Stimmen aus Gaza: „Die Abende sind am schlimmsten“
Im Gazastreifen fehlt es an fast allem. Fünf Menschen erzählen vom Alltag im Krieg, über die Hamas spricht keiner.
N our, 35, lebt in Gaza-Stadt, arbeitet für eine NGO und ist Mutter zweier Kinder.
Ich habe zwei Kinder, einen Sohn, er ist 10, und eine Tochter, sie ist 13 Jahre alt. Für die beiden ist es nicht der erste Krieg, sie haben schon mindestens zwei größere Eskalationen erlebt. Aber es ist das erste Mal, dass wir als Familie unser Zuhause in Gaza-Stadt verlassen mussten. Am Freitagmorgen, am 13. Oktober, sind wir mit dem Auto nach Chan Yunis geflohen, in den Süden Gazas.
Meine Kinder haben panische Angst. Wenn sie mich fragen, warum sie das ertragen müssen, sage ich: Die Israelis besetzen uns, sie haben unser Land gestohlen. Wir haben diesen Konflikt, weil wir frei sein wollen, was unser Recht ist. Ich mache ihnen klar: Wir sind Zivilisten, keine Militanten.
Natürlich gehen sie momentan nicht zum Unterricht, alle Schulen sind geschlossen. So ist das immer in Zeiten des Notfalls. Meine Kinder haben noch kein Schuljahr ohne Unterbrechung absolvieren dürfen. Als mein Sohn in der ersten Klasse war, kam die Coronapandemie – der Unterricht fiel aus. In der zweiten Klasse musste er mit dem Lernstoff noch mal komplett von vorne anfangen. In der dritten und vierten Klasse gab es jeweils kleinere Eskalationen mit Israel, auch da blieben die Schulen immer wieder geschlossen. Jetzt in der fünften Klasse schon wieder.
Ich muss meinen Kindern die Situation eigentlich nicht erklären, denn sie kennen die Realität, sie leben darin. Sie haben Gaza noch nie verlassen. Sie träumen davon zu reisen und fragen immer wieder: Mama, warum können wir nicht ins Westjordanland fahren, nach Jerusalem, nach Haifa oder auch nach Ägypten über den Grenzübergang Rafah? Ich erkläre ihnen dann: Es gibt andere Leute, die dringender ausreisen müssen, die krank sind oder Geschäften außerhalb Gazas nachgehen müssen.
Ich selbst möchte Gaza nicht dauerhaft verlassen, es ist meine Heimat. Meine Familie stammt ursprünglich aus Gaza-Stadt. Aber ich wünsche mir für meine Kinder, dass sie einmal außerhalb Gazas leben können. Ich wünsche mir, dass sie sicher sind, dass sie nicht jede Minute den Tod fürchten müssen. Momentan wollen wir einfach nur überleben. Protokoll: Lisa Schneider
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„Wasser ist knapp, es gibt kaum Essen“
Mohammed Sawwaf, 40, lebt nahe Gaza-Stadt, ist Filmemacher und Produzent und hat vier Kinder.
Um den Krieg zu dokumentieren, bin ich zu Hause geblieben, obwohl Israel etwa eine Million Menschen aufgefordert hat, ihre Häuser Richtung Süden zu verlassen. Die Israelis bombardieren aber auch den Süden. Es macht keinen Sinn, sein Zuhause zu verlassen, nur um an einem anderen Ort zu sterben.
Ich möchte nicht, dass sich die Geschichte meiner Großeltern wiederholt, die 1948 ihre Häuser verlassen mussten in der Hoffnung, eines Tages zurückkehren zu können. Ich will mein Land nicht verlassen und nicht in den Süden fliehen, wo Tausende von Menschen in engen Verhältnissen leben und dennoch bombardiert werden. Dort gibt es keinen Strom, kein Wasser, kein Netz, keine Betten, keine Decken, nur überfüllte Säle mit hungernden und frierenden Menschen.
Ich lebe in einem Haus, mein Vater wohnt im ersten Stock, die Kinder sind in den oberen Stockwerken. Auch in meinem Haus ist ein Brand ausgebrochen. Mein Sohn fragte: „Wann ist der Krieg vorbei? Lasst uns jetzt aufgeben.“ Ich höre auf das, was er sagt, aber kapitulieren können nur Staaten, wir sind kein Staat.
Meine Kinder sind traumatisiert, sie schlafen schlecht, haben Albträume, machen ins Bett und weinen, wenn sie aufwachen. Sie fragen jeden Tag, wann der Krieg vorbei ist. Sie sind sehr tapfer.
Tagsüber suchen wir nach den Opfern und den zerstörten Häusern. Die Abende sind am schlimmsten, da Israel uns in der Nacht bombardiert. Selbst in al-Remal, einem der besten Viertel in Gaza-Stadt, wurden Gebäude zerstört. Alles liegt in Trümmern. Sogar mein Büro wurde zerstört. Viele Menschen sind ums Leben gekommen, ganze Familien sind gestorben.
