Social Distancing und Corona: Das Virus als Alarmsignal

Das „social distancing“ der Pandemie hat gesellschaftliche Abspaltungen sichtbar gemacht, die es schon vorher gab.

Foto: Julian Stratenschulte/dpa

Seit Beginn der Coronapandemie versorgt die Sozialforschung die Öffentlichkeit regelmäßig mit Befunden zu den gesellschaftlichen Folgen des Ausnahmezustands. Vieles von dem, was man zuvor bereits wissen konnte, wurde bestätigt. Arme und prekär Beschäftigte werden von der Pandemie besonders hart getroffen. In kleinen Familienwohnungen wütet der pandemische Alltagsstress, während die gut bezahlte Mittelschicht mit Festanstellung und Homeoffice leidlich durch die Corona-Krise kommt.

Wohlhabende profitieren von einer Lebensführung, die ihnen das „social distancing“ bereits vor Covid-19 erleichtert hat. Irritierend hingegen sind einige Befunde zum subjektiven Befinden. So zeigen die Corona-Sonderbefragungen, die das „Sozio-ökonomische Panel“ seit April 2020 in ausgewählten Haushalten vornahm, eine bemerkenswerte Verteilung von emotionalen Zuständen.

Dass Alleinerziehende in der gegenwärtigen Krise psychisch am stärksten belastet sind und Paare mit Kindern von abnehmendem Wohlbefinden berichten, ist nicht überraschend. Das Aufmerken setzt jenseits der familialen Lebensführung ein. Danach hat sich für Paarhaushalte ohne Kinder durch die Kontaktbeschränkungen im eigenen Erleben wenig geändert. Alleinlebenden wird seitens der Sozialforschung sogar ein leichter Anstieg im Wohlbefinden attestiert. Sie leiden, diesen Daten zufolge, am wenigsten unter Einsamkeit.

Alleinlebende fühlen sich weniger einsam? Für diesen scheinbar paradoxen Befund gibt es einleuchtende Erklärungen. Alleinlebende haben möglicherweise mehr Übung darin, mit Einsamkeitsgefühlen praktisch zurechtzukommen. Auch entfällt der negative Vergleich zum vermeintlich intensiveren Leben der lustigen Paare, der auf das Gemüt schlagen kann. Bei denen ist jetzt vermutlich genauso wenig los.

Alleinlebende leiden weniger unter Einsamkeit

Schließlich müsste der Befund altersmäßig differenziert werden. Insbesondere von Älteren werden vermehrt Depressionen berichtet. Jugendliche wiederum – so eine Studie an der Universität Hildesheim – erleben sich als „ortlos“, weil ihnen Schulschließungen, Kontaktverbote und der Stillstand des öffentlichen Lebens die eigenen Räume genommen haben. Allein durch digitale Kommunikation sei ihr „Verlust der Realitätstiefe“ nicht zu kompensieren.

Überhaupt scheinen digitale Endgeräte den physischen Kontakt nur dort vergleichsweise reibungslos zu ersetzen, wo klare Zweck-Mittel-Relationen vorgegeben sind. In der Berufswelt wird Online auch künftig eine häufige Form der Kommunikation sein. Wenn es aber – wie in der Erziehung oder im Freundeskreis – gerade um Beziehungen mit persönlichen Nebenfolgen geht, summieren sich die Verluste.

Der Konstanzer Netzwerkforscher Boris Holzer: „Im Bereich der geselligen Interaktion sind Substitute deshalb tendenziell schlechte Kopien.“ Wer schon einmal versucht hat, seine affektive Bezugsgruppe in einem Online-Meeting zu versammeln, wird ihm nur beipflichten können. Doch sollten wir uns nicht allzu sicher wähnen, dass fehlende Nähe nur als Verlust wahrgenommen wird. Die überraschenden Aussagen von Alleinlebenden können uns auch als Wegweiser in emotionale Untergeschosse dienen.

Nicht allein die Digitalisierung sorgt für Kommunikation auf Distanz. Und nicht nur die Filterblasen des Internets blubbern mit Vorliebe im eigenen Saft. Vermeidungsverhalten kennen wir nicht erst, seit auf den Bürgersteigen Slalom gelaufen wird. „Social distancing“ gab es schon vor dem Virus – durch den Infektionsschutz wurde nur amtlich, was sich sozial schon zuvor abgespielt hat.

Die Seuche bedient den Separatismus

Wie immer wirken hierbei zahlreiche Faktoren zusammen: die verschlossenen Welten von oben und unten, das moderne Ich-Gefühl und Identitätspolitiken. Sozialstrukturell hat sich die Gesellschaft in Segmente zerlegt, die durch Beruf, Einkommen und Bildung klar voneinander geschieden sind. Von den urbanen Zentren bis in Kleinstädte hinein gibt die Wohnadresse exakte Auskunft darüber, wo man in der sozialen Rangordnung steht.

Das Infektionsgeschehen folgt diesen Mustern und weist als Risikogebiete aus, wo die Schlechtergestellten zuhause sind. Ansteckungsgefahren dienten stets als Sinnbild für den Ausschluss von Kontakten über die eigenen sozialen Kreise hinaus. Die Abstandsregeln verdoppeln als Notfallprogramm, was als soziale Distanzierung längst zur Alltagsroutine geworden ist.

Kulturell hat sich in diesen Prozess die „Singularisierung“ (Andreas Reckwitz) eingeschrieben, die Wertschätzung der Besonderheit speziell im Selbstverständnis oberer Bildungsschichten. Wo aber der Glaube an die eigene Einmaligkeit grassiert, blüht der Ekel vor dem Gewöhnlichen, die verächtliche Abgrenzung zur Nähe der anderen. Bisweilen geht die Singularitätsideologie einher mit einem blutleeren Verhältnis zur Körperlichkeit.

Dann wirkt das Virus in all seiner biologischen Massivität als Alarmsignal nicht nur für die Gesundheit, sondern auch für das kulturelle Ideal der Unnahbarkeit. Das Bedürfnis nach der Körperwärme der anderen hält sich schließlich auch deswegen in Grenzen, weil im Gemeinwesen zunehmend der Separatismus von Identitätspolitiken regiert, der für unzählige Betroffenengruppen fest umzäunte „Territorien des Selbst“ (Erving Goffman) errichtet hat. Ausgangssperren verstehen sich hier beinahe von selbst.

Den Vorrang von Gruppenidentitäten gibt es im politischen Spektrum auf allen Seiten: Auch Coronaleugner umarmen am liebsten ihresgleichen. Hingegen macht die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Menschen in einem gemeinsamen Raum ungeplante Kontakte fast unvermeidlich. Die Aufteilung von Räumen und ihre nervöse Bewachung ist deshalb nur konsequent, wenn man unter sich bleiben will. Der identitätspolitische Separatismus findet daher möglicherweise kein passenderes Habitat als die Seuche.

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