Silke Gebel zu Bildungspolitik: „Über Verbeamtung reden“
Bildungspolitik stehe hintenan, kritisiert Grünen-Fraktionschefin Silke Gebel. Ein Gespräch über die Stimmung im Wahlkampf und Berliner Lehrkräfte.
taz: Frau Gebel, der Wahlkampf für die Abgeordnetenhauswahl am 26. September ist von zwei Themen dominiert: dem Mietenthema und der Klimafrage. Letzteres hat Ihre Partei ja selbst sehr stark in den Fokus gerückt. Was ist mit anderen Themen, wie etwa der Bildungspolitik: kein Interesse?
Silke Gebel: Im Gegenteil. Wir hatten gerade erst eine große Bildungsveranstaltung in Pankow, an der auch Annalena Baerbock teilgenommen hat. Sie und Bettina Jarasch sind die einzigen Spitzenkandidatinnen, die das Thema Kinder und Familie immer wieder in den Wahlkampf tragen. Da müssten Sie also eher die Kandidatinnen und Kandidaten der anderen Parteien fragen, warum das Thema Bildung für sie keine Rolle spielt. Aber ja: Ich würde mir auch wünschen, dass mehr über Kinder und Familie im Wahlkampf gesprochen wird.
Worüber müssen wir also hier reden?
Na ja, wir müssen darüber sprechen, wie es sein kann, dass in Berlin so viele Kinder und Jugendliche ohne Abschluss die Schule verlassen. Wir müssen darüber sprechen, wie wir den Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule so gestalten, dass da kein Kind verloren geht und langes gemeinsames Lernen der Standard wird. Wir haben zu wenig Lehrkräfte und insgesamt zu wenig Personal an den Schulen. Und wir brauchen Teamlösungen an den Schulen.
Jahrgang 1983, geboren in Ostfildern-Ruit (Baden-Württemberg). Sie ist Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin und Vorsitzende der grünen Fraktion
Sie meinen die multiprofessionellen Teams aus Lehrkräften und SozialarbeiterInnen? Die hat Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) doch bereits eingeführt.
Frau Scheeres hätte da in den zehn Jahren, die sie Senatorin war, noch mehr tun können. Gerade in den Grundschulen haben wir die Situation, dass die Kinder einen großen Teil ihrer Schulzeit im Hort verbringen. Da übernehmen die Erzieherinnen und Erzieher einen ganz großen Teil der Elternarbeit, gemeinsam mit den Lehrerinnen und Lehrern. Diesen Team-Ansatz mehr zu unterstützen, das würde ich mir wünschen. Im novellierten Schulgesetz …
… das am Donnerstag vom Parlament beschlossen werden soll …
… da haben wir uns dafür eingesetzt, dass alle Schulen mit Schulsozialarbeitern ausgestattet werden. Dahinter steht das Ziel, möglichst vielen Kindern den Bildungsaufstieg zu ermöglichen. Dem kommt ja gerade durch Corona noch mal eine extreme Bedeutung zu. Und deshalb würde ich mir wünschen, dass man viel stärker darüber spricht: Wie schaffen wir es eigentlich, die Bildungslücken und die sozialen Herausforderungen nach der Pandemie bei Kindern und Jugendlichen aufzufangen? In ganz vielen Bereichen hat man ja das Gefühl, als gäbe es kein Corona mehr. Aber in der Schule leben die Kinder von Woche zu Woche, weil sich Kinder unter 12 Jahren eben noch nicht impfen lassen können.
Zurück zum Personalmangel, den Sie ansprachen: Ihre Spitzenkandidatin Bettina Jarasch hat auf einer taz-Podiumsdiskussion am Montag gesagt, sie sei angesichts des Lehrermangels in Berlin inzwischen auch für die Verbeamtung. Bisher waren die Grünen qua Parteitagsbeschluss doch immer dagegen?
Wenn tatsächlich nichts anderes hilft, dann sind wir auch bereit, über die Verbeamtung zu reden.
Was soll die bringen? Es gibt seitens der Bildungsverwaltung nicht mal qualitative Daten darüber, warum die frisch ausgebildeten LehrerInnen Berlin verlassen – ob es also überhaupt einen Zusammenhang mit der Nicht-Verbeamtung gibt.
Ich habe die Erfahrung gemacht, wenn 15 Bundesländer die Verbeamtung machen, ist es sehr schwierig zu erklären, warum Berlin das nicht macht. Aber Verbeamtung ist kein Allheilmittel, es wird sehr viele Folgefragen geben. Zum Beispiel die, was wir mit denjenigen machen, die aus gesundheitlichen oder altersbedingten Gründen nicht verbeamtet werden können. Das generiert neue Schieflagen im Lehrerzimmer. Darauf fehlen mir bisher die Antworten der Bildungsverwaltung. Und ich bin keine Freundin von populistischen Forderungen. Zudem: Nur durch die Verbeamtung haben wir noch keine neuen Lehrerinnen und Lehrer.
Vielleicht doch, wenn nicht mehr so viele weggingen.
