Suche nach Endlager für Atommüll: Unter der Oberfläche
Ende September werden Standorte benannt, an denen ein nukleares Endlager errichtet werden könnte. Dann wird die heftige Debatte erst losgehen.
F ür den Tag, an dem in Deutschland die Atomdebatte mit einem Knall zurückkehren wird, ist alles vorbereitet: Der Saal der Bundespressekonferenz in Berlin ist für den 28. September, 10 Uhr, reserviert. Hier werden dann die Geschäftsführer der Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) einen Report präsentieren, der es in sich hat: Der „Zwischenbericht Teilgebiete“ stellt die Weichen, wo in Deutschland ein Endlager für den gefährlichen nuklearen Abfall gebaut werden soll.
Der Bericht soll bis zum 28. September unter Verschluss bleiben. Nur so viel ist bislang klar: Auf etwa 400 Seiten mit blauem Einband hat die Behörde Daten über den Boden in Deutschland zusammengetragen und definiert etwa 70 Regionen, die für ein solches Lager infrage kommen. Die Aufsichtsbehörde, das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE), weist in Anzeigen auf den Termin und die Bürgerbeteiligung hin. Slogan: „Das letzte Kapitel schreiben wir gemeinsam.“
Aber ein Kapitel wird in dem Bericht zur Suche nach einem Endlager für den hochradioaktiven Müll fehlen: Die heimliche Suche nach einem zweiten, deutlich umfangreicheren Endlager für mittel und schwach radioaktiven Müll. Während sich die gesamte Aufmerksamkeit auf die Einlagerung der 10.500 Tonnen extrem radioaktiven und giftigen Abfälle konzentriert, läuft praktisch unbemerkt auch die Suche nach einem weiteren Standort an: Gesucht wird zusätzlich eine letzte Ruhestätte für bis zu 300.000 Kubikmeter Strahlenmüll, die zum großen Teil aus dem skandalumwitterten Bergwerk Asse II stammen. Behörden, Aufsichtsgremien und ExpertInnen schweigen sich darüber gern aus. „Die Thematik läuft völlig unter dem Radar“, sagt dazu Heinz Smital, Atom-Experte bei Greenpeace.
Dass überhaupt ein weiteres, bisher unbekanntes Lager gesucht werden muss, ist eine Folge von Schlampereien und Versäumnissen der letzten Jahrzehnte. Ursprünglich sah die Planung so aus: Die „abgebrannten“ und damit hochradioaktiven Brennstäbe, die über 59 Jahre in den 38 deutschen kommerziellen Atomkraftwerken Strom erzeugt haben, wandern in das Endlager, das ab jetzt gesucht wird. Der schwach- und mittelstrahlende Müll – Bauteile aus den AKWs, Abfall aus der Uranbehandlung, Kleidung, medizinisches Gerät zum Röntgen – verschwindet im Schacht Konrad bei Salzgitter: ein altes Eisenerzbergwerk, 30 Jahre umkämpft und mit immer neuen Auflagen und Ausnahmeregeln durchgesetzt, für 4,2 Milliarden Euro eingerichtet und mit der unterirdischen Ausdehnung einer Kleinstadt. Wer auf der A 39 Richtung Braunschweig fährt, sieht den Förderturm von Konrad weithin durch die flache Landschaft – geschützt als Industriedenkmal.
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So weit, so geordnet. Aber niemand hatte bei diesen Plänen die „Asse“ auf der Rechnung. In diesem Salzbergwerk, etwa 20 Kilometer südöstlich von Konrad, wurden über die Jahrzehnte insgesamt 47.000 Kubikmeter von mittel- und leicht strahlendem Abfall aus der Forschung und aus den Atomkraftwerken abgekippt. Das geschah so dilettantisch und fehlerhaft, dass Wasser in die Stollen einbrach und radioaktiv wurde, die Standfestigkeit der Stollen umstritten war und einige der gelbgestrichenen Fässer mit dem schwarzen Emblem der Strahlenwarnung verrosteten und zerbröckelten. 2013 beschloss der Bund, den gesamten Müll wieder an die Oberfläche zurückzuholen. Bis 2027 sollen nun die dubiosen Gebinde wieder auftauchen, neu und sicher verpackt werden. „Niemand weiß, wie sehr das Zeug radioaktiv brummt“, sagt ein Experte. „Und was da noch alles mit nach oben kommt.“
Das Asse-Erbe wird inzwischen auf etwa 200.000 Kubikmeter geschätzt – weil große Teile des Gesteins nun auch entsorgt werden müssen. Wohin damit? Niemand weiß es. Konrad ist voll und für den Asse-Inhalt nicht genehmigt. Dazu kommen etwa 100.000 Kubikmeter von strahlendem Abfall aus der Urananreicherungsanlage der Urenco in Gronau in Nordrhein-Westfalen.
