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Südliche Friedrichstadt und MehringplatzDas vergessene Quartier

Der Mehringplatz ist das ärmste Viertel in Berlins Mitte. Autorin Manja Präkels schaut dort seit Jahren dem städtischen Gefüge beim Zerbrechen zu.

Welt mit Widerhall: Die Nachbarfschaft bildet die kriegerischen Konflikte der letzten Jahrzehnte ab Foto: Sebastian Wells

Berlin taz | Wir leben in einer Schlucht. Das Heulen des Windes, wenn er zwischen den Hochhäusern hindurchfegt, wird begleitet von Verwirbelungen. Ich habe einen Luftballon im Zickzackkurs bis hoch in die 17. Etage fliegen sehen. Oder war es eine Plastiktüte? Der Mond ist heller dort oben. Wenn unten, vorm Edeka, ein Hund bellt, klingt es, als säße er uns zu Füßen.

Am erwachenden Morgen rauschen die Straßen ringsum wie das Meer. Kehrfahrzeuge schieben Laub und Müll vor sich her. Es ist besser, die Fenster zu schließen. Sonst kann es vorkommen, dass ein Stück von letzter Nacht hereinfliegt. Eine Kippe vielleicht. Oder ein Kondom.

Vor vielen Jahren, ich war gerade erst in der Stadt angekommen, fuhr ich täglich von Pankow nach Dahlem und zurück. Dass die U1 ab Warschauer Straße als Hochbahn durch Kreuzberg führt, verkürzte den langen Weg erheblich. Ich, die an leere Landschaften gewöhnte Exilbrandenburgerin, schaute und staunte.

Am Halleschen Tor blieb mein Blick stets am Rondell kleben, dem Mehringplatz-Ensemble mit seinen geschwungenen Balkonen, unter denen die Leute durchliefen. Dahinter Hochhäuser, wie sie auch am Springpfuhl in den Himmel ragen, Wohnkomplexe, in die ganze Kleinstädte passen. Irgendwo stand immer einer und pisste in die Büsche. Ich fragte mich, wie es wohl wäre, dort zu wohnen. In der ruppigen Mitte der Stadt.

Fliegende Joints und stabile Markisen

Dann zog ich tatsächlich hierher. Mein zweites Hochhaus nach missglücktem Frühversuch in Marzahn. Kein Kohlenschleppen mehr wie in Pankow, vorbei die Zeit des improvisierten Duschens in der Küche, stattdessen: ein Balkon.

Manchmal wirft einer von ganz oben einen Joint achtlos runter, manchmal schmeißen die Kinder Spielsachen über die Brüstung. Unter uns, auf dem Vorbau, liegen dann Lichtschwerter oder Bälle. Selbst Spielkonsolen wurden schon gesichtet, Kochtöpfe und zerschlagenes Geschirr.

Das Rondell am Mehringplatz zieht von der U1 aus die Blicke auf sich Foto: imago

Die Markise schützt vor herabfallenden Bierflaschen. Ich habe mich daran gewöhnt. Der Stoff kann was ab. So wie die Leute, die hier wohnen. Beim Flanieren im Rondell: verächtliche Blicke, misstrauische. Auch stolze: Wir sind nicht wie ihr. Im Fahrstuhl das Westberliner Rentnerpaar: „Endlich sieht man mal eine Deutsche.“ Mir fällt vor Schreck keine Entgegnung ein.

Jungs machen vor dem Edeka auf Macker

Als ein Freund aus Krakau zu Besuch kommt, ist er sich nicht sicher, ob er die Kippa besser abnehmen sollte. Am Vorabend war er beim Spaziergang durch Neukölln übel bedroht worden. Ich erzähle ihm von den Jungs, die vor dem Supermarkt auf Macker machen und die Häuserschlucht allabendlich als Bühne nutzen. Ein paar von denen grüßen mich, aber nur, wenn sie allein sind.

Auch unser schwuler Nachbar hatte anfangs Angst. „Aber alles in allem liebe ich es, hier zu wohnen.“ In einer Nachbarschaft, deren Mischung die weltweiten Verteilungskämpfe und kriegerischen Konflikte der letzten Jahrzehnte abbildet. Jüdische Rentner aus der ehemaligen Sowjetunion Tür an Tür mit Palästinensern, Roma, vor dem Krieg in Jugoslawien geflohenen Serben und Bosniern.

Das städtische Gefüge zerbricht. Man kann es spüren wie die Vibration der U6 unter den Füßen

„Wir Türken waren zuerst hier“, erklärt mir ein Hundebesitzer, während sich unsere Tiere über den Platz jagen. Ein anderer, geboren in Moskau, schimpft auf „die Araber“, die im Sommer alle Parks verstopfen würden. Eine Shisha rauchende Omi lächelt uns dabei von ihrer Parkbank zu. Das Kopftuch betont ihre hellen Augen.

