Skandinavier sind sich nicht einig: Corona spaltet Nordeuropa
So gehen Skandinavier mit Corona um: Ausnahmezustand in Dänemark und Norwegen, Zurückhaltung in Schweden und Finnland.
In den letzten Tagen hatte Frederiksen manchmal mehrmals täglich zu Pressekonferenzen geladen und stets eine weitere drakonische Maßnahme verkündet, mittlerweile eine lange Liste: Schließung aller Universitäten, Schulen, Kindergärten, Bibliotheken und Kulturinstitutionen. Alle öffentlich Angestellten wurden nach Hause geschickt – außer bei „kritischen Funktionen“, wie im Gesundheitswesen oder bei der Polizei. Keine Veranstaltungen mit mehr als 100 Personen, Einschränkungen beim Kollektivverkehr
Und als ein geeintes Parlament der Regierung entsprechende Notstandsbefugnisse eingeräumt hatte, kam die Verkündung der Schließung der Landesgrenzen ab Samstag 12 Uhr.
Frederiksens schwedischen Parteifreund und Amtskollegen Stefan Löfven würde niemand „Corona-Oberbefehlshaber“ nennen. Mehrere Tage war er unsichtbar, dann tauchte Schwedens Ministerpräsident am Freitag wieder auf und bekräftigte, dass die Regierung ihrem bisherigen Kurs folge: Maßnahmen treffen, die der aktuellen Situation angemessen seien. Nicht mehr und nicht weniger. Und dabei werde man sich auch künftig nach dem Rat von Experten richten.
Schweden gegen flächendeckende Schulschließungen
Die sitzen vor allem in der Gesundheitsbehörde Folkhälsomyndigheten. Die hält Schulschließungen für kontraproduktiv und Grenzschließungen für wirkungslos. Jedenfalls derzeit. Würden Schulen und Kindergärten geschlossen, könne Personal im Gesundheitssektor ausfallen, weil es sich um die Kinderbetreuung kümmern müsse. In für das Funktionieren der Gesellschaft zentral wichtigen Bereichen könne man aber auf keine Hand verzichten.
Weil in Schweden die Verantwortung für das Gesundheitswesen bei den Regionen und für die Schulen bei den Kommunen liegt, haben diese große Freiheiten, eigene und an die lokale Lage angepasste Entscheidungen zu treffen.
So haben einige Kommunen einzelne Schulen geschlossen, in denen es Infektionen oder Verdachtsfälle gab. Ausbildungsministerin Anna Ekström findet das okay: „Wir haben eben nicht die gleiche Situation im ganzen Land.“
Im Prinzip bestimmen also die ExpertInnen der Gesundheitsbehörden die Corona-Politik. Als sie Anfang letzter Woche bei ihrer täglichen 11-Uhr-Zusammenkunft für das Ansteckungsrisiko die höchste Gefahrenstufe ausriefen und damit Zusammenkünfte von mehr als 500 Personen verboten, folgte die Regierung diesem Rat.
Ebenso am Wochenende der Empfehlung, auf Auslandsreisen möglichst ganz zu verzichten. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass man nach entsprechender Empfehlung morgen die Schulen und bald die Grenzen schließt. „Aber das sind Einschränkungen grundlegender Freiheitsrechte. So etwas können wir nur machen, wenn es dafür eine Grundlage gibt“, sagt Justizminister Morgan Johansson.
Dem „schwedischen Modell“ im Umgang mit Krisen folgt derzeit auch Finnland. Ministerpräsidentin Sanna Marin erklärte am Freitag, weiter wissenschaftlicher Expertise zu folgen. Justizministerin Anna-Maja Henriksson erinnerte daran, „dass wir ein Rechtsstaat sind, der auch vor Willkür der Regierung geschützt werden muss“.
In Schweden zeigen aktuelle Umfragen, dass die große Mehrheit der Bevölkerung mit der Linie ihrer rot-grünen (Minderheits-)Regierung einverstanden ist. Dabei wird in der Presse kritisiert, dass Entscheidungsfindungen zu langsam seien und es an Entschlossenheit fehle. Es wird an die großen Waldbrände 2014 oder Schwedens Reaktion auf den Tsunami in Südostasien 2004 erinnert. Darauf könne man „alles andere als stolz sein“, meint Dagens Nyheter. Bei solchen Krisen müsse man sofort und zentral reagieren: „Wir brauchen keinen Diskussionsklub, sondern Führung.“
Svenska Dagbladet appelliert dagegen: „Klaren Kopf bewahren, Sinn für Proportionen behalten.“ Viele Medien fragen unter Hinweis auf die Nachbarländer: Wieso glaube man eigentlich, bessere ExpertInnen zu haben?
Experte nennt Dänemarks Grenzschließung „völlig sinnlos“
Dabei sind sich bei Dänemarks Grenzschließung Schwedens Epidemiologen mit ihren ausländischen KollegInnen weitgehend einig. „Völlig sinnlos“ nennt Anders Tegnell von Folkhälsomyndigheten dies und bezieht sich auch auf die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Der einzige Effekt sei ökonomischer Schaden.
Søren Brostrøm, Chef der dänischen Gesundheitsbehörde, widerspricht nicht. Kopenhagens Entscheidung sei „ein rein politischer Schritt“ gewesen, „nicht von uns empfohlen“. Es gebe keinen Nachweis über eine mehr als bescheidene Wirkung. Zudem seien die Grenzen nur für Nicht-DänInnen dicht. Arbeitspendler könnten weiter frei ein- und ausreisen.
Viren nehmen bekanntlich keine Rücksicht auf den jeweiligen Pass der Menschen. Aber auch Norwegen, wo Ministerpräsidentin Erna Solberg eine ähnliche Rolle spielt wie ihre dänische Amtskollegin Frederiksen, traf eine vergleichbare Regelung und stoppte den Schiffs- und Flugverkehr für Nicht-Norweger. Die Straßengrenzen nach Schweden und Finnland sind weiter offen, und für deren BürgerInnen gibt es noch keine Beschränkungen.
In Norwegens Norden würden viele aber gern eine Grenze haben, die diesen so gut wie noch nicht von Corona betroffenen Landesteil vom Süden abschotten soll. Auf den Inseln der Lofoten und Vesterålen haben Kommunen beschlossen, dass Personen aus dem Süden nicht einfach kommen dürfen, sondern nur nach 14 Tagen Quarantäne. Am Sonntag verbot die Regierung in Oslo, sich in seinem Ferienhaus aufzuhalten, wenn es in einer anderen als der Wohnsitzgemeinde liegt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Scholz zu Besuch bei Ford
Gas geben für den Wahlkampf