Sicherheitsexpertin über 75 Jahre Nato: „Das Militär gilt als Männerdomäne“

Die Nato ist das erfolgreichste Verteidigungsbündnis der Geschichte, sagt die Sicherheitsexpertin Minna Ålander. Und: Eine Nato-Generalsekretärin sei längst überfällig.

Eine blaue Fahne mit dem Logo der NATO

Die Nato-Staaten treffen sich bis Donnerstag in Washington. Sie feiern 75 Jahre Militärbündnis Foto: Robert Michael/dpa

taz: 75 Jahre Nato – ein Grund zu feiern?

Minna Ålander: Jein, würde ich sagen. Also einerseits ja, weil das Jubiläum den Wert der Nato als das erfolgreichste Verteidigungsbündnis der Geschichte bestätigt. Andererseits nein, weil klar ist, dass die Nato etliche Herausforderungen meistern muss.

Die Sicherheitsexpertin arbeitet am Finnish Institute of International Affairs in Helsinki. Sie beschäftigt sich mit der Nato, Sicherheitsfragen in Nordeuropa sowie Verteidigungsstrategien in Deutschland und Finnland.

Würden Sie ein Militärbündnis, das auf Abschreckung setzt, wirklich als erfolgreich bezeichnen?

Die Nato hat seit ihrer Gründung zumindest für Westeuropa Frieden garantiert. Denn zur Idee des Bündnisses gehört, dass die Nato-Länder nicht gegeneinander Krieg führen. Je mehr Länder beitreten, desto besser, weil dann wahrscheinlich ist, dass zumindest die Mitglieder gegeneinander keinen Krieg beginnen und das Bündnis es schafft, die Mitgliedstaaten vor Krieg zu schützen.

Im globalen Superwahljahr 2024 steht die Nato unter Druck.

Die Nato ist ein Bündnis von demokratischen Staaten. Deshalb sind Wahlergebnisse wichtig. Bleiben alle Bündnismitglieder wirklich beim gemeinsamen Ziel? Wie stehen sie zu ihren Verpflichtungen, wenn auch in Europa eher rechts gewählt wird? Wie steht es um die kollektive Sicherheit? Oder denkt man eher nur an die eigene nationale Sicherheit?

Die größte Frage dreht sich aber um die Glaubwürdigkeit nuklearer Abschreckung, die durch die USA garantiert wird. Mit Donald Trump als möglichem nächsten US-Präsidenten steht diese Glaubwürdigkeit in Zweifel. Auch Frankreich könnte zum Problem werden, wenn es einen sehr nationalistischen Kurs einschlägt, obwohl die französischen Atomwaffen ohnehin nicht der Nato zur Verfügung stehen. Die gesamte transatlantische Solidarität steht potenziell unter Druck.

Die russische Invasion in der Ukraine, Krieg im Nahen Osten, Spannungen im Indopazifik. Verändert sich die Rolle der Nato angesichts der multiplen Krisen?

Die Nato steht nicht allein im Fokus, aber sie ist ein wichtiger Bestandteil für globale Sicherheitspartnerschaften. Es geht vor allem um die erweiterte Abschreckung der USA, die sie ihren Partnern durch Bündnisse und Partnerschaften gegenüber China, Nordkorea, Iran bietet.

Bei der Einhegung all der genannten Konflikte und Spannungen geht es um das globale System von Sicherheitsgarantien, die die USA nach dem 2. Weltkrieg geschaffen hat. Die Nato ist ein Teil davon und das größte und am stärksten institutionalisierte Bündnis. Aber dazu gehören auch bilaterale Vereinbarungen zum Beispiel mit indopazifischen Partnern wie Japan, Südkorea oder Australien.

Zäh, kostspielig und verfahren ist vor allem der Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Nun hat der noch amtierende Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg es nicht geschafft, die Nato-Mitglieder von langfristigen Hilfen zu überzeugen. Hat er versagt?

Die Nato funktioniert ausschließlich mit Konsens. Es war abzusehen, dass Staaten wie Ungarn oder auch die Türkei in der Ukraine-Unterstützung nicht mitgehen. Intern im Bündnis ist es eine der wichtigsten Aufgaben des Generalsekretärs, die verschiedenen Haltungen zu managen und zu Konsens zu finden. Je mehr Mitglieder die Organisation hat, desto heterogener wird sie – und damit wird es schwieriger eine gemeinsame Haltung zu finden.

Und jetzt?

Umso wichtiger ist, dass es bilaterale Vereinbarungen mit der Ukraine gibt. Einige sehr wichtige Nato-Staaten, darunter die USA, Deutschland, Frankreich oder Großbritannien, haben sich auf mehrjährige Verpflichtungen eingelassen.

