Scheuer im Maut-Untersuchungsausschuss: Widersprüche bleiben stehen
Hat der Verkehrsminister den Bundestag angelogen? Im Untersuchungsauschuss zum Maut-Desaster steht Aussage gegen Aussage.
Für den angeschlagenen Minister könnte es keinen besseren Zeitpunkt für die Aussage vor dem Untersuchungsausschuss geben als diese Donnerstagnacht. Die Plätze auf der Pressetribüne sind zwar bis zum frühen Morgen gut besetzt. Aber am Samstag erscheinen wegen des Vereinigungsfeiertags keine Tageszeitungen. Wenn sie am Montag über die Sitzung überhaupt berichten, dann wohl nur noch kurz.
Ausgerechnet an diesem 1. Oktober 2020 muss Scheuer vor dem Untersuchungsausschuss erscheinen. Dem Tag, an dem die Pkw-Maut in Deutschland starten sollte. Scheuer hatte mit der für den Betrieb ausgewählten Betreibergesellschaft einen Vertrag geschlossen, obwohl noch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) dazu ausstand. Die Richter kassierten die Maut im Juni 2019 wegen Diskriminierung von EU-BürgerInnen. Daraufhin kündigte das Verkehrsministerium den Vertrag wegen angeblicher Mängel. Die Betreiberfirmen fordern seitdem einen Schadenersatz von mehr als einer halben Milliarde Euro.
In bislang 27 Sitzungen hat der Ausschuss die näheren Umstände beleuchtet und dabei eine Reihe von groben Verstößen etwa gegen das Vergaberecht bei der Auswahl der Betreiber festgestellt. Scheuer sollte eigentlich erst viel später aussagen, wenn alle wichtigen Zeugen angehört wurden. Aber im Raum steht der Verdacht, dass er den Bundestag angelogen hat. Medienberichten zufolge sollen die Betreiber eine Verschiebung des Vertragsabschlusses bis nach der Urteilsverkündung angeboten haben. Das hat Scheuer bei einer Fragestunde im Bundestag abgestritten. An diesem Donnerstag will der Untersuchungsausschuss die Sache klären.
Scheuer steht aufrecht, aber angespannt hinter einem Stuhl, als vor seiner Vernehmung Fotografen für Aufnahmen in den Sitzungssaal 3.101 gelassen werden. Er hat etliche Unterlagen mitgebracht, und – obwohl es Wasser, Cola und Saft gibt – eigene Getränke. Er stellt eine Plastikflasche mit einer hellgelben Flüssigkeit auf den Tisch, öffnet sich trotzdem eine kleine Mineralwasserflasche. Bevor die Befragung beginnt, hält er eine Art Kurzreferat über die Maut. „Als ich antrat, war die Infrastrukturabgabe gesetzt und ihre Umsetzung grundgesetzliche Pflicht“, liest er vor.
Zeugen belasten Scheuer
Vor Scheuer haben seit dem Vormittag vier Zeugen ausgesagt. Den vierten Zeugen, den beurlaubten Verkehrsstaatssekretär und derzeitigen Toll-Collect-Chef Gerhard Schulz, hat die Union sehr kurzfristig geladen. Dadurch hat sich Scheuers Befragung in die Nacht verschoben. Schulz hat Scheuer entlastet, nachdem ihn drei Männer zuvor belastet haben. Dabei geht es um ein Arbeitsfrühstück am 29. November 2018, an dem Scheuer, Schulz und die beiden Chefs der Firmen Eventim und Kapsch teilnahmen, denen das Unternehmen Autoticket gehört, mit dem am 30. Dezember 2018 der Vertrag für den Betrieb der Maut geschlossen wurde.
Der erste Zeuge Volker Schneble, Geschäftsführer von AutoTicket, war nicht bei dem Treffen dabei, weil Staatssekretär Schulz um sein Fernbleiben gebeten hatte. Er wartete am 29. November auf dem Parkplatz des Verkehrsministeriums auf seine Chefs. Nach dem Treffen habe ihm der Eventim-Vorstandsvorsitzende Klaus-Peter Schulenberg berichtet, dass dieser selbst dem Minister eine Verschiebung des Projekts bis nach der Urteilsverkündung angeboten habe, sagt Schneble.
Er habe sich nach diesem Gespräch drei Stichworte aufgeschrieben, darunter „EuGH“. Daraus hat er vor kurzem ein Gedächtnisprotokoll als Vorbereitung für eine Aussage vor dem Ausschuss gemacht. Dieses Papier war in der vergangenen Woche öffentlich geworden und hatte für erhebliche öffentliche Empörung gesorgt.
Schulenberg, ein gediegener Hamburger Kaufmann, bestätigt bei seiner Aussage im Untersuchungsausschuss, dass er Scheuer vorgeschlagen hat, die Vertragsunterzeichnung zu verschieben. „Der Minister lehnte es entschieden ab, mit der Unterzeichnung des Vertrags bis nach der Urteilsverkündung zu warten“, sagt er. Denn Scheuer habe die Maut unbedingt 2020 starten wollen.