Entstanden ist damit ein Berg von etwa 300.000 Kubikmetern Problemabfall, von dem niemand weiß, wie er zu entsorgen wäre. Das Nationale Entsorgungsprogramm aus dem Bundesumweltministerium sieht denn auch für die Suche nach einem Endlager für den hochradioaktiven Müll vor, dass „auch die radioaktiven Abfälle, die aus der Schachtanlage Asse II zurückgeholt werden sollen, bei der Standortsuche für dieses Endlager berücksichtigt werden. Gleiches gilt für das angefallene und anfallende abgereicherte Uran aus der Urananreicherung.“
Die zuständigen Behörden befinden sich nun in einem Dilemma: Sollen sie die Öffentlichkeit gleich am Anfang der heiklen Endlagersuche mit diesen Plänen verschrecken – oder sollen sie darüber gar nicht erst reden? Sie verschweigen die Suche nach dem zweiten Endlager nicht – wenn man tief genug in die Materie einsteigt, um sie danach zu fragen. Eine Lagerstätte für den schwach- und mittelstark strahlenden Müll könne „ein wünschenswertes Nebenprodukt“ bei der Endlagersuche sein, bestätigt Wolfgang Cloosters, Abteilungsleiter „Nukleare Sicherheit, Strahlenschutz“ im Bundesumweltministerium, der taz. Das „Standortauswahlgesetz“ sehe vor, „diese Frage mitzuprüfen“. Klar sei aber: Die Suche nach dem Lager für den hochradioaktiven Abfall habe die Priorität des Verfahrens: „Erst wenn die Kriterien für das Endlager für hochradioaktive Abfälle festgelegt sind und ausreichende Informationen zu Menge, Beschaffenheit und Zeitpunkt des Anfalls der aus der Schachtanlage Asse II zurückzuholenden radioaktiven Abfälle vorliegen, wird über die Asse-Abfälle abschließend entschieden“, erklärt Cloosters.
So deutlich sind die Behörden sonst nicht. Auf der Homepage der Bundesgesellschaft für Endlagerung heißt es: „Die Endlagersuche in Deutschland hat das Ziel, den Standort in Deutschland für die Tiefenlagerung der hochradioaktiven Abfälle zu finden“- von den Asse-Abfällen ist erst mal keine Rede. Die Webseite endlagersuche-infoplattform.de der zuständigen Aufsichtsbehörde BASE klärt auf über die „Entstehung von radioaktivem Abfall mit zu vernachlässigender Wärmeentwicklung“, die im Schacht Konrad gespeichert werden. Dann heißt es: „Darüber hinaus gibt es weitere Abfälle“ – aber darüber hinaus dort keine Informationen. Und für „hoch radioaktive Stoffe, die 5 Prozent der Menge, aber 99 Prozent der Strahlung ausmachen, wird derzeit ein Endlager gesucht“. Dass das Gleiche auch für die 95 Prozent der Menge mit einem Prozent der Strahlung gilt, erfährt der Interessierte nicht.
Wie umstritten in der Bevölkerung aber auch schwach- und mittelradioaktiver Abfall sein kann, beweist nicht nur der jahrzehntelange Kampf um den Schacht Konrad. Es zeigt sich derzeit auch im westfälischen Würgassen. Im Dreiländereck von Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen macht die Weser eine sanfte Kurve, Felder und Wälder säumen das Ufer in hügeliger Landschaft. Direkt am Fluss liegt das Gelände des ehemaligen Atomkraftwerks, das bis 1994 Strom produzierte.
