Sozialstaat in der Coronakrise: Es wird immer knapper
Einige Tafeln können kaum noch neue Kunden aufnehmen. In Trier kommt selbst eine ehrenamtliche Helferin, die von Hartz IV lebt, nicht zum Zug.
Bei Netto ist an diesem Mittwoch wenig zu holen. Nur ein paar Packungen Bio-Joghurt hat der Supermarkt-Mitarbeiter mit dem langen geflochtenen Bart für Nora Werk.
„Hier ist heute ein bisschen Chaos“, sagt er. Werk packt die Milchprodukte trotzdem in den weißen Transporter und bedankt sich freundlich. Dann geht es zum nächsten Supermarkt. „So einen Joghurt könnte ich mir auf keinen Fall leisten“, sagt Werk, 49, während der Kleintransporter der Trierer Tafel rappelnd durch die alte Römerstadt mit ihren historischen Ruinen rollt. Im Kofferraum stapeln sich Kisten mit Lebensmitteln. Seit September ist die alleinerziehende Mutter zweier Jugendlicher, die eigentlich anders heißt, ehrenamtlich für die Tafel tätig.
Alle zwei Wochen fährt sie von halb acht bis zehn Uhr morgens die Supermärkte der Gegend ab, um unverkaufte Waren, die ungewollten Reste der Überflussgesellschaft, einzusammeln und an jene zu verteilen, die kaum über die Runden kommen. Einer Gruppe von Menschen, zu denen sie eigentlich selbst gehört. Werk ist Hartz-IV-Betroffene – und dennoch bekommt sie keine Lebensmittel von der Tafel – der Joghurt geht an andere.
„Mehrere Monate bis ein Jahr“ werde es dauern, bis sie an der Reihe sei, habe man sie wissen lassen, als sie nach einem Berechtigtenausweis fragte. Denn es mangelt an ausreichenden Kapazitäten für die vielen Bedürftigen in der Stadt. Bis zu dreihundert Bedürftige stehen ständig auf der Warteliste der Tafel.
„Es hatte ja alles dicht“
Regina Bergmann, Geschäftsführerin des örtlichen Sozialdiensts katholischer Frauen (SkF), der die Tafel betreibt, versucht zu erklären, warum. Die Frau mit den kurzen Haaren und dem Trierer Dialekt führt durch die Räume der Tafel in der Innenstadt, wo ein halbes Dutzend ehrenamtliche Mitarbeiter hinter Spuckschutz-Scheiben die Lebensmittelverteilung vorbereitet. Vier Mal pro Woche öffnet die Tafel ihre Pforten, jeweils fünfzig Bedürftige werden dann versorgt. Aber nur, wenn sie nach einer Bedarfsprüfung einen Tafelausweis bekommen.
Regina Bergmann, SkF
Und das ist gerade wirklich schwer. „Unsere Warteliste ist nicht länger geworden, nur die Fluktuation ist praktisch zum Erliegen gekommen“, sagt Regina Bergmann. Während der Coronapandemie habe es immer mehr Anfragen von Menschen gegeben, die nie zuvor Hilfe gesucht hätten. Menschen, die eigentlich strukturell oft nur kurzfristig auf Hilfe angewiesen seien, „bekommen wir gar nicht mehr raus“. Denn wer seinen Job verlor, bekam ihn häufig nicht zurück.
„Es hatte ja alles dicht“, erinnert sich Bergmann. „Wir hatten Familien da, die ihre Hypotheken nicht mehr abbezahlen konnten, und Arbeitnehmer, die ihren Job verloren haben.“ Nicht nur in Trier ist das Phänomen bekannt. Laut einer Erhebung des Dachverbands der deutschen Tafeln aus dem Frühjahr haben knapp 40 Prozent der Tafeln während der Covid-Krise mehr „Kunden“ verzeichnet – vor allem Bezieher von Arbeitslosengeld II und Kurzarbeiter.
Um trotz mangelnder Kapazitäten helfen zu können, verschickte Bergmann während des Lockdowns Lebensmittelgutscheine. Obwohl das eigentlich nicht vorgesehen ist, geben die Freiwilligen in Trier auch immer wieder Menschen, die keinen Tafelberechtigungsschein haben, ein paar Lebensmittel mit. Man improvisiert eben. Während die Bundesregierung im Verlauf der Pandemie lange mit Hilfen auf sich warten ließ, halfen in Trier die sozialen Träger. Der SkF verteilte FFP2-Masken, führte Beratungsgespräche im Freien durch. Die Tafeln agierten als Ausputzer für einen Sozialstaat, der seine Ärmsten in Krisenzeiten offenbar nur unzureichend versorgt. Regina Bergmann regt das auf. „Menschen in prekären Verhältnissen wurden in der Krise weiter an den Rand gedrängt.“ Die Pandemiepolitik richte sich zu sehr an die Mittelschicht.
