Schönheitsoperation in Deutschland: Gebt mir ein A
Unsere Autorin möchte ihre schweren Brüste gegen winzige eintauschen. Aber sollte sie als Feministin ihren Körper nicht lieben, wie er ist?
A m Morgen der Erstkonsultation. Du rasierst deine Achseln. Hast es die ganzen Wintermonate über nicht getan. Tust es jetzt, weil ein Freilegen des Brachlands voll schießender Wildgräser vor der eleganten Ärztin dir unvorstellbar ist. Du bist 34 Jahre alt, du arbeitest als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einer Universität und hast kein Problem mit weiblicher Identität oder jedenfalls kein Interesse, mit der Ärztin ein Gespräch darüber zu beginnen. Deine größte Angst: dass sie dich für grundunsympathisch und gender-verwirrt und einen Hippie-Hipster aus der Großstadt hält, und dass sie dich darum nicht sauber operiert.
Empfohlener externer Inhalt
Es ist unfair, dass du so denkst und vorurteilsbehaftet, aber dies ist Bayern. Du ziehst dir eine Bluse an. Sie sind sich sicher, dass Sie eine Frau sein wollen? Hatte die Therapeutin vor nicht langer Zeit gefragt, auch dies in Bayern. Es ist das erste Mal, dass dich jemand so direkt danach fragt, wer du sein willst.
Draußen stürmt es wie so oft im Januar 2023. Drinnen im Wartezimmer der Praxis für Ästhetische und Plastische Chirurgie sieht es nicht anders aus als in den Wartezimmern dieser Welt. Pflanzen, die sich in trockener Erde festkrallen. Magazine und Comichefte sollen beim Warten helfen und machen nur ungeduldiger. Warum nicht eine Discokugel aufhängen, die ihre Spiegelparty an die Wände wirft? Wie wäre es mit einer Ecke, in der man Tee zubereiten könnte? Einer Lazy Sunday Jazz-Playlist, die gemütlich schnurrt.
Deine Ärztin ist vielleicht fünfzig und schön auf altmodische Art. Gehört es sich so für eine plastische Chirurgin? Es sind ihre Seidenstrümpfe in creme-weiß, die in goldenen Pumps stecken, ihre gewählte Sprache mit dem osteuropäischen Akzent, an die du noch lange denken wirst. Warum du diese Seidenstrumpf-Pumps-Kombination als tröstlich empfindest, die Selbstsicherheit der Ärztin in ihrer konformen Ästhetik? Vielleicht, weil auch du hier bist, um eine Form zu finden. Selbst wenn Termine frei gewesen wären bei ihrem Chef, dem Top Dog mit weißen Loafers und Segelyachtlächeln: Deine Brüste soll dir nur diese Frau entfernen.
Aber nun schaffst du es nicht, ihr zu sagen, dass du deine schweren Brüste gegen winzige eintauschen möchtest. Statt E Körbchen A, was eigentlich kein Körbchen ist, allenfalls der Hohlraum eines Eierbechers. Kleiner, viel kleiner, wenn es geht, sagst du, und sie sagt, wir schaffen B, das passe auch besser zu deinen 1,82. Dann zeichnet sie auf einem Papier deine neuen Brüste auf. Kreise dort, wo die Mamillen, die Brustwarzen, aufgeschnitten, aufgeklappt und im Anschluss einige Zentimeter nach oben verrückt werden. Einen langen T-förmigen Schnitt im rechten Winkel hinunter zum Unterbrustgewebe, dort wo überschüssiges Gewebe entfernt werden wird. Die Ärztin ist der erste Mensch, der deine Brüste so ansieht und berührt. Professionell, der Umstrukturierung des Rohmaterials verpflichtet.
Als du noch keine Brüste hattet, wolltest du unbedingt welche. Mit 9, mit 10, mit 11 Jahren fragtest du deine Mutter, wann, oh wann, die tektonische Plattenverschiebung beginnen würde. Abends vor dem Einschlafen schautest du hinunter, die Hände zu einer frommen Kathedrale geformt. Bitte Gott, mach, dass die Brüste kommen. Wie überzeugt du davon gewesen bist, dass Gott, ein Mann undeutbaren Alters in weißem Gewand, dein Brustwachstum zur Chefsache erklären würde, wenn man ihn nur genug anbetete.
