Streit um Antifa-Sticker: Wie politisch darf Schule sein?
Die AfD schlägt Alarm – und Hamburgs Schulsenator springt. Seitdem wird über die politische Gesinnung von Schüler*innen einer 12. Klasse debattiert.
Erinnern wir uns: Ausgelöst wurde die Debatte durch ein paar polizei- und AfD-kritische Aufkleber der Altonaer Antifa in der Ida-Ehre-Schule. Die AfD schlug Alarm, Teile der Medien erklärten Antifaschismus zum Synonym für Linksradikalismus. Schulsenator Ties Rabe (SPD) ließ seine Schulaufsicht anrollen, die Antifa-Logos entfernen und löste damit eine stadtweite Solidaritätswelle mit der Schule aus. Deren Tenor: Antifaschismus an den Schulen sollte eine Selbstverständlichkeit sein und niemals ein Grund, die Schulaufsicht zu schicken.
Wie in jedem konkreten Konflikt steht die AfD, die fortwährend ein angebliches bundesdeutsches gegen sie gerichtetes Meinungskartell beklagt, nicht auf der Seite der Meinungsfreiheit, sondern auf der Seite der Zensur. Sie wünscht sich eine „neutrale“ Schule, frei von „politischer Indoktrination“. Und sie verkennt mit Absicht, dass zwischen Neutralität und Indoktrination ein sehr weites Feld liegt: das Feld der demokratischen Meinungsbildung, die von Position und Provokation, Kritik und Contra, Debatten und Argumenten lebt.
Auch der Senator beruft sich gebetsmühlenhaft auf die Neutralitätspflicht der Schulen – und verkennt dabei ihren Wesensgehalt. Das Neutralitätsgebot ist ein zentrales Verfassungsprinzip. Der Staat und seine Institutionen, darunter die staatlichen Schulen, dürfen danach weder einseitig für noch gegen eine nicht verbotene Partei agieren.
Position und Gegenposition
Für die Schulen ist dieses Gebot im „Beutelsbacher Konsens“ 1976 konkretisiert worden. Danach dürfen Lehrende ihren SchülerInnen keine Meinung aufzwingen, sie müssen Themen kontrovers darstellen, Positionen und Gegenpositionen in den Unterricht einfließen lassen und die Lernenden so befähigen, sich eine eigene Meinung zu bilden.
Zur eingeforderten Kontroverse gehört auch die kontroverse Auseinandersetzung mit der AfD. Der humanistische Bildungsauftrag der Schulen ist und bleibt mit vielen Positionen der AfD unvereinbar. Und der weltweit aufkeimende Nationalismus, der Umgang mit Geflüchteten und auch der vor allem die heutige SchülerInnengeneration bedrohende Klimawandel sind Themen, die aus dem Schulalltag nicht ausgespart werden können und dürfen.
Dass SchülerInnen und LehrerInnen keine eigene Meinung haben oder diese im Unterricht nicht äußern dürfen, dass, wie an der Ida-Ehre-Schule im Rahmen eines Kunstprojekts geschehen, keine antifaschistischen Slogans präsentiert werden dürfen, davon ist beim Neutralitätsgebot und im Beutelsbacher Konsens nicht die Rede. Politische Meinungsäußerungen dürfen nicht nur, sie müssen einen Platz an jeder Schule haben. Das ist die Atemluft jeder Demokratie.
Staatsbürgerliches Engagement
Schule als Ganzes soll und muss politisch neutral sein, doch das kann und darf nicht für jede einzelne Schulstunde, jedes Projekt, jede Meinungsbekundung gelten. Schule muss staatsbürgerliches Engagement befördern, der Politikverdrossenheit entgegenwirken, politische Debatte forcieren.
Für die Entwicklung dieser Gesellschaft brauchen wir mündige StaatsbürgerInnen mit Rückgrat und Engagement. Und wir brauchen an den Schulen Vorbilder – LehrerInnen mit Haltung, die auch eine erkennbare Meinung haben, die sie in jede Debatte einfließen lassen, ohne sie irgendjemandem überzustülpen. Das ist ein Balanceakt ohne Alternative. Nur Menschen mit Haltung können die kommende Generation zur Mündigkeit erziehen.
Fast schlimmer als die klare, meinungsfreiheitsfeindliche Position der AfD, an der sich Schüler und SchülerInnen abarbeiten können, ist der rückgratlose Wackelkurs der SPD. Wer die Schulaufsicht wegen ein paar Antifa-Slogans anrollen lässt, macht sich nicht nur zum Erfüllungsgehilfen der AfD, er schürt auch ein Klima der Meinungsunterdrückung an den Schulen.
Der Senator als schlechtes Vorbild
Erst wenige Tage davor bedrohte Rabe SchülerInnen mit Sanktionen, wenn sie während der Unterrichtszeit eine Klimawandel-Demo besuchen. Gleichzeitig wertete sein oberster Dienstherr, Bürgermeister Peter Tschentscher, dieselbe Demonstration mit seiner Spontanteilnahme auf – um mit eben jenen Schülerinnen zu diskutieren, die sein Senator gern vom Rathausmarkt weg und auf die Schulbank verbannt hätte: eine kuriose Interpretation des Neutralitätsgebotes.
Wenn der Schulsenator zudem in einer aufgeheizten Bürgerschaftsdebatte über die Vorfälle, die er in Gang gesetzt hat, nicht ein einziges Mal das Wort ergreift, ist er das denkbar schlechteste Vorbild für eine SchülerInnengeneration, die lernen sollte, für ihre Haltung mit breiter Brust einzustehen. Mit einem neutralitätsversessenen Wegduck-Senator lässt sich in Hamburg mit Sicherheit keine Schule machen.
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