Nur weil man in Berlin studiert, heißt das noch lange nicht, dass man auch in Berlin bleibt. Viele gehen dann wieder nach Köln, nach München, in ihre Heimatstadt. Berlin kann natürlich nicht alle halten – aber Berlin muss den Anspruch haben, viel, viel mehr zu halten, als es aktuell der Fall ist. Aber viel entscheidender ist, dass wir mehr ausbilden müssen.
Das passiert schon – die Universitäten haben die Ausbildungskapazitäten bereits hochgefahren.
Stimmt, das passiert jetzt endlich. Und unser Ziel ist noch mehr: Wir wollen, dass mindestens 10 Prozent über dem aktuellen Bedarf ausgebildet wird.
Dafür müssen aber auch erst mal genug Menschen ein Lehramtsstudium beginnen wollen.
Genau, Berlin muss attraktiv sein für angehende Lehrkräfte. Da ist ein Paradigmenwechsel nötig.
Was meinen Sie?
Wir brauchen saubere und moderne Schulen, deshalb haben wir Grüne die Schulbauoffensive vorangetrieben, uns für Modellprojekte zur Rekommunalisierung der Schulreinigung eingesetzt und dafür gesorgt, dass alle Schulen endlich mit WLAN ausgestattet werden. Außerdem müssen wir weniger defizitorientiert auf Schule schauen. Ein Beispiel aus dem neuen Schulgesetz: Berlin ist das erste Bundesland, das Mehrsprachigkeit anerkennt und nun auch entsprechend in der Schule fördert. Egal, ob jemand Arabisch, Türkisch oder Polnisch spricht, wird die Muttersprache künftig als erste Fremdsprache anerkannt. Bisher heißt es ja, wenn ein Kind Französisch und Deutsch spricht: Ach, Mensch, bilingual, wie super. Aber wenn ein Kind Türkisch als Muttersprache hat, wird es als „nicht-deutsche Herkunftssprache“ gelabelt. Das finde ich inakzeptabel und da haben wir jetzt einen krassen Paradigmenwechsel. Gleichzeitig stärken wir mit dem neuen Schulgesetz die Sprachförderung: Kinder machen im Alter von viereinhalb Jahren einen Deutschtest und erhalten dann gegebenenfalls in einer Kita Sprachförderung. Und ich glaube, das alles kann Lehrerinnen und Lehrer motivieren, weil sie sagen: In Berlin wird versucht, moderne Schulpolitik zu machen.
Es sind jetzt noch zehn Tage bis zur Wahl am 26. September. Die Grünen sind bei manchen Umfrageinstituten aktuell nur noch viertstärkste Kraft, noch hinter den Linken, die SPD hingegen gewinnt hinzu.Wie ist denn so die Stimmung gerade bei den Grünen?
Die Stimmung ist jedenfalls besser, als es die Umfragen erscheinen lassen. Und wenn ich draußen auf der Straße unterwegs bin, merke ich auch: Der Klimaschutz, den wir in den Fokus stellen als Grüne – als Alleinstellungsmerkmal übrigens –, der ist in allen Altersgruppen das Megathema. Gerade auch bei Menschen aus der älteren Generation, wenn man mit ihnen über ihre Enkelkinder spricht, die ja in 60, 70 Jahren noch hier auf dem Planeten leben wollen.
Aber das Megathema Klima spiegelt sich in den Umfragen für Sie nicht wider.
Umfragen sind Momentaufnahmen. Das haben wir auch gesagt, als wir Monat für Monat bombastische Umfragewerte hatten. Es gibt ganz viel Rückenwind von den Leuten auf der Straße. Andererseits gibt es aber auch eine enorme Aggressivität, die ich so noch nie erlebt habe und die sich nicht gegen Themen, sondern gegen uns als Grüne richtet.
Was erleben Sie da?
Bei meinem Lastenrad ist der Elektromotor mutwillig zerstört worden. Unsere Plakate werden regelmäßig abgerissen. Es gibt einen krassen Gegenwind, der vor allem aus einem sehr rechten Umfeld kommt. Das ist dann schon wieder Ansporn. Wir sind eben die Anti-AfD.
Die Verbeamtungsfrage haben Sie mit einem „Ja, aber“ beantwortet: Ja, aber offene Fragen sind noch zu klären. Beim Volksentscheid Deutsche Wohnen und Co. enteignen sagen die Grünen auch „Ja, aber“: Wieso nicht mal eine klare Position?
Ich finde unsere Position sehr klar. Bettina Jarasch hat mit dem Mietenschutzschirm als einzige Spitzenkandidatin einen konkreten Plan, der faire, gemeinwohlorientierte Vermieterinnen und Vermieter belohnt. Wir haben eine politische Antwort auf die Mietenfrage anzubieten, und zwar egal, ob der Volksentscheid am Ende durchkommt oder scheitert. Und wir unterstützen ihn – als Ultima Ratio –, weil wir diesen Druck von der Straße brauchen werden, um Verbesserungen für die Mieterinnen und Mieter auch durchzusetzen. Das muss das Ergebnis dieses Volksentscheids sein.
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