Stimmungslage in der ukrainischen Hauptstadt: „Keine Lust mehr auf diese Angst“
Auf den Straßen von Kiew gehen die Meinungen über Russlands Absichten auseinander. Akut beunruhigt scheint niemand zu sein.
Die Corona-Gebote wie Abstand und das Tragen von Masken auf dem Weg zu seinem Platz im Restaurant befolgen die meisten Gäste jedoch nicht und die Kellnerinnen tragen ihre Masken oft auch nur über dem Mund. In der Gastronomie gilt offiziell 3G, doch kaum jemand will einen Nachweis sehen. Einen Grund für diese Unbeschwertheit gibt es nicht. Die Covid-Lage in der Ukraine ist nicht besser als in Deutschland. 150 Menschen sind, so das Portal des ukrainischen Gesundheitsministeriums, am Donnerstag in der Ukraine an Corona verstorben.
Von Aufregung und Angst ist hier im Zentrum von Kiew, am Maidan, nichts zu spüren. Irgendwo hängen Fahnen, ist ein Zelt von protestierenden Kleinunternehmern aufgebaut. Doch es ist geschlossen, auch Demonstrierende müssen sich am Freitag Abend erholen.
Olexandr spricht Deutsch, wartet im Schewtschenko-Park im Stadtzentrum auf eine Bekannte. Irgendwann kommt man auch auf die Kriegsgefahr zu sprechen. Olexandr glaubt nicht, dass man vor einem großen Krieg stehe. „Jetzt haben sie uns acht Jahre lang in Angst und Schrecken gehalten. Wir haben gefürchtet, dass der Krieg von Donezk zu uns kommt. Ich habe keine Lust mehr auf diese Angst. Es gibt ein ukrainisches Sprichwort, das besagt: ‚Schlimmer als das Schreckliche ist die ständige Angst vor dem Schrecklichen‘“.
Im Café „Der Goldene Dukat“ auf der Institutska-Straße, nur 500 Meter vom Parlament entfernt, ist die Stimmung am frühen Freitag Abend gedämpft. Viktor (59), ein Dolmetscher, der immer wieder in Brüssel für internationale Organisationen arbeitet, bestellt sich einen Tee und eine Karamellcremetorte. Er berichtet von seinem privaten und beruflichen Leben, seiner mittelschweren Covid-Erkrankung im vergangenen Jahr und seinen Auslandsaufenthalten. Er fühlt sich in Kiew wohl; wohler als in Brüssel. Dort gäbe es ja nur ein Thema: die Pandemie.
„Andere Probleme als Covid“
Das könne er schon nicht mehr hören, obwohl er sich noch gut an sein hohes Fieber und seine Zeit in einer ungemütlichen Quarantäne-Wohnung in Frankfurt erinnern kann. „Es gibt doch auch noch andere Probleme als Covid“, meint er. Und dann kommt er am Ende des Gesprächs auf die Politik. Auch er glaubt nicht an eine große Intervention Russlands. „Kein einziger russischer Soldat wird die Grenze überqueren“ ist er sich sicher. Russland werde vielmehr mit Luftangriffen gezielt die ukrainische Infrastruktur zerstören. „So wie die Amerikaner damals im Irak“.
Und dann werden auf einmal russlandfreundliche ukrainische Politiker eine „Regierung der nationalen Einheit und Versöhnung“ ausrufen und mit Russland Frieden schließen – zu russischen Bedingungen. Dass er sich in der Nähe des ukrainischen Parlamentes selbst gerade an einem neuralgischen Punkt befindet, auf den seiner Meinung nach russische Raketen zielen, scheint ihn während des Gesprächs nicht zu beunruhigen.
Ganz anders sieht das Nadja, eine 73-jährige Rentnerin. Sie ist aus dem Gebiet Donezk kurz nach Kriegsausbruch nach Kiew geflohen, telefoniert mehrmals in der Woche mit ihren Verwandten, die dort auf der anderen Seite der Front geblieben sind. Jeden Tag beschieße die ukrainische Armee Gorlowka, beschieße die „Volksrepublik“ die ukrainische Armee. Mal fange die eine Seite an, mal die andere. Sie hält ein Szenario für möglich, wie man es in Georgien 2008 erlebt hatte, als der damalige Präsident Saakaschwili die Hauptstadt der südossetischen Separatisten, Zchinwali, hatte beschießen lassen und anschließend russische Truppen einmarschiert sind.
Sollte die Ukraine versuchen, Donezk, Lugansk oder die Krim mit Gewalt zurückzuholen, meint sie, „haben wir einen großen Krieg mit Russland“. Sie glaubt nicht, dass Russland ukrainische Städte besetzen will. Denn im Gegensatz zu Donezk oder Lugansk gebe es in anderen ukrainischen Städten kaum Kräfte, die offen prorussisch sind. Und Besatzer, die keine Unterstützung in der Bevölkerung hätten, könnten sich nicht lange halten, meint sie.
Doch es gibt auch furchtsame Stimmen. Eine Iryna aus Poltawa fragt sich am Telefon, ob man den Sommer noch erleben kann. Und auf Facebook freut sich eine Vera Sadoroschnaja aus Saporischja, dass sie nicht die einzige ist, die die Kriegsgefahr erkannt hat.
Widersprüchlichkeiten finden sich auch unter den offiziellen Vertretern der Ukraine. Nachdem Präsident Selenski noch vor wenigen Tagen in einer Videoansprache an das ukrainische Volk vor Panikmache gewarnt hatte, erklärte er einen Tag später in der Washington Post, dass er eine russische Invasion der Ukraine für wahrscheinlich halte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
FDP stellt Wahlkampf Kampagne vor
Lindner ist das Gesicht des fulminanten Scheiterns
Paragraf 218 im Rechtsausschuss
CDU gegen Selbstbestimmung von Frauen
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Wahlkampf-Kampagne der FDP
Liberale sind nicht zu bremsen
Sednaya Gefängnis in Syrien
Sednaya, Syriens schlimmste Folterstätte
Journalist über Kriegsgefangenschaft
„Gewalt habe ich falsch verstanden“