Todesschüsse in Dortmund: Ein verstörender Prozess
Im August 2022 erschoss die Polizei den Geflüchteten Mouhamed Dramé. Vor Gericht offenbart sich in den ersten Prozesstagen das Versagen des Staates.
Getroffen wirkt am Mittwoch auch der vom Dienst suspendierte Polizist. Vom Tod des 16-jährigen Jugendlichen habe er erst nach Ende des Einsatzes erfahren – auf der Polizeiwache in der migrantisch geprägten Dortmunder Nordstadt. „Das ist so, als ob das Herz stehen bleibt“, sagt Fabian S. an diesem 13. Prozesstag in seiner ersten Aussage vor Gericht. „Ich habe mich jeden Tag gefragt, was ich hätte anders machen können. Ich habe sein Gesicht jeden Tag vor Augen“, sagt der Kommissar.
Eine Verurteilung wäre das Ende seiner Polizeikarriere. Schon zu Prozessbeginn hat der Todesschütze seinen Anwalt Christoph Krekeler deshalb erklären lassen, er habe sich von dem 16-Jährigen bedroht gefühlt. „In dieser Situation“, betonte Krekeler, „kam es meinem Mandanten auf die Hautfarbe von Mouhamed Dramé überhaupt nicht an.“
Nicht nur Aktivist:innen werfen der Polizei dagegen „strukturellen Rassismus“ vor. Nichts anderes habe Mouhamed Dramé das Leben gekostet, glauben sie. Denn der Polizeieinsatz, den Zeug:innen und Beschuldigte vor Gericht immer wieder schildern und der den Teenager das Leben kostete, wirkt bei jeder Beschreibung erneut verstörend.
Schließlich war ein Hilferuf Auslöser für die tödlichen Schüsse: Am 8. August 2022, einem Montag, hockt der Geflüchtete im Innenhof einer Jugendhilfeeinrichtung. Der 16-Jährige hält ein Messer gegen seinen Bauch. Betreuer:innen sprechen ihn an – doch Dramé reagiert nicht, lässt das Küchenmesser nicht los. Um 16.25 Uhr bittet der Chef der Jugendhilfeeinrichtung deshalb die Polizei per Telefon um Hilfe. Um 16.44 Uhr, nur 22 Minuten nach dem Notruf, schießt Fabian S. Neben ihm sind vier weitere Polizist:innen angeklagt – drei wegen gefährlicher Körperverletzung, der Einsatzleiter Thorsten H. wegen Anstiftung dazu.
Reizgas ohne Alternative?
Verstörend wirkte auch, wie Thorsten H. den von ihm geleiteten, katastrophal gescheiterten Einsatz am 11. Prozesstag im April beschrieb. Plan sei gewesen, Dramé durch massiven Pfeffersprayeinsatz dazu zu bringen, sich die Augen zu reiben und dafür das Messer fallen zu lassen, erklärte der Dienstgruppenleiter. Zur Eigensicherung seien außerdem zwei „Distanzelektroimpulsgeräte“, also Elektroschocker, sowie die Maschinenpistole in Stellung gebracht worden.
Alternativlos sei der von ihm angeordnete Pfeffersprayeinsatz gewesen, glaubt Einsatzleiter H. noch heute. Schließlich habe er unter massivem Zeit- und damit Handlungsdruck gestanden: „Soll ich warten, bis sich Herr Dramé ein Messer in den Bauch rammt? Und 11 Polizisten stehen drumrum und tun nichts“, fragte er vor Gericht. „Das kann nicht Sinn der Sache sein.“
Doch der Plan scheiterte. Kurz nach dem Reizgaseinsatz richtete sich Mouhamed Dramé auf und bewegte sich in Richtung der Polizist:innen – der Geflüchtete saß ja in eine Art Sackgasse fest: Vor ihm war ein hoher Metallzaun, hinter und links neben ihm waren Gebäudemauern. Die Beamt:innen werteten die Bewegung als Angriff. Ohne Vorwarnung setzten sie zunächst die beiden Elektroschocker ein. Nur 0,7 Sekunden später zog Fabian S. dann auch den Abzug der Maschinenpistole.
Begründet haben Zeug:innen dies immer wieder mit der sogenannten „Sieben-Meter-Regel“: Danach sei es zum Selbstschutz zwingend nötig, auf einen mit einem Messer bewaffneten Angreifer zu schießen, wenn dieser weniger als sieben Meter entfernt sei. „In der Situation ging’s um die Frage: Sticht er zu – oder schießt die Polizei?“, erklärte auch deren oberster Dienstherr, Nordrhein-Westfalens CDU-Innenminister Herbert Reul, kurz nach der Tat.
Doch auch Reul hat „zunehmend Zweifel“ am Vorgehen seiner Beamten, die in jedem Streifenwagen gleich zwei Maschinenpistolen mitführen. Denn auf die Idee, die Lage „statisch“ zu halten und zur Betreuung Mouhamed Dramés psychologische Hilfe hinzuzuziehen, kam der Einsatzleiter nicht.
Jahrelange Odyssee
Dabei war klar, dass Dramé psychische Probleme hatte. In einer jahrelangen Odyssee war der Teenager über Mali, Mauretanien, Marokko und Spanien nach Deutschland gekommen. Nach seinen Angaben ertrank sein Stiefbruder im Mittelmeer. In der Dortmunder Jugendhilfeeinrichtung, wo Dramé seit wenigen Tagen lebte, konnte er sich kaum verständlich machen – der 16-Jährige sprach nur Französisch und die senegalesische Landessprache Wolof.
Zwei Tage vor seinem Tod hatte er seine Sachen gepackt und war abgehauen. Die Polizei griff ihn auf und brachte ihn in die Psychiatrie. Dramé gehörte damit zu den etwa eine Million Geflüchteten, die unter psychischen Erkrankungen wie posttraumatischen Belastungsstörungen leiden. Doch wie der Großteil von ihnen erhielt er keine adäquate Hilfe – die Klinik sah „keine akute suizidale Gefährdung“.
Zwei Tage später starb Mohamed Dramé. „Ich möchte nicht wissen, wie man sich fühlt, wenn man einen Angehörigen auf solche Art verliert“, erklärte der Polizei-Schütze Fabian S. am Mittwoch in einem persönlichen Wort an zwei Brüder Dramés, die den Dortmunder Prozess mithilfe von Spendengeldern beobachten können. „Ich erwarte nicht, dass man mir glaubt – aber es tut mir sehr leid.“
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