Es wurde entschieden, dass jeder in Gaza Anspruch auf einen halben Liter Wasser hat. Wasser ist knapp, und es gibt kaum etwas zu essen. Fünf Bäckereien wurden bombardiert. Israel bombardiert alles, was mit dem täglichen Leben zu tun hat. Die Menschen in Gaza haben seit über einer Woche kaum noch Essen, Getränke oder Medikamente.
Die Mehrheit der jungen Menschen hier, die unter 30 Jahre alt sind, haben den Gazastreifen noch nie verlassen. Sie sind hier wegen der anhaltenden Belagerung in diesem engen Gebiet gefangen. Sie haben nur Gewalt, Einschränkungen und Unterdrückung erlebt. Alle Hoffnung ist verloren. Protokoll: Hoda Salah
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
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„Wenn wir sterben, dann wenigstens zu Hause“
Atta Khaled, 22, lebt in Dschabaliya in Nordgaza und arbeitet für eine Entwicklungshilfeorganisation.
Gerade bin ich in Chan Yunis, im Süden Gazas, ein Freund meiner Familie hat mich bei sich aufgenommen. Vor über einer Woche mussten wir unser Zuhause in Dschabaliya im Norden Gazas, verlassen. Mein Onkel hat uns geweckt und gebrüllt, dass es ein Update des Sprechers der israelischen Streitkräfte gebe, wir müssten sofort in den Süden aufbrechen.
Es gab keinen Strom, alles war dunkel. Ich wollte all meine Erinnerungsstücke, Fotos und Kleidung mitnehmen. Aber ich hatte nur eine kleine Tasche. Am Ende habe ich nur meinen Pass, etwas Geld und ein paar Klamotten eingepackt.
Dann haben wir uns draußen vor der Haustür getroffen. In unserem Haus leben sieben Familien: die meines Vaters, seiner Brüder, zwei meiner Tanten und meine Großmutter. Wir standen draußen – es war immer noch dunkel – und haben überlegt: Was machen wir jetzt? Wo können wir hin? Wir haben nur ein Auto für die ganze Familie. Wie sollen wir das logistisch lösen?
Letztlich haben wir uns entschieden, in unserem Haus zu bleiben. Wenn wir sterben, dann wenigstens zu Hause. Die Nacht war furchtbar, die Bomben schlugen ganz in der Nähe ein. Am nächsten Morgen haben wir dann organisiert, wo wir im Süden unterkommen können. Wir haben uns aufgeteilt auf vier Häuser von Bekannten und Freunden: zwei in Chan Yunis und zwei in Rafah, an der Grenze zu Ägypten.
Wir konnten uns noch ein zusätzliches Auto leihen von einem Freund. Dann mussten wir mit den beiden Autos so oft hin- und herfahren, bis alle Familienmitglieder im Süden angekommen waren. Die Situation war sehr beängstigend, es gab keinen Waffenstillstand für die Evakuierungen, keinen sicheren Korridor. Mehrere Autos wurden auf dem Weg angegriffen.
Im Süden ist es zwar sicherer als im Norden, aber auch gefährlich. Immer wieder werden Gebäude in meiner Nähe bombardiert. Im Norden gibt es alle paar Minuten eine Explosion, hier nur alle paar Stunden.
Wir haben Glück, weil wir bei Bekannten unterkommen konnten. Besonders schlimm ist die Situation derer, die auf dem Gelände von UNRWA-Schulen übernachten müssen, einige in Zelten. Es gibt in Chan Yunis über 30 solcher Notunterkünfte. Doch keine ist auf den Ansturm von so vielen Menschen vorbereitet.
Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich von meinem Zuhause verabschieden musste. Ich weiß nicht, ob ich es je wiedersehen werde. Protokoll: Lisa Schneider
„Tausende sterben wegen der israelischen Raketen“
Salwa Hassan, 33, lebt in Nusairat und arbeitet für Unicef und andere Hilfsorganisationen
Wir leben jede Sekunde mit der Möglichkeit, im nächsten Augenblick zu sterben. Jede Nacht bombardieren die israelischen Flugzeuge das, was sie „Ziele“ nennen. Die Nacht auf Donnerstag war schrecklich. Sie haben gegen 5.30 Uhr ein Haus, keine hundert Meter die Straße hinunter, getroffen und 15 Menschen der Familien Nadi und Hamdan getötet.
Die Splitter der Rakete sind bis in unsere Wohnung geflogen. Ich hatte solche Angst um meinen Bruder, der sich um diese Zeit immer bei dem Bäcker in der Straße anstellt, um Brot zu bekommen. Er war nicht erreichbar, sein Handy war aus. Aber Gott sei Dank hat er überlebt.
Ich lebe mit etwa 25 Menschen aus meiner Familie auf vier Stockwerken zusammen, darunter mein 67-jähriger Vater und mein Onkel, der Schizophrenie hat. Zudem kümmern wir uns um meinen 30-jährigen Bruder, der ebenfalls eine Behinderung hat. Ich verbringe den größten Teil meiner Zeit damit, für meine Familie Wasser, Essen und geladene Akkus zu finden.
Es gibt überhaupt keinen Strom mehr. Ein einziger Generator in unserem Viertel versorgt etwa 200 Familien. Zudem haben manche noch eine funktionierende Solarzelle, um ab und zu die Telefone zu laden. Auch das Internet ist weitgehend abgeschaltet und sehr langsam.