Auf dem Campingplatz in der französischen Schweiz, auf den du als Kind jedes Jahr mit deiner Familie fuhrst, hatte jemand einen roten Sport-BH auf dem Volleyballplatz verloren. Dort lag er und nie hattest du etwas Schöneres gesehen. Natürlich nahmst du ihn mit. Nach dem Anziehen fühltest du den negativen Raum, die schrecklichen Lücken. Aber deine Brüste würden jeden Tag wachsen, und du wolltest vorbereitet sein. Vögel bauen ihr Nest, bevor sie Eier legen. Du bautest gleich zwei und hängtest ein Schild in den Ast: Herzlich Willkommen.
Am Computer öffnet die Ärztin ein PDF mit Vorher/Nachher-Bildern. Es ist der zweite Termin bei ihr, wenige Wochen später. Zehn Paar riesige Organe von halbkugeliger Form auf dem Bildschirm und du traust dich kaum hinzusehen, als würdest du etwas Verbotenes tun. Wie schwer die Frauen getragen haben müssen. Du siehst es an den Bildern, die Brüste drücken sie nieder. Gebeugte Schultern, eingefallene Brustbeine. Nachher sind ihre Brüste klein und rund und unauffällig und du findest selbst die Narben schön. Du möchtest die Frauen so vieles fragen. Wie fühlen Sie sich heute? Wie haben Sie diesen Schritt Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin erklärt? Haben Sie es Ihren Eltern gesagt? Fühlen Sie sich schuldig, dass Sie Ihr Geld für eine Brustverkleinerung anstatt für lebensnotwendige Dinge ausgegeben haben?
Dein halbes Leben schon hast du den Wunsch nach kleinen Brüsten. Mit 17, 18, als das Bedürfnis schrecklich dringlich war, fehlten die finanziellen Mittel; mit Mitte 20 entdecktest du einen Feminismus für dich, der so, wie du ihn auslegtest, vielleicht ein Fitnessstudio erlaubte, aber keinesfalls Herumschneiden am Körper. Wie oft du die immer gleiche innere Debatte geführt hast.
Auftaktrede: Du sollst deinen Körper lieben, wie er ist. Nur das ist wahre Fürsorge. Nur das ist der Mittelfinger gegen das Patriarchat. Nur so ändert sich vielleicht etwas.
Die Gegenrede, die immer lauter wurde mit den Jahren: Wenn die Welt Brüste zu fetischisierten Objekten macht – der Begierde, des Spotts, der Sanktionierung – musst du sie nicht wollen. Musst sie nicht mehr festhalten müssen, wenn du zum Bus rennst. Musst nicht mehr frühmorgens im Wald joggen, weil dann noch niemand unterwegs ist, der starren kann auf das, was sich trotz drei übereinander gezogenen BHs bewegt. Nie mehr soll jemand zu deinen Brüsten sprechen, statt dir ins Gesicht zu sehen.
Wie es wäre, fragtest du dich, dich zu entkleiden vor jemandem, den du liebst, ohne dabei in Angst zu geraten. Es ging dir nicht darum, schöner zu werden. Du wolltest dich nur endlich normal fühlen, nicht immer so schrecklich nackt und ausgeliefert.
Kathy Davis, einzige feministische Theoretikerin auf dem Gebiet der Ästhetischen Chirurgie, schreibt, dass der Konsens feministischer Stimmen Schönheitsoperationen als extreme Form medizinischer Misogynie einordne (ihre Studie „Reshaping the Female Body: The Dilemma of Cosmetic Surgery“ liegt knapp 30 Jahre zurück). Dieser Konsens besage, dass Schönheitsoperationen das Bild des defizitären weiblichen Körpers reproduzierten. Eine selbstbewusste Wahl für oder gegen einen Eingriff zu treffen, sei demnach im Patriarchat nicht möglich.
Für die Frauen wiederum, mit denen Davis für ihre Untersuchung sprach, stand die Operation oft am Ende einer jahrelangen Anstrengung, in ihrem Körper zu Hause zu sein, sich als Subjekt mit Körper wahrzunehmen statt als objektisierten Körper. Darüber hinaus bestätigten die Frauen, die Operationen für sich vornehmen zu lassen, nicht aufgrund äußeren Drucks aus ihrem Umfeld. Warum gelten uns diese Entscheidungen nicht als selbstbewusster Weg, in einer noch immer von patriarchalen Strukturen durchwebten Gesellschaft einigermaßen gut zu leben, fragt Davis am Schluss. Denn wenn wir Schönheitsoperationen nicht auch als selbstbestimmt anerkennen, ist jede Frau automatisch Opfer.
Du willst kein Opfer sein, brauchst aber die Feministinnen auf deiner Seite. Deshalb musst du jedoch den Wunsch junger Mädchen nicht gutheißen, die sich einer Schamlippenkorrektur unterziehen wollen, weil der Freund da unten alles eklig findet.
Conclusio einer bereits dein halbes Leben geführten Debatte: Eine Schönheitsoperation muss als Ultima Ratio der Selbstfürsorge gelten können. Deine Ärztin hat keinen Fragebogen, auf dem sie Feministin ja/nein ankreuzen könnte. Sie schaut nicht auf deine Brüste und sagt: So groß sind sie gar nicht, probieren Sie es doch mit Yoga.
Inmitten des Gesprächs klingelt das Handy. Ihre Tochter ruft an, sie ist allein zu Hause und krank. Viel trinken musst du. Auf dem Küchentisch steht die Medizin und Papa kommt um 12 nach Hause. Deine Ärztin ist also Mutter. Du weißt nicht warum, aber das macht alles besser. Sie entschuldigt sich, malt weiter auf dem Papier deine perfekten Brüste auf.
Und so viel wird es kosten. 6.500 Euro. Der Preis beinhaltet Konsultationen, Operation, Übernachtung in der Klinik, die Nachsorge, den medizinischen BH. Es wird sowieso eine Privatzahlung sein, so wie heute die meisten der jährlich 30.000 Brustverkleinerungen. Früher übernahmen die Krankenkassen in den allermeisten Fällen eine Brustverkleinerung, heute geschieht das nur noch sehr selten, selbst wenn ein Zusammenhang zwischen orthopädischen Beschwerden und dem Brustumfang erkannt wird. Natürlich sind 6.500 Euro zu viel Geld. Aber du hast ein bisschen was von deinen Großeltern geerbt. Erst dadurch ist die Operation nach jahrelangen theoretischen Überlegungen überhaupt in den Bereich des Möglichen gerückt. Was deine Großmutter sagen würde, wüsste sie, wozu ihr Erbe eingesetzt wird?
Zu Hause am Küchentisch, du vergleichst Preise. In Berlin kostet die Operation um die 1.000 Euro weniger, aber du kannst für die Nachsorge nicht wöchentlich dorthin fahren. Was du kannst: die bayerische Provinzstadt, in der du lebst, verfluchen. Und so geht deine Kalkulation: Für den Preis der Operation könntest du 433,333 Bücher für 15 Euro kaufen. Die Dinge gegenüber dem Wert von Büchern zu bemessen, ist ein alter Trick, neben der Natur gibt es kaum etwas, das du so liebst wie die Literatur.
Sind neue Brüste mehr wert als all die Bücher? Aber auch: Würden 433,333 zusätzliche Bücher in dein Apartment passen? Würden sie nicht.
Auf Antwortsuche in der Literatur fragst du dich, warum es kaum Bücher über Brüste gibt. Also nicht über Brustkrebs. Nicht Stillratgeber. Keine Pornografie. Sondern Bücher über die Kulturgeschichte der menschlichen Brust. Über Brüste, die Kunst erschaffen. Ja, Louise Bourgeois, Künstlerin mit Brustfetisch. Ja, Femen, die Oben-ohne-Aktivistinnen aus der Ukraine. Und sonst? Ausgerechnet im schrulligen Buchladen einer amerikanischen Kleinstadt in Washington State, wo du ein halbes Jahr lang an der Universität arbeitest, findest du einen Regalmeter voller Brüste. Florence Williams’ „Breasts: A Natural and Unnatural History“ und Marilyn Yaloms „A History of the Breast“ gefallen dir, der Rest handelt wieder davon, wie frau sich vom Brustkrebs gesundessen kann (Brokkoli, roh!) und wie richtiges Stillen geht.