Keine Einigkeit in der Nato ist ein willkommener Störfaktor für den russischen Präsidenten Putin.

Vor dem Nato-Gipfel in Washington wollte man den Druck auf Putin erhöhen. Aber mit Ungarn ist das nicht zu machen.

Stoltenberg konnte vor Kurzem Rekordwerte bei den Verteidigungsausgaben der Mitglieder melden. Also schaut doch jeder Staat verstärkt nach sich selbst?

Die Nato hat selbst kaum Streitkräfte oder entsprechende Strukturen, sondern ist auf die Mitglieder angewiesen. Deshalb ist es wichtig, dass sie in ihre eigenen Streitkräfte investieren und dann die notwendigen Truppen zur Verfügung stellen können. Kein Land wird seine Streitkräfte komplett aufgeben, weil Verteidigungsfähigkeit eine der empfindlichsten Aufgaben eines Staates ist. Hinzu kommt, dass die beiden Neumitglieder Schweden und Finnland die Werte nach oben treiben.

Angesichts der Krisen: Müsste die Nato ihren Auftrag nicht verändern und auch auf diplomatischer Ebene mehr Einsatz zeigen – etwa in der Ukraine?

Dafür gibt es andere Organisationen, die besser geeignet sind, zum Beispiel die UN, EU oder auch OSZE. Die Nato ist ja ein Verteidigungsbündnis, dessen Aufgabe die kollektive Verteidigung ihrer Mitglieder ist. Mit Blick auf die Ukraine könnte die Nato nicht in Verhandlungen als Vermittlerin agieren, weil Russland die Nato als Konfliktpartei darzustellen versucht und generell die Nato ablehnt. Gleichzeitig ist die Nato aber auch eine politische Organisation und nimmt nur Mitglieder auf, die einer demokratischen Staatsform folgen und Rechtsstaatlichkeit einhalten.

In der aktuellen Weltlage gibt es immer mehr Eskalationsrisiken. Wenn man über Eskalationsmanagement als eine Art Leiter denkt, haben unterschiedliche Organisationen verschiedene Rollen und Profile. Die EU kann zum Beispiel eine wichtige Rolle im Eskalationsmanagement spielen, weil sie eben kein Militärbündnis ist. Da gehört das militärische als mögliche Stufe auf einer Eskalationsleiter dazu, so funktioniert Abschreckung. Eine gut funktionierende Arbeitsteilung zwischen verschiedenen internationalen Organisationen ist hier nützlich.

Braucht es dennoch neue Allianzen?

Die Nato hat eine ganz klare geografische Einschränkung als nordatlantisches Bündnis. Aber der Westen hat das Interesse neue Partnerschaften einzugehen, zum Beispiel im globalen Süden. Das ist auch deshalb wichtig, um dem russischen Narrativ entgegenzuwirken, dass der Westen den Krieg mit der Ukraine losgetreten hätte, was nicht stimmt.

Zukünftig steht an der Spitze der Nato der ehemalige niederländische Staatschef Mark Rutte. Eine gute Entscheidung?

Ob gut oder schlecht, kann ich derzeit noch nicht sagen. Aber auf diese Personalie konnten sich die Staaten im Konsens einigen. Es ist in der Nato oft nicht einfach, Dinge einstimmig durchzukriegen. Er erfordert vom Generalsekretär viel Geduld und ganz viel diplomatisches Geschick.

Auch die baltischen Staaten oder andere Länder im Osten hätten gerne den Posten besetzt. Warum gingen sie leer aus?

Rutte übernimmt von Jens Stoltenberg, der ein starkes Profil hatte. Andere Kandidaten waren offenbar nicht wettbewerbs- und konsensfähig. Und Rutte hat viel Erfahrung als langjähriger Premierminister, wodurch er die EU- und Nato-Ebene sehr genau kennt. Aber der russische Angriff hat den Westeuropäern gezeigt, dass die baltischen und mittel- und osteuropäischen Staaten recht hatten mit ihren Warnungen vor Russland. Ihre Position ist nun eindeutig gestärkt.

Wann wird es Zeit für eine Frau als Nato-Generalsekretärin?

Ich weiß ehrlich gesagt nicht, warum das noch nicht passiert ist. Offenbar ist es immer noch so, dass dass das Militärische eher als männliches Politikfeld gesehen wird. Es ist eine Frage der Zeit. Gute Kandidatinnen gäbe es ja, aber vielleicht ist die Zeit noch nicht reif. Wenn man etwa an prominente weibliche Politikerinnen in Europa denkt, sind sowohl Kaja Kallas als auch Annalena Baerbock ja noch jung und es kann für sie nützlich sein, noch mehr internationale Erfahrung auf anderen Posten zu sammeln. Kaja Kallas ist als EU-Außenbeauftragte genau richtig.

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