Die mit Abstand größte Herausforderung ist, an Wasser zu kommen. Das ist meine wichtigste Frage jeden Morgen. Die israelischen Angriffe haben die Wasserpumpen zerstört, jetzt kommt kein Wasser mehr in die Häuser. Gestern hatten wir den ganzen Tag lang kein Wasser, heute konnte ich aber etwas besorgen zum Waschen und Saubermachen.
Für Essen gehe ich jeden Morgen los und schaue, was auf dem Markt noch an Gemüse und Konserven zu finden ist. Meistens Brot, Bohnen und Fisch aus Dosen. Es gibt aktuell noch zwei Bäckereien in unserem Viertel. Vor unserem Haus steht von morgens bis abends eine lange Schlange von Menschen, die auf Brot warten.
Zudem wohnen nun etwa doppelt so viele Menschen wie vorher hier in Nusairat, nachdem so viele Gaza-Stadt und den Norden verlassen mussten. In den meisten Häusern leben etwa 40 bis 50 Menschen zusammen. Die meisten konnten bei ihren Verwandten unterkommen.
Meine Schwester ist nach ihrer Flucht aus Gaza-Stadt erst in einen öffentlichen Schutzbereich gezogen, aber dort hat sie sich nicht sicher gefühlt. Diese Orte sind vollkommen überfüllt, es gibt dort kein Essen, kein Wasser und keine Möglichkeit, sich zu waschen. Die hygienischen und gesundheitlichen Folgen sind schlimm und treffen die Frauen am härtesten. Deswegen ist meine Schwester mit ihrer Familie vor einigen Tagen zu uns gezogen.
Ihre Tochter ist aber immer noch in Gaza-Stadt. Sie hilft dort mit ihrem Verlobten im Evakuierungszentrum von Unicef, das für Notsituationen eingerichtet wurde, wie im Falle einer Eskalation, Hochwasser und so weiter. Meine Nichte verlässt also ihre Familie den ganzen Tag über. Manchmal schlafen die beiden auch im Evakuierungszentrum, um sich nicht in den Straßen bewegen zu müssen.
Ich schaue oft gar keine Nachrichten mehr. Ich will nicht mehr wissen, wie viele Menschen letzte Nacht getötet wurden, das halte ich psychisch nicht aus. Wir glauben, dass die Israelis alle Palästinenser im Gazastreifen töten wollen. Wir schlafen nicht, wir rechnen jederzeit damit, dass es diesmal uns erwischt. Ich versuche auf mich Acht zu geben, mich und die anderen zu beruhigen und jede Nacht mindestens drei Stunden zu schlafen, damit ich morgen weiterleben kann. Protokoll: Jannis Hagmann, Felix Wellisch
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„Meine Looza ist jetzt bei mir, Gott sei Dank“
Doaa Ahmad Ammar, 41, lebt in Gaza-Stadt mit einem Sohn und einer Tochter. Auf Facebook berichtete sie:
Ich hatte sieben Katzen in meinem Haus, jede mit einer anderen Persönlichkeit und einer anderen Geschichte. Die meisten hatte ich im vergangenen Mai gerettet, nach einer weiteren Runde von Aggressionen.
Ihre Mutter hatte sie verlassen, als sie noch klein waren. Ich hatte Angst um sie, all die Geräusche und Splitter. Dann habe ich mich an sie gewöhnt und sie nicht wieder auf die Straße gesetzt.
Die Kleine heißt Looza. Ich weiß nicht, was jetzt mit ihr passiert ist. Auf (einem) Foto, das kurz vor dem Angriff aufgenommen wurde, schaut sie aus dem Fenster auf die Straße. Das Seltsame ist, dass sie blind ist.
Ich habe sie ihrem Besitzer weggenommen, damit sie nicht auf die Straße geworfen wird. Sie war meine Inspiration in meiner Traurigkeit und Verzweiflung. Sie gibt mir Hoffnung mit ihrer Stärke und ihrer Fähigkeit, wie jede andere Katze zu leben. Sie ist mutig und impulsiv und hat vor nichts Angst.
Jetzt weiß ich nicht mehr, wie es ihr geht. Alle meine Katzen sind weggelaufen, nachdem die Fensterscheiben zerbarsten, bis hin zur Wohnungstür. Ich ging nach Hause und fand niemanden außer Looza, weil sie nichts sehen konnte. Aber ich konnte sie nicht mitnehmen. Ich habe ihr Wasser und Essen dagelassen und konnte seitdem nicht mehr zurückkehren.
Sie denken, wir sind herzlos. Aber unsere Herzen sind groß genug für alle Lebewesen, trotz der Schwierigkeiten, die wir durchmachen. Seit heute Morgen bin ich besessen davon, Looza zu holen, aber mein Viertel wird angegriffen. Ich weine um sie, wie jemand um sein Kind weint.
Update: Ich bin zurückgegangen, um sie zu holen. Meine Looza ist jetzt bei mir, Gott sei Dank. Aber glaubt mir, geht nicht raus während Bomben fallen.
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