Obwohl du sie bedingungslos wolltest, kamen deine Brüste spät. Lange tanztest du so viel Ballett, dass dein Körper kein Kapital für sekundäre Geschlechtsmarker erübrigen konnte, nicht mal für die Regelblutung. Dafür schafftest du es, mit dem Hinterkopf deine Kniekehlen zu berühren. Mit 17 hattest du es plötzlich mit zwei aktivierten Vulkanen zu tun. Es tat weh, dein Körper war plötzlich laut wie jemand, der in der Fußgängerzone ausrastet, um sich schlägt und schreit. Männer an der Ampel starrten, Jungen in der Schule starrten. Die Mädchen auch, neidvoll und giftig.
Wenn du an diese Zeit zurückdenkst, fragst du dich, ob du dir nicht mindestens die Hälfte all dieser Blicke eingebildet hast. Du magst das Wort gefühlt nicht, wenn es gebraucht wird, um Erfahrungen zu relativieren, aber hier ist es angebracht. Gefühlt starrte die ganze Welt immerzu auf deine explodierten Brüste. Du musstest sie verstecken, abbinden und dich nicht mehr so viel bewegen. Flacher atmen, weniger sein.
Traum aus dieser Zeit: Mit einer großen Gartenschere, einer solchen zum Heckentrimmen, schneidest du dir die Brüste ab. Du gehst sehr gründlich vor und trägst Hautschicht für Hautschicht ab. Kein Schmerz und alles ist voller Blut.
Du entschiedst, zu einer Therapeutin zu gehen. Sie ist Psychoanalytikerin für Kinder und Jugendliche, und du bist 20 Jahre alt und eigentlich kein Kind mehr. In der Praxis ist alles voller Spielsachen und auf dem Sofa stoßen dir Knie und Kinn beinahe zusammen. Du sitzt auf dem Zwergen-Sofa, weil du deine Form schrumpfen willst, damit du in dein Leben passt. Ein Leben, das irgendwie außerhalb von dir selbst stattfindet. Zum Abschied sagt die Therapeutin, sie habe viel von dir lernen können. Darüber, was es bedeutet, heute eine junge Frau zu sein. Du hättest auch gerne gewusst, was es bedeutet, heute eine junge Frau zu sein. Wie die Therapeutin es von dir lernen konnte, ist dir schleierhaft. Immerhin aber hast du begriffen, dass es gut ist, hin und wieder zu essen.
Der Heckenscheren-Traum kommt noch einige Male wieder. Dein halbes Leben lebst du mit diesen Brüsten, und noch immer trägst du zu schwer an dir selbst. Ist all das Leiden real? Keine Brüste. Zu viel Brüste.
Was machen sie im Krankenhaus eigentlich mit all dem Gewebeabfall? Es muss eine spezielle Müllsortieranlage geben. Wo stehen diese Mülltonnen, und wie oft und von wem werden sie geleert? Riecht es dort oder verdeckt eine Chemiekeule alles? Ob deine Brüste auch in der Tonne liegen werden? Mit all den anderen abgefeilten und abgesaugten und abgestoßenen und unbrauchbaren und ungeliebten und verleugneten Teilen, die einmal zu uns gehörten, die wir einmal waren?
Die goldenen Zwanziger verbrachtest du auf dem Crosstrainer mit dem Versuch, die Brüste abzutrainieren. Selbst schuld, manche Geschwüre züchtet man selbst, nichts hattest du einmal sehnlicher gewollt. Mal schwitztest du auf Texte aus den Literaturtheorie-Seminaren, die du an der Universität besuchst. Ein bisschen horny, die Ränder gewellt von zu vielen Markierungen. Körperliches Schrumpfen bei geistigem Wachstum. An anderen Tagen breitetest du vor dir auf dem Hometrainer die Gala aus, die Prominente in unvorteilhaften Posen zeigte. Schwabbel nach Schwangerschaft vor und nach der Brustvergrößerung schaut euch ihre Lippen an der Beauty Doc hat es vermasselt hat sie wieder zugenommen sie ist viel zu dünn wir machen uns Sorgen ertrunken in der Badewanne Nippelgate bei der Oscarverleihung.
Die amerikanische Autorin Melissa Febos, die sich auf autofiktionales Schreiben konzentriert, schrieb im Mai 2022 in der New York Times über ihre Brustreduktion, inklusive Foto im Unterhemd. Als prominente Feministin hat sie dir damit gewissermaßen die Absolution erteilt.