Mein allererstes Gespräch mit einer Nachbarin führte ich am Hauseingang, wo damals noch ein Bild der zerbombten Südlichen Friedrichstadt hing. Wir versuchten, uns zwischen den Trümmern zu orientieren: „Das muss der Mehringplatz sein!“ Sie lachte und sagte: „Wie Bagdad.“

Und heute? Der Mehringplatz eine ewige Baustelle. Verwüstet. Verelendet. Das infernalische Gebrüll der Trinker und haltlosen Jugendlichen begleitet unser aller Nächte wie Eiszapfen in den Ohren.

Investoren, Pläne, Abriss

Dagegen die neu entstandenen Lebenswelten gleich nebenan. Wo vor den Neubauten junge Eichen und hübsche Beete gepflanzt werden. „Kein Hundeklo“ steht auf einem Schild. Für Hunde unlesbar. Die neu eröffneten Cafés und Geschäfte gegenüber dem Jüdischen Museum sind für meine Nachbarn so unsichtbar wie sie für deren Kunden.

Das städtische Gefüge zerbricht. Man kann es spüren wie die Vibration der U6 unter den Füßen. Seit aus dem kleinen Kaiser’s Edeka geworden ist, gibt es am Fleischstand kein doppelt gewolftes Rindfleisch für Lahmacun mehr, dafür Schweinefüße.

Abends spendet der Markt Trost und Licht für alle, die nicht nach Hause wollen. Oder können. Im nächsten Jahr ist Schluss damit. Investoren, Pläne, Abriss. Das bestürzt, doch wundert sich längst niemand mehr. Seit wir eingezogen sind, macht Laden für Laden dicht. Erst der mit den günstigen Kleidern, dann die Raucherkneipe, das einzige Restaurant. Die Zerstörung solcher kleiner Welten geht schnell. Ihr Aufbau dauert Jahre. Aber Anfänge gibt es immer.

Ein Nachbarjunge ruft den Namen meines Hundes in die Schlucht hinein. Beide rennen aufeinander zu. Wir lachen. Mit Echo.

Einen Schwerpunkt darüber, was alles schief läuft im Kiez um den Mehringplatz, lesen Sie im Berlin-Teil der taz am Wochenende, erhältlich im Zeitschriftenhandel und im eKiosk – es geht um die andauernde achtjährige Sanierung der örtlichen Grundschule, fehlende Freiräumen für Jugendliche, ebenso zeigen neue Nachbarfschaftsprojekte im Gemeinschaftsgarten Perspektiven auf.

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4 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Der Mehringplatz ist seit vielen Jahren eine Baustelle -- man fragt sich, warum da niemand weiterkommt. Absolut trostlos. Eine Beleidigung für die Anwohner. Mit ein wenig Geld für bessere Bepflanzung wäre schon viel getan gewesen. Immerhin, die U-Bahn ist jetzt mit nem neuen Aufzug barrierefrei. Aber warum brauchen so kleine Veränderungen 5 Jahre?



    Trotzdem gibt es mehrere nette Cafés und Initiativen dort und einen Laden, in dem man z.B. neben Lebensmitteln tolle Olivenseife aus Aleppo(oder dem Irak) kaufen kann(gut für die Hände in Coronazeiten). Auf dem Markt gab es mal jemanden mit einem Riesenangebot an Kräutern und Gewürzen. In dem Hochhaus, in dem mein Freund lebt, gehen die bunt gemischten Bewohner sehr höflich miteinander um, unter ihnen auch britische Künstlerinnen, bosnische, arabische und russische Akademiker neben den bereits benannten Gruppen. Im Edeka ist der Umgang mal so, mal so. Der Taz-Bau gehört ganz offensichtlich zu einer anderen Welt, den der prekären Mittelschicht, aber das muss ja nicht immer so bleiben. Etwas mehr Motz-Laden Atmo würde der Taz nicht schaden.

    • @Ataraxia:

      Schönes Schreibgefühl!

      Die Olivenseife hät'ch och gerne!

  • Schöner, besser, präziser Bericht.



    Ich sehe das aus Richtung Springfuhl und stelle fest, hier gehts eigentlich.



    Schade um den mißglückten Frühversuch.Das ..Westberliner Rentnerpaar..gibt noch Hoffnung.



    Die Kleinigkeiten bringens immer.. Der Stoff kann was ab... oder... Für Hunde unlesbar..



    Das ist schön.

  • 0G
    02881 (Profil gelöscht)

    Danke für den Text! Sie hatten vor einiger Zeit schon mal über die Gegend geschrieben..., oder? Bitte mehr davon!!