Was die Mittelschicht übrig lässt, sammelt an diesem Mittwoch Nora Werk ein. Der Kleintransporter der Trierer Tafel ist nun am Hintereingang eines Rewe-Markts in der Innenstadt angekommen. Im Hintergrund kann man die Türme des Trierer Doms erkennen. Bei der letzten Station des Tages gibt es Warenkisten im Überfluss. Orangen, Lauch und sogar ein paar Hühnchen-Wraps verbergen sich in den Kisten, die die Supermarktmitarbeiter nach draußen bringen. Mit ihren schwarzen Arbeitshandschuhen und geübtem Blick sortiert Werk die Waren in verschiedene Körbe ein.
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Was würde sich für sie ändern, wenn sie den ersehnten Berechtigungsausweis für die Tafel bekommen würde? Nun, dann könne sie ihre Kinder endlich ausgewogener ernähren, sagt die rundliche Frau mit den leicht ergrauten Haaren. Viel zu häufig gebe es Nudeln, und trotzdem reiche das Geld oft nicht. „Manchmal sagt man dann einfach, Mama hat keinen Hunger“, wenn das Essen wieder zu knapp werde. Eine Vorzugsbehandlung bei der Tafel will sie trotzdem nicht, „das wäre ja scheinheilig“. Sie will den Eindruck vermeiden, bei der Tafel aufgrund ihrer ehrenamtlichen Arbeit eine Vorzugsbehandlung zu erwarten. Die Arbeit mache ihr auch so Spaß. „Man kommt raus und hat zu tun“ erzählt Werk.
Mit ihrer Arbeit will sie auch das Klischee der faulen Arbeitslosen widerlegen. Nora Werk hat Pech gehabt im Leben. Der Vater ihrer Kinder machte sich früh aus dem Staub, nach einem Burn-out 2013 musste sie ihre kleine Werbeagentur aufgeben, weitere Gesundheitsprobleme kamen hinzu. Wirklich Fuß gefasst hat sie seit Jahren nicht. Und durch Corona ist das Leben noch schwerer geworden. Die hohen Benzinpreise machen ihr das Leben schwer. In dem Vorort von Trier, in dem Werk wohnt, geht ohne Auto wenig. Der Nudelpreis sei ihr als erste große Preissteigerung der Coronakrise im Gedächtnis geblieben. Bis zu 20 Cent mehr würde Pasta kosten. „Normalen Leuten fällt so was gar nicht auf“, sagt Werk.
Ein paar Euro sparen die Besucher der Tafel an diesem Tag. Mit Trolleys und großen Taschen arbeiten sie sich an den Ausgabetischen vorbei. Es gibt Paprika, Gurken, Champignons – eigentlich alles, was man auch an einer normalen Gemüseauslage finden würde. Eine Seniorin in Grundsicherung, die alle Sonderangebote der Supermärkte in der Umgebung mit genauem Preis auswendig aufsagen kann, hat sich unter anderem mit Brot und Gemüse versorgt. Wie vielen hier machen ihr die steigenden Gas- und Strompreise Sorgen. Heizen und elektrisches Licht versucht sie zu Hause weitgehend zu vermeiden. „Abends sitze ich mit Kerze im Wohnzimmer und heize mit einem Holzofen“, sagt sie.
Regina Bergmann fürchtet, dass der zweite Coronawinter für Arme noch schlimmer werden könnte als der letzte. Vor allem die Möglichkeit eines neuen Lockdowns macht der Erziehungswissenschaftlerin Sorgen. Denn wer zu Hause eingesperrt sei, „der verliert die Kraft, die Dinge im Leben in die Hand zu nehmen und das eigene Leben zu gestalten“. Viele Bedürftige wüssten nicht, worauf sie aktuell noch hinarbeiten sollen. „Man wird sehen, ob ein zweiter Lockdown nicht noch größeren Schaden anrichtet.“ Wenn etwa die Gastronomie in der Touristenstadt Trier erneut schließen müsse, würden viele Betriebe womöglich dauerhaft geschlossen bleiben und noch mehr Menschen müssten die Tafel in Anspruch nehmen. „Bei uns laufen eben alle sozialen Fäden zusammen“, sagt Bergmann, halb stolz, halb wehmütig.
Die Hilfsanfragen an den SkF würden schon jetzt steigen, erzählt Bergmann. Menschen mit knappem Budget kämen wegen der steigenden Preise nicht mehr zurecht. „Wie soll jemand sich eine doppelt so hohe Stromrechnung leisten?“, fragt Bergmann mit Erregung in der Stimme. Jene, die bislang mit Erspartem zurechtgekommen seien, würden jetzt spüren, dass das Geld knapp wird. Und auch die Tafeln würden bald an ihre Grenzen kommen. „Wenn es nicht reicht, dann reicht es nicht.“
Für Nora Werk hat es an diesem Tag nicht gereicht. Mit leeren Händen verlässt sie die Tafel. Zum Abendessen gibt es für sie und ihre Kinder zwei Dosen Ravioli.
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