Du hängst damals einen Zettel an die Wand, er soll dich zum Sparen animieren:
Buy Boobs, not Books
Die Brustverkleinerung heißt im Fachjargon Mammareduktionsplastik. Natürlich Mamma, natürlich Mutter. Als könntest du mit den Brüsten auch gleich die Mutter loswerden. Die Mutter in dir, die Verpflichtung zum Muttern, die Vorstellungen deiner Mutter von dir als ebensolche. Für viele Frauen mag es da keinen Zusammenhang geben. Für dich schon. Beide Entscheidungen, deine Brüste verkleinern zu lassen und keine Mutter werden zu wollen, fallen in denselben Zeitraum. Als deine Ärztin warnt, dass Stillen nach dem Eingriff schwierig werden könnte, zuckst du mit den Achseln.
Du selbst suchst eigentlich dein ganzes Leben lang immerzu nach Müttern, fühltest dich als Kind magnetisch angezogen von älteren Frauen und konntest es gar nicht erwarten, eine weise Frau mit langem grauem Zopf zu werden. Die amerikanische Schriftstellerin Maggie Nelson nennt diese Übermutterfiguren ihre „many-gendered mothers of the heart“. Und tatsächlich müssen es nicht immer Frauen sein, die diese Funktion erfüllen. Doch deine Mütter der Literatur, der Musik und Philosophie, der Psychoanalyse und Kunst waren und sind sehr häufig Frauen, die sich auch als solche identifizieren.
Überall siehst du die Mutter, wo vielleicht sonst niemand eine sieht. Der Gedanke jedoch, selbst Mutter in einem herkömmlichen, biologischen Sinn zu werden, bereitet dir immense Schwierigkeiten. Jahrelang denkst du, dein Wunsch nach einem kinderlosen Leben sei präventive Schadensbegrenzung. Dir die Verantwortung zu übertragen, jemanden am Leben zu halten. Das erscheint dir grob fahrlässig. Du wärst eine dieser Mütter, die irgendwann nicht mehr heimkommt, zur Krippe, zum Kind.
Die Urgroßmutter, nach der du benannt bist, bekam neun Kinder, von denen sieben überlebten. Kinder waren einfach da, wie das Wetter auch. Die unzähligen Fehlgeburten, der Moment, wenn das Unterkleid voller Blut war oder beim Waschen etwas in die Schüssel fiel. Ob sie je gefragt wurde, was sie sich wünschte vom Leben, wovon sie träumte? Ihr Mann wollte Dinge und nahm sich, was ihm laut Ehevertrag zustand. Sprach von den Kindern als Ware. Kinder, die lebten, um in der Bäckerei zu arbeiten. Kornsäcke in den Schlund der Mühle wuchten. Viele kleine Lungen voller Mehlstaub. Viele kleine Hände, die schwere Teige formen. Verhütung? Nicht in den 1930er Jahren im kleinen Schwarzwalddorf.
Deine Urgroßmutter weinte, als sie dich das erste Mal hielt, es wurde dir so erzählt. Sie war eine alte Frau und weinte, als hätte sie ihr ganzes Leben darauf gewartet, noch einmal ein Baby zu halten. Du denkst an sie in seltsamen Momenten. Wenn du zur Arbeit fährst oder die Kreditkarte an das Lesegerät hältst. Das Geld auf deinem Konto erhältst du für ein extrem unproduktives Leben. Bezahlt wirst du von einer Universität dafür, dass du über Literatur nachdenkst, schreibst und ab und zu mit Studierenden sprichst. Hätten andere Frauen deiner Familie auch lieber Bücher geschrieben als zu gebären, wären auch gerne reproduktiv unproduktiv gewesen?
Deine Ärztin trägt beim nächsten Termin wieder ihre Seidenstrümpfe und goldenen Pumps. Fragt, wie die Brüste aussehen sollen. Du zeigst auf den Aufklärungsflyer zur Mammareduktionsplastik. Auf dem Cover entsteigt Bouguereaus’ berühmte Venus ihrer Muschel. Sie kämmt ihr bodenlanges Haar und hat die schönsten Kieselstein-Brüste, die du je gesehen hast. Zu klein, sagt die Ärztin. Schaffe sie nicht. Du schaust dich im Zimmer um, das keine Orientierung bietet, bis dein Blick auf die Brüste deiner Ärztin fällt. Sie zeichnen sich unscheinbar ab unter ihrem weißen Kittel. Ich hätte gerne Ihre Brüste. Sagst du und bist erstaunt, dass der Satz wirklich aus deinem Mund kommt. Die Ärztin zuckt kein bisschen und streicht danach immer wieder über ihre Brust, um die Form nachzuzeichnen. Dir zu zeigen, wie sie zwei kleine Tropfen formen wird, die ihren ähneln. Kleine Tropfen, sagt sie, die schönsten zwei Worte der Welt.
Sie ist viel kleiner als du, deine Ärztin. Aber wegen der Fürsorge in ihrem Blick willst du sie umarmen, willst von ihr umarmt werden, an ihre kleinen Körbchen gedrückt werden. Sagen soll sie, dass du schön sein wirst, dass alles gut werden wird. Sie wirkt wie eine Mutter, die alles unter Kontrolle hat. Brustverkleinerung, Bauchfettabsaugen und ein Facelift vor dem Mittagessen, am späten Nachmittag der Tochter bei den Hausaufgaben helfen.
Die Frauen deiner Familie haben sich, so kommt es dir vor, nicht bewusst für oder gegen Kinder entschieden. Absolutes Wunschkind seist du gewesen, sagt dir deine Mutter. Doch niemand hat dir als Kind gesagt, dass keine Kinder bekommen eine schöne, eine gute Form zu leben sei. Dass Frauen nicht muttern müssen.
Deine eigene Mutter. In einem anderen Leben siehst du sie vor dir als Gewerkschaftsvorsitzende oder Anwältin. Immerzu klingelt das Telefon. Wenn sie abends nach Hause kommt, ihren Trolley mit Akten hinter sich herziehend, hast du sie schrecklich vermisst. Sie küsst dich und du drückst deinen Kopf ins Kissen. Dort hinein, wo ihr Parfüm hängen bleibt, nachdem sie wieder aus dem Zimmer gehuscht ist, zurück zu ihren Arbeitskämpfen und Streikplänen, den abendlichen Strategiesitzungen. Hatte deine Mutter, die echte, je darüber nachgedacht, keine Kinder zu bekommen? Darüber, nicht nur hinzuzuverdienen und jeden Mittag in der Küche zu stehen und gesundes Essen zu kochen. Quinoa-Bratlinge und Salat für Kinder, die schreiend nach Spaghetti verlangten.
In einem Biergarten, in der grünen Welt der frisch ausgetriebenen Kastanien, fragst du sie. Sie besucht dich in deinem Erwachsenenleben. Du lebst mit dir selbst allein, du bist glücklich und manchmal einsam. Mama, hast du je überlegt, keine Kinder zu wollen? Ihr Gesicht fällt ihr herunter. Vielleicht habe sie es besser machen wollen als ihre Eltern. Es waren Dinge wiedergutzumachen, sagt sie. Nie. Nie. Im Biergarten fließen Tränen. Sie kann nicht verstehen, dass man lieber einsam ist als Kinder zu bekommen. Lieber Hausarbeiten korrigiert und schreibt, als zu Elternabenden zu gehen und Gemüse in Pastasaucen zu schleusen. Bist du stolz darauf, keine Kinder zu wollen? Du wirst es bereuen, deine Mutter weiß es. In 40 Jahren, wenn du in einem Altersheim liegend von Robotern versorgt werden wirst, wird niemand dich besuchen kommen. Wer weiß es schon, vielleicht behält deine Mutter recht.
Und trotzdem willst du lieber ein Kunstmonster werden, wie die Erzählerin in Jenny Offills „Amt für Mutmaßungen“: „Ich hatte beschlossen, nie zu heiraten. Stattdessen wollte ich ein Kunstegomane werden. Frauen werden so etwas fast nie, weil solche Ungeheuer sich nur mit Kunst beschäftigen und nicht mit Alltagsdingen. Nabokov hat nicht einmal seinen Regenschirm zugemacht. Vera hat für ihn die Briefmarken geleckt.“ Ein literarisches Genie sein und die Erwartungen der Welt so wuchtig auf einem lasten zu fühlen muss so beschwerlich gewesen sein für Vladimir, dass er schlicht keine Kapazitäten hatte für weltliche Belange. Spucke im Mund sammeln etwa.
Kinder kriegen und erziehen, das sei für die meisten Menschen der kreativste Akt ihres Lebens, denkt eine Freundin, die Künstlerin und Mutter ist und mit dieser Doppelrolle hadert. Im Idealfall würden die Menschen nirgends mehr über sich hinauswachsen als im Umgang mit Kindern. Aber Kunst braucht all das, was Kinder auch brauchen. Will auch geboren und versorgt werden und lernen und die Welt entdecken. Manche Eltern, manche Frauen, schaffen beides. Du weißt, dass du nicht zu ihnen gehörst.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Du leckst keine Briefmarken für andere. Du bist die Hohepriesterin der Einsamkeit. Nichts als Wonne beim Erwachen im Bett, allein. Gregorianische Choräle und Herunterstürzen von zwei Kaffees. Lesen, Schreiben. Einsamkeit, manche Etymologien sind so charmant. Einsam: einig, einträchtig, einzeln. Mit sich selbst einig sein. In Norddeutschland gibt es einen Ort namens Solitüde und in Schweden einen, der Ensamheten heißt. Woher kommst du? Du kommst aus Solitüde. Ort der kalten Betten und Wärmflaschen, die man umarmen muss. In denen sich die Tage ausbreiten vor dir und du nur aufzustehen brauchst aus dem Bett, um die Schallplatte zu drehen. Auf den Knien Bücher über Künstlerinnen der Einsamkeit, Polarforscherinnen, die endlich allein sein wollten. In Nachthemden der Großmutter durch die Wohnung wandern, Buchrücken streicheln. In Solitüde gibt es einen Markt, und du kennst die Bauern bei ihren Vornamen. Manchmal werden Fragen gestellt von Menschen, die von außerhalb kommen. Du hast oft zu erklären versucht, dass deine Lebensweise keine Kritik all der anderen ist. Dass du andere Menschen brauchst. Alleinsein im Schaffen, in der Kunst, nicht aber doch immerzu. Aber gehen können willst du immer.
Ganz früh stehst du auf, leise, um deine Freundin nicht zu wecken. Sie ist mit dem Zug gekommen, um dich zur Operation zu begleiten und wieder abzuholen. Älteste Schulfreundin, auch eine deiner „many-gendered mothers“. Du trinkst einen letzten Kaffee. Stellst dir vor, wie der Schmerz sich anfühlen wird. Aller Schmerz kann Ritual sein und umgekehrt. Heilung hat viele Gesichter. Am Abend zuvor hat die Freundin gefragt, ob sie sie noch einmal sehen dürfte, die großen Brüste. Selbst deiner ältesten Freundin hast du sie kaum je gezeigt. Du kommst aus der Dusche, ziehst deinen Morgenmantel an, denn um sich auszuziehen muss man angezogen sein. Mach den Vorhang zu, sagst du, und dann tänzelst du durchs Zimmer, öffnest langsam die Schleife des Mantels und ziehst unter viel Gekreische blank. Selbst jetzt keimt noch Panik in dir, obgleich die Brüste doch beinahe schon in der Tonne mit dem Gewebeabfall liegen.
Morgens geht ihr zu Fuß und Hand in Hand im Schlafanzug die wenigen Minuten zur Klinik. Deine Freundin, weil sie sich gleich wieder hinlegen will, und du, weil du dich sowieso gleich ausziehst. Über Amazonen-Kriegerinnen heißt es, sie hätten sich die Brüste abgeschnitten, um bessere Bogenschützinnen zu werden. Der Mythos hält sich hartnäckig, die Forschung hat ihn widerlegt. Aber du denkst an die Kriegerinnen, als du dir das Krankenhaushemd überziehst, die Haube aufsetzt, dich in die Kompressionsstrümpfe zwängst.
Wenn du heute, neun Monate nach der Operation, gefragt wirst, wie du dich mit deinen neuen Brüsten fühlst, gerätst du in Erklärungsnot. Einerseits: als hättest du sie schon immer gehabt. Andererseits: geradezu verliebt in sie und unbeschreiblich erleichtert. Nie hast du mehr Fürsorge aufgebracht für deinen Körper als in den Monaten nach der Operation, die vertikal und horizontal verlaufenden Narben massiert und mit Silikonpflastern beklebt. Heute trägst du nur noch selten BH. In der Sauna warst du trotzdem noch nicht. Ein wenig sind deine neuen Brüste wie ein kostbares Geschenk, das du gerade bekommen noch nicht mit aller Welt teilen möchtest. Sie sind so schön. Selbst die Narben sind es.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Rückzug von Marco Wanderwitz
Die Bedrohten
Repression gegen die linke Szene
Angst als politisches Kalkül