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Selenski von ESC ausgeschlossenHöhepunkt der Heuchelei

Doris Akrap
Kommentar von Doris Akrap

Der ukrainische Präsident darf beim ESC kein Grußwort halten. Begründung: Der Abend sei unpolitisch. Aber was sollen dann die gelb-blauen Farben?

Gaststar Aljoscha aus der Ukraine beim ESC in Liverpool Foto: Martin Meissner/ap

D er Eurovision Song Contest (ESC) scheitert in diesem Jahr aufs Unangenehmste an seiner eigenen Ideologie, eine reine Unterhaltungsveranstaltung zu sein. Schon immer war das reine Behauptung, schon immer wurde die Bühne für politische Botschaften genutzt, und schon immer hat der ESC immer dann darauf gepocht, unpolitisch zu sein, wenn es politisch heikel wurde – erinnert sei an die Austragung in Aserbaidschan oder das Verbot des georgischen Beitrags „We Don’t Wanna Put In“.

Der ESC ist neben Fußballturnieren und EU-Parlamentswahlen der einzige Moment, in dem ganz Europa zusammenkommt. „United by Music“ (Vereint durch Musik), lautet auch das diesjährige Motto des Eurovision Song Contest, dessen Finale an diesem Samstag ausgetragen wird. Dass die Organisatoren dieses kontinentalen Schlagerpop-Wettbewerbs nun ausgerechnet den ukrainischen Präsidenten von der Veranstaltung ausschließen, statt sich mit ihm zu verbinden, ist der Höhepunkt einer sowieso schon heuchlerischen Ausgabe dieser altehrwürdigen Veranstaltung.

Eigentlich hätte sich der diesjährige ESC „ESC in Exile“ nennen müssen. Denn er hätte nach den Regeln eigentlich in der Ukrai­ne stattfinden müssen – eine ukrainische Band gewann im vergangenen Jahr. Die Ukraine erklärte sich freudig bereit, die Veranstaltung trotz des Kriegs ausrichten zu wollen. Doch die Organisatorin des ESC, die European Broadcasting Union, lehnte dankend ab und beschloss, die Show im fernen Liverpool stattfinden zu lassen.

Was für ein Unfair Play, der Ukraine diesen Wunsch abzuschlagen. Was wäre es für ein großer europäischer Moment gewesen, wenn der ganze Kontinent der Ukraine hätte dabei zuschauen können, wie sie das Leben feiert und sich europäische Künstler und Künstlerinnen in praktischer Solidarität üben. Die Begründung der Organisatoren, die Regeln des ESC machten es unmöglich, dass Selenski spreche, weil die Veranstaltung unpolitisch sei, ist absurd.

Herzmotive in blau-gelb

Es stellt sich die Frage, welche unpolitische Aussage der ESC eigentlich tätigen will, indem er seine Moderatorinnen in blau-gelbe Kostüme steckt, sein Herzmotiv blau-gelb färbt? Unfreiwillig enthüllt der ESC, was sowieso schon lange kritisiert wird: dass hinter der Geste, alles mögliche in blau-gelbe Farbe zu tunken, vor allem eines ist: die Vermarktung des guten Gewissens. Das Fahneschwenken als Zeichen, auf wessen Seite man steht, wird immer bedeutungsloser. Jedenfalls dann, wenn „auf der Seite der Ukraine stehen“ bedeutet, dass man die Wünsche der Ukraine nicht berück­sichtigt.

Abgesehen davon wäre es spannend gewesen, was der aus der Unterhaltungsbranche kommende Präsident Selenski einem vermeintlich unpolitischen Publikum zu sagen gehabt hätte.

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Doris Akrap
Redakteurin
Ressortleiterin | taz zwei + medien Seit 2008 Redakteurin, Autorin und Kolumnistin der taz. Publizistin, Jurorin, Moderatorin, Boardmitglied im Pen Berlin.
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10 Kommentare

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  • Der Abend war so unpolitisch, dass Russland während der Show die Heimatstadt der ukrainischen Wettbewerber angegriffen hat.

  • „Aber was sollen dann die gelb-blauen Farben?“



    Es handelt sich um einen Verweis auf das Land, das den ESC letztes Jahr gewonnen hat und deshalb dieses Jahr Veranstaltungsort sein müsste.

  • 9G
    95820 (Profil gelöscht)

    „wäre es spannend gewesen, was der aus der Unterhaltungsbranche kommende Präsident Selenski einem vermeintlich unpolitischen Publikum zu sagen gehabt hätte.“



    Na, was wohl? Das, was alle großen Clowns und Zampanos ihrem Publikum zurufen: „The Show must go on!“ bzw. „The Games must go on!”

  • Können wir mal einen Gang runterschalten, oder ist das wirklich gleich der "Höhepunkt der Heuchelei"?



    Gleich der Höhepunkt?

    Und Selenski wurde auch nicht "ausgeschlossen" - er darf einfach nicht reden, weil das nicht in den Rahmen passt. "Auschließen kann man nur vorher eingeladene Teilnehmer.



    Dass er nicht reden soll, kann man sehen, wie man will und man kann darüber auch gut diskutieren - aber man sollte bei der Wortwahl nicht immer gleich zum Superlativ greifen, sonst nutzt er sich ab.

    Dass dort (unentwegt - alle!) Nationen ihre Flaggen schwenken und die Bühne in den jeweiligen Nationalfarben blinkt, ist schon seit Jahren so und wesentlicher Teil des Konzept eines Länderwettbewerbs.



    Für mich als Kosmopolit ist das nun nicht so dolle schön, aber sei's drum.

    Also bitte: einfach mal etwas Feuer vom Empörungskessel nehmen, sonst hat man keine Energie mehr bei den wirklich wichtigen Dingen.

  • Es ist eine richtige Entscheidung keinen Politiker reden zu lassen.

    • 9G
      95820 (Profil gelöscht)
      @J_CGN:

      Ich kenne mich mit ESC nicht so aus. Wer darf dort überhaupt - außerhalb des Programmplans - reden? Einer aus der Unterhaltungsbranche? Ein König? Die Bürgermeisterin von Liverpool?



      Der Welt wäre vielleicht viel erspart geblieben, hätte nicht der deutsche „Unterhaltungskünstler“ Hape Kerkeling mit seiner Figur „Horst Schlämmer“ und deren Erklärung: „Isch kandidiere!“ eine denkwürdige Vorlage geliefert...



    • @J_CGN:

      Ja, absolut. Stimme ich zu.

    • @J_CGN:

      Sehe ich auch so.



      Unpolitisch war dieser Wettbewerb doch nicht, was ja auch okay ist.

  • Den letzten Absatz unterschreibe ich hundertprozentig.



    "Abgesehen davon wäre es spannend gewesen, was der aus der Unterhaltungsbranche kommende Präsident Selenski einem vermeintlich unpolitischen Publikum zu sagen gehabt hätte."



    Das hätte man wirklich machen sollen, Selenski hätte es verdient.



    www.youtube.com/watch?v=9bLhuhwATmc

  • ESC, ist das nicht sowas wie FIFA in "(un)-musikalisch"?