Der Minister sollte Zeit gewinnen
Hintergrund des Angebots war laut Schulenberg nicht die fehlende Rechtssicherheit. Der Minister sollte Zeit bekommen, die Lücke von einer Milliarde Euro zu füllen, die zwischen bewilligten Haushaltsmitteln und der Kalkulation der Betreiber bestand. Im November 2018 hielten die es für unrealistisch, bis Jahresende mit dem Verkehrsministerium handelseinig zu werden – was schließlich aber zulasten der Steuerzahlenden gelang.
Von dem Vorschlag erzählte der Eventimchef nach eigener Aussage nicht nur Schneble, sondern auch seinem Vorstandskollegen, seinem PR-Berater und seinem Finanzvorstand. Sie werden möglichweise im Untersuchungsausschuss noch als Zeugen geladen werden. Der Vorstandsvorsitzende des österreichischen Mautbetreibers Kapsch, Georg Kapsch, bestätigt die Aussage. Er habe bei dem Treffen am 29. November seinem Geschäftspartner Schulenberg den Vortritt gelassen, so wie der ihm in Österreich wohl den Vortritt gelassen hätte. „Er hat das Angebot gemacht, wenn wir Zeit brauchen, können wir gleich das Urteil abwarten“, berichtet er. Ihm wäre das recht gewesen, er hätte dann andere Projekte betrieben.
Doch Scheuer und sein beurlaubter Staatssekretär Schulz bestreiten, dass bei dem Arbeitsfrühstück so ein Vorschlag gemacht wurde. „Ein Angebot von Herrn Kapsch oder Herrn Schulenberg, wir können doch warten mit dem Vertragsabschluss bis nach dem Urteil, hat es meiner Erinnerung nach nicht gegeben“, sagt Schulz bei seiner Befragung, die um Viertel vor neun am Abend beginnt.
Er sagt das in mehreren Varianten, immer mit dem Zusatz „nach meiner Erinnerung“ – die nicht besonders gut ist. Von acht Punkten, um die es in dem Gespräch ging, kann er sich nur an drei erinnern. Er laviert, will Etliches nicht ausschließen und nicht bestätigen. „Aus dem Entlastungszeugen ist ein Belastungszeuge geworden“, sagt der grüne Bundestagsabgeordnete Stephan Kühn nach der Befragung. Trotzdem: Die Aussage ist ein Punkt für Scheuer, Aussage steht gegen Aussage.
Scheuer ist gut vorbereitet
Kurz vor der Vernehmung des Ministers ist das Licht im Raum für einen Moment ausgegangen. Es ist kein böses Omen für Scheuer. Wenn er gegen halb fünf am Morgen den Raum verlassen wird, geht er nicht als Geschlagener. Scheuer verfolgt in der Nacht zum Freitag die gleiche Linie wie sein beurlaubter Staatssekretär. Er kann sich an ein Angebot von Schulenberg nicht erinnern, will es aber auch nicht ausschließen.
Er wollte sich einen persönlichen Eindruck von den Betreibern verschaffen, erklärt er das Arbeitsfrühstück mit dem Eventim-Chef und Kapsch. Scheuer ist gut vorbereitet, er zieht gezielt Unterlagen aus seiner Mappe, wenn es um Detailfragen geht, etwa andere Bewerber für das Mautprojekt. Er kann für etliche andere Treffen genau sagen, wer daran teilgenommen und wo er gesessen hat. Eine Reihe von Fragen beantwortet er mit Hinweis auf die Vertraulichkeit, die er wahren müsse, und das laufende Schiedsverfahren mit den Betreibern.
„Man tut ja immer so, als hätten da zwei Wohlfahrtsverbände gesessen“, sagt er zu der Frage, was er den Betreibern versprochen hat, damit die ihr Angebot senken – und gibt keine Antwort.
Die Abgeordneten versuchen, den Minister mit ihren Fragen in die Bredoullie zu bringen. Es gelingt ihnen nicht. Zum Ende der fünfstündigen nächtlichen Befragung wird sein Ton gereizter, aber er gewinnt zunehmend Oberwasser. Auf die Frage, warum es kein Protokoll des Arbeitsfrühstücks gibt, sagt Scheuer: „Das werden Sie auch nicht bekommen, weil wir sind nicht wie der Herr Schneble, der nach zwei Jahren ein Protokoll erstellt.“
Die Union sieht Scheuer nach der Sitzung entlastet, Grüne, FDP und Linkspartei nicht. Die SPD ist unentschieden. „Der Tag hat nicht die nötige Klarheit gebracht, die wir uns erhofft haben“, sagt die SPD-Bundestagsabgeordnete Kirsten Lühmann. Die ehemalige Polizistin ist die beste Vernehmerin im Ausschuss, keinE andere kann so präzise und treffsicher Fragen stellen und die Ergebnisse zusammenfassend auf den Punkt bringen.
Die Liberalen, Grünen und die Linkspartei wollen jetzt eine Gegenüberstellung der befragten Zeugen beantragen. Sie erhoffen sich davon Aufschluss darüber, wer die Wahrheit sagt und wer nicht. Lühmann ist skeptisch: „Im Moment erschließt sich mir nicht, was das bringen soll.“
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