle für die eigenen Ziele zu nutzen, ja, zu instrumentalisieren. Das aber passierte nach dem tödlichen Unfall am vergangenen Samstag, durch Äußerungen im Netz wie auch bei einer Mahnwache am Tag darauf.
Von der Deutschen Umwelthilfe etwa war beim Kurznachrichtendenst „X“ zu lesen: „Jeder, der die Verkehrssituation auf der Leipziger Straße kennt, weiß: Die Toten von Berlin sind die Opfer einer autogerechten Stadt.“ Leider habe Berlin momentan einen schwarz-roten Senat, „der dieses Problem ignoriert und stattdessen Tempo-30-Zonen abschafft“.
Der Verein Fuss wiederum beließ es nicht bei einer Attacke auf den Senat insgesamt, sondern griff Verkehrssenatorin Manja Schreiner (CDU) direkt an: „Sie haben angekündigt, dass Sie hier auf diesem Stück Straße sowie an 29 anderen Hauptstraßen das aktuelle Tempolimit wieder von 30 auf 50 hochsetzen wollen“, hieß es im Rahmen der Mahnwache von der Fußverkehrs-Lobby. Spätestens seit den Todesfällen „sollten Ihnen die Augen geöffnet sein.“
Und im Bundestag riefen grüne Verkehrspolitiker schnell nach Fahrtauglichkeitstests bei Senioren – weil der mutmaßliche Unfallverursacher 83 Jahre alt war.
Tragischer Fall mit mehr als einer Facette
Die Sache ist bloß: Zum Unfallzeitpunkt galt auf der Leipziger Straße das geforderte Tempo 30 – und der renommierte Unfallforscher Siegfried Brockmann ordnete die berichtete Raserei des 83-Jährigen im Tagesspiegel als „eher typisch für junge Fahrer“ ein: „Für einen Senior ist dieser Unfall völlig untypisch.“ Gleichzeitig weist er den Unfallopfern bei aller Tragik eine Mitverantwortung zu: „Der gesunde Menschenverstand verbietet es, dort diese Straße zu überqueren.“
Nach bisheriger Kenntnis hatte die von dem Auto erfasste Frau mit ihrer Tochter die Leipziger Straße zwischen sich dort stauenden Autos überquert statt rund 100 Meter entfernt an einer Fußgängerampel. Durch eine Lücke zwischen den Autos traten sie auf den Radweg, wo der 83-Jährige widerrechtlich, wiederum nach bisherigem Kenntnisstand, am Stau vorbei zu fahren versuchte und das mit überhöhter Geschwindigkeit.
Richtig ist: Wäre der Radweg von der Fahrbahn abgetrennt gewesen, mit Pollern oder einer Seitenwand, hätte das Auto dort nicht hinkommen können. Was aber genauso hätte passieren können: Mutter und Tochter hätten abrupt vor einem Radler stehen können, der dort völlig legal mit 30 km/h unterwegs ist. Auch das hätte zu schwersten Verletzungen bis zum Tod führen können, auch beim Radfahrer.
Und auch eine Absperrung allein schützt nicht komplett: An Kreuzungen ist sie zwangsläufig unterbrochen – gegen Raser, Rot-Ignorierer und Schulterblick-Vergesser hilft dort bloß, selbst vor allem auf Abbiegespur und einmündenden Verkehr zu schauen.
Klärung der Schuldfrage ist Sache der Justiz
Den Unfall mit der schwarz-roten Verkehrspolitik in Verbindung zu bringen, ist durch die vorliegenden Fakten des Unfalls nicht gedeckt. Führt man die Debatte auf derart populistische Weise, könnte man auch den Grünen Versäumnisse vorhalten. Dann ließe sich fragen: Warum gibt es an dieser Stelle nicht aus deren Regierungszeit heraus längst einen geschützten Radweg?
Immerhin wurde das Mobilitätsgesetz schon im Sommer 2018 im Abgeordnetenhaus zur Zeit einer rot-rot-grünen Koalition beschlossen. Und während die CDU-Politikerin Schreiner seit weniger als elf Monaten Verkehrssenatorin ist, besetzten die Grünen ab Dezember 2016 fast sechseinhalb Jahre lang dieses Amt.
Schuld ist aber keine Grüne und auch keine CDU-Verkehrssenatorin. Schuld ist, folgt man Unfallforscher Brockmann, auch nicht das Alter des Fahrers. Mit der Schuldfrage wird sich die Staatsanwaltschaft befassen und mutmaßlich ein Gericht. Was sich konkret an der Leipziger Straße verbessern muss, ist nüchtern zu klären – und nicht mit verkehrspolitischem Populismus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe