piwik no script img

Schärfere Gesetze für psychisch KrankeGegen Depression und Vorurteile auf Tour

Bei der „Mut-Tour“ klären Betroffene auf. Die Politik will die Gesetze für psychisch Kranke verschärfen. Mediziner wünscht sich bessere Vorsorge.

Radeln für Aufmerksamkeit: Mut-Tour Foto: Daniel Attia/imago

Itzehoe taz | Unter Beifall fahren Eva Maslanka und Anaïs Braun auf ihren Tandem-Rädern in die Fußgängerzone der Kreisstadt Itzehoe ein. Dort wartet bereits eine Gruppe auf die Teilnehmenden der „Mut-Tour“, einer Aktion des Vereins „Mut fördern“.

Die Rad-Rund-Reise, die im Mai in Bochum begann und im September in Rostock enden soll, will über die Volkskrankheit Depression aufklären. Die Etappe durch Norddeutschland startete in Bremen, wo sich zeitgleich die Innenministerkonferenz mit der „Zunahme von schweren Gewalttaten durch psychisch kranke Personen“, so der Hamburger Innensenator Andy Grote (SPD), befasste.

Seit 15 Jahren durchlebe sie depressive Phasen, berichtet Eva Maslanka. Die 33-Jährige, die aus der Nähe von München stammt, radelt bei der Mut-Tour mit, weil es gut tue, sich in einer Community von Betroffenen zu engagieren: „Ich habe schon tolle Leute kennengelernt, die trotz Krankheit saucool drauf sind.“ Wichtig ist die Selbsthilfe auch, weil es bei Ausbruch einer Depression oft lange dauert, die richtigen Hilfen oder Therapieplätze zu bekommen.

Laut der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention erkrankt etwa jeder fünfte Erwachsene in Deutschland im Lauf seines Lebens einmal an einer Depression. Trotz dieser weiten Verbreitung und obwohl sich in den vergangenen Jahren mehrere Prominente als betroffen geoutet haben, halten sich hartnäckige Klischees über die Krankheit.

Das Tabu schrumpft

„Die Scham und die Selbst-Stigmatisierung sind groß“, sagt Anaïs Braun. Auch sie habe ihre Diagnose lange verschwiegen. „Ich bin eine hoch-funktionale Depressive, ich kann in einer schlechten Phase weiter zur Arbeit gehen, auch wenn ich hinterher erschöpft bin.“

Inzwischen spricht die 32-jährige Sozialarbeiterin über die Krankheit und fährt darum auch bei der Mut-Tour mit: „Wenn wir in einer Fußgängerzone stehen, passiert es immer wieder, dass Menschen sich auf einmal öffnen und von eigenen Erfahrungen berichten.“ Es sei wichtig, ein Angebot für solche Gespräche zu machen.

Insgesamt schrumpfe das Tabu, über psychische Krankheiten zu sprechen, sagt Jens Reimer, Chefarzt des Zentrums für Psychosoziale Medizin am Klinikum Itzehoe, der zum Empfang der Mut-Tour in die Fußgängerzone gekommen ist. Sorge mache ihm aber die öffentliche Debatte, die nach Taten wie der Messerattacke am Hamburger Hauptbahnhof folge.

Die mutmaßliche Täterin war am Vortag aus einer psychiatrischen Einrichtung entlassen worden. „Es besteht die Gefahr, dass psychische Krankheit mit Gefahr gleichgesetzt wird“, sagt die Mediziner. „Dabei werden psychisch Kranke weit öfter Opfer von Gewalt, als dass sie selbst gewalttätig sind.“

Potenziell gefährliche Kranke sollen zur Therapie verpflichtet werden können

Doch die Politik will angesichts einer Reihe von Gewalttaten, die Personen mit psychiatrischen Diagnosen angelastet werden, die Regeln verschärfen. Laut einer Pressemitteilung des Bremer Innensenators sollen künftig „medizinische und sicherheitsbehördliche Erkenntnisse“ zusammengebracht und „relevante Erkenntnisse zu psychischen Erkrankungen den zuständigen Behörden, das heißt eben auch der Polizei, zugänglich“ gemacht werden.

Der Beschluss der Innenministerkonferenz sieht darüber hinaus vