Soziolog*in über Geschlechtervielfalt: „Die Regel ist diskriminierend“
Karolin Heckemeyer unterstützt die Läuferin Caster Semenya: Der Sport müsse sich von tradierten Vorstellungen lösen, fordert die Sportsoziolog*in.
taz: Karolin Heckemeyer, wie beurteilen Sie die Entscheidung von Caster Semenya, vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu ziehen, um dort gegen den Ausschluss von Athletinnen mit natürlich hohen Testosteronwerten von Wettkämpfen zu klagen?
Karolin Heckemeyer: Es ist ein konsequenter Schritt, denn die einzige Alternative wäre, dass Caster Semenya das Urteil des Sportgerichtshofs CAS einfach hinnimmt. Aber sie ist eine Kämpferin, die im Sport weiter aktiv sein will. Außerdem ist es aus meiner Perspektive wichtig, zu signalisieren, dass der Sport kein von anderen gesellschaftlichen Kontexten losgelöstes System ist. Auch Sportorganisationen sind den Menschenrechten verpflichtet.
Warum hat der Sport viel größere Probleme, geschlechtliche Vielfalt zu akzeptieren als andere gesellschaftliche Bereiche?
Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt stellt die Grundstruktur des Sports, also die als selbstverständlich geltende Geschlechtertrennung und die damit verbundenen Männlichkeits- und Weiblichkeitsvorstellungen, in Frage. Interessant ist auch, dass Sportorganisationen die strikte Trennung in Männer- und Frauenwettbewerbe damit begründen, dass nur so faire Wettkämpfe – insbesondere für Frauen – möglich seien.
Allerdings ist Chancengleichheit im Sport grundsätzlich eine Illusion, und das Festhalten an der Leistungsklasse Geschlecht reproduziert die Vorstellung von zwei natürlichen Geschlechtern sowie die Vorstellung, dass Männer Frauen per se im Sport überlegen sind.
Die Testosteron-Regel will Chancengleichheit wahren, schließt aber Frauen aus. Das ist doch gerade benachteiligend.
Genau. Die Testosteron-Regel ist diskriminierend. Punkt. Schon allein die Annahme, dass Testosteron ein „männliches“ Hormon ist, ist falsch – Testosteron kommt bei beiden Geschlechtern vor. Durch diese Setzung entsteht aber überhaupt erst die Möglichkeit der Diskriminierung gegen Frauen mit natürlich erhöhtem Testosteron.
Sie haben die Machtdimension angesprochen. Es fällt auf, dass besonders schwarze Frauen aus dem globalen Süden von dieser Regel betroffen sind. Woran liegt das?
Grundsätzlich müssen wir verstehen, dass unsere Vorstellungen von Geschlecht nicht jenseits von „race“ und nicht jenseits kolonialer Geschichte zu denken sind. Die Kategorie Geschlecht ist unmittelbar mit einem weißen, bürgerlichen Weiblichkeits- und Männlichkeitsideal verknüpft. Schwarze Körper gelten diesem kolonialen Verständnis zufolge als geschlechtlos und als nicht-menschlich.
Im Kontext des Sports zeigt sich das zum Beispiel in Bildern von hyperathletischen Schwarzen Körpern. Zugleich wird Schwarzen Athletinnen immer wieder ihr Frausein abgesprochen, ihr Geschlecht wird in Frage gestellt. Eben dieses koloniale Muster zeigt sich auch in der Praxis der Geschlechterverifikationsverfahren. Dort argumentiert World Athletics zudem, dass Sportverbände in Ländern des globalen Südens nicht in der Lage wären, mit „Geschlechterproblematiken“ umzugehen.
Wie muss der Sport vorgehen?
Zum einen ist es die Aufgabe der Sportorganisationen, sich mit dem Thema geschlechtliche und sexuelle Vielfalt aktiv auseinanderzusetzen. Der DOSB (Deutscher Olympischer Sport-Bund; d. Red.) macht da erste wichtige Schritte. Es geht darum, die eigenen Strukturen kritisch zu hinterfragen – mit Blick auf Geschlechtervorstellungen, aber auch mit Blick auf die Verwobenheit von rassistischen und geschlechterexkludierenden Strukturen.
Zum anderen sind alle Personen angesprochen, die mit Sport in Berührung kommen – nicht nur im Leistungssport, sondern auch im Breitensport. Es ist wichtig, nicht erst zu handeln, wenn eine Person, die sich als non-binär oder als trans* oder inter* versteht, sagt: „Hallo, ich würde gerne mitspielen“, sondern darum, zuvor für Akzeptanz zu sorgen.
Was wünschen Sie sich konkret in Bezug auf die Testosteron-Regel?
Mein Wunsch wäre, dass Sportverbände und Vereine sich dafür einsetzen, dass diese Testosteron-Regel abgeschafft wird, und sie sich dagegen wehren, diese Regel anzuwenden. Wir müssen Verständnis schaffen, und wir müssen dafür sorgen, dass sich Menschen zum und im Sport eingeladen fühlen, die in die binäre Geschlechterkonstruktion, wie wir sie kennen, nicht so ganz passen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?