Jetzt will der Bund hier nur ein Logistikzentrum bauen, um die mittel und leicht strahlenden Gebinde aus der ganzen Republik für ihren Weg nach Konrad neu zusammenzustellen – kein Vergleich mit einem Endlager. Doch die Anwohner in dem malerischen Ort wehren sich dagegen, eine Bürgerinitiative „Atomfreies 3-Ländereck“ protestiert bei Anhörungen, der Kreistag in Holzminden votierte gegen das Projekt, 13 Landkreise und Städte haben sich angeschlossen, der Landtag in Hannover befasst sich mit den Plänen. Und selbst Uwe Schünemann, der als CDU-Innenminister die Polizei nach Gorleben schickte, setzt sich aus Protest gegen den Standort auf die Gleise nach Würgassen.
Es gibt also gute Gründe, die Suche nach einem zweiten Endlager nicht an die große Glocke zu hängen. In den einschlägigen Gesetzen ist das Vorhaben zwar auch zu finden – wenn man weiß, wo man suchen muss. Im „Gesetz zur Suche und Auswahl eines Standorts für ein Endlager für hochradioaktive Abfälle“ versteckt sich in Paragraf 27 (5) der Passus, es müsse beurteilt werden, „inwiefern in dem jeweiligen Gebiet zu erwarten ist, dass eine zusätzliche Einlagerung größerer Mengen schwach- und mittelradioaktiver Abfälle möglich ist“. Erst die „Verordnung über Sicherheitsanforderungen und vorläufige Sicherheitsuntersuchungen für die Endlagerung hochradioaktiver Abfälle“ reserviert für den kleinen Bruder des stark strahlenden Lagers einen eigenen Paragrafen: § 21 „Endlagerung von schwach- und mittelradioaktivem Abfall am selben Standort“ fordert, dass der zusätzliche Müll die „Robustheit“ des stark strahlenden Lagers nicht beeinträchtigen und keine weitere Strahlung in die Umwelt gelangen dürfe.
Vor allem aber sieht die Verordnung vor, dass für diese Abfälle „ein separates Endlagerbergwerk aufzufahren“ sei. Zu Deutsch: Wenn ein Standort für das hochradioaktive Mülllager gefunden ist, können da nicht einfach noch ein paar Kammern für den Müll aus der Asse gegraben werden. Nein: Es braucht auch am selben Standort ein eigenes, unabhängiges Bergwerk.
Ein atomarer Endlagerkomplex „wird nicht irgendwo im Wald verschwinden, sondern eine große industrielle Infrastruktur“ werden, sagt Julia Neles, die beim Öko-Institut Darmstadt die Abteilung „Entsorgung/Nukleartechnik“ leitet. Je nachdem, in welchem Gestein man den Müll lagert, schwankt nach BGE-Angaben die unterirdische Ausdehnung: Unterbringung in Salz benötigt drei, in Kristallin sechs und in Ton zehn Quadratkilometer. In sicherem Abstand dazu könnte dann ein zweites Bergwerk für den Asse- und Urenco-Müll entstehen. Das würde Ausmaße wie bei Schacht Konrad haben, schätzt Neles.
Auch oberirdisch braucht so ein Lager eine Menge Platz. In der Schweiz, wo die Endlager-Pläne deutlich weiter sind, rechnet die nationale Behörde Nagra dafür mit 10 bis 12 Hektar, ohne Erschließung und Abraumlagerung. In Deutschland käme noch ein „Eingangslager“ für die Transportbehälter vor ihrer Einlagerung dazu. Dann müsste es noch eine „Umverpackunganlage“ geben, wo die Brennstäbe in Endlagerbehälter umgefüllt werden könnten.
Über die Ausmaße eines solchen Endlagerkomplexes wird derzeit auch da nicht gesprochen, wo die Bevölkerung mitarbeitet: Im „Nationalen Begleitgremium“, kurz NBG. „Wir konzentrieren uns auf die Suche nach einem Standort für den hochradioaktiven Müll“, sagt Armin Grunwald, Leiter des Instituts für Technikfolgenabschätzung am Karlsruher Institut für Technologie und Co-Vorsitzender des NBG. In der 18-köpfigen Gruppe sind ehemalige PolitikerInnen, ExpertInnen, BürgerInnen und JugendvertreterInnen versammelt, um den Prozess der Endlagersuche transparent zu machen. „Diese Frage nach einem zweiten Lager stellt sich frühestens während der näheren Erkundung der Standortregionen, die ab 2022 beginnt.“
Jochen Stay,Atomkritische Initiative
Die zweite Standortsuche „zu verschweigen, ist ein Fehler, der nach hinten losgehen wird“, warnt dagegen Jochen Stay von der atomkritischen Initiative „ausgestrahlt“. Er befürchtet: „Der Suchprozess geht insgesamt grandios schief, weil für die Standortauswahl nicht die größte Sicherheit zählen wird, sondern politische Erwägungen.“ Die betroffenen Regionen würden ganz unterschiedlich reagieren, wenn das Endlager zu ihnen kommen solle. „Und wenn es dann später heißt, da bauen wir gleich noch ein zweites daneben, dann verschärft es die Lage nochmal deutlich.“
Vorerst widmet sich das NBG dem Lager für den hochradioaktiven Müll. Mitte Juni 2020, das Gremium trifft sich zu seiner 39. Sitzung im Berliner Estrel-Hotel. Draußen ist ein heißer Tag, durch den abgedunkelten Konferenzraum schickt die Klimaanlage einen eisigen Wind.
Die NBG-Mitglieder, die meisten von ihnen nukleare Laien, sind engagiert bei der Sache, sie debattieren respektvoll und hören sich zu. Doch in den stundenlangen Debatten untereinander, mit den Vertretern von Behörden und Politik blitzen immer wieder Unsicherheit, Nervosität und Misstrauen auf. Gerade hat der Bundestag dem NBG die Aufgabe übertragen, Daten zu überprüfen – die Mitglieder fühlen sich überfordert. „Unsere Aufgabe ist nicht machbar“, sagen manche, man solle „die Katze im Sack kaufen“, meinen andere.
Dazu kommt: Das Desinteresse an der Arbeit des NBG ist gewaltig. Bei der Sitzung im Juni gibt es von Beobachtern ganze zwei Fragen. Ein einzelner Journalist nimmt an der Sitzung teil. Der Livestream hat 29 Abrufe und einen Like. Aber allen ist klar: Die Betroffenheit Ende September in den ausgesuchten Regionen wird riesig sein. „Die Leute werden erst kommen, wenn sie merken: Huch, da ist ja irgendwas“, sagt die Sprecherin des BASE bei der Sitzung.
Das Nationale Begleitgremium hat einen zentralen Auftrag: Vertrauen in den Prozess zu schaffen. Doch die ganze Endlagersuche, angeschoben vom fast einstimmigen Beschluss der Endlagerkommission des Bundestags 2016, leidet immer wieder unter dem Misstrauen, das über Jahrzehnte zwischen Befürwortern und Gegnern der Atomkraft gewuchert hat. Auch jetzt argwöhnen viele Umweltschützer, alles laufe immer noch auf den umkämpften Standort Gorleben zu. Gerade hat der bayerische Umweltminister wieder für diesen Standort plädiert. „Viele Kritiker haben Angst, dass die Behörden mit einer langsamen Walze alles an Protest plattfahren“, sagt Greenpeace-Experte Heinz Smital. Da schade es dem Vertrauen, wenn die Behörden „die Problematik eines zweiten Endlagers unter dem Deckel halten“.
Zumindest auf dem Broschürenpapier klingt das von der Aufsichtsbehörde BASE ganz anders. „Information ist die Grundlage für eine gelungene Beteiligung“, heißt es im Prospekt „Kompaktwissen zur Endlagersuche“, der ebenfalls ein zweites Endlagerprojekt nicht erwähnt. Und weiter: „Die Konflikte der Vergangenheit zeigen, dass das Verfahren der Endlagersuche nur dann erfolgreich sein kann, wenn die Verantwortlichen und die Bevölkerung an einem Strang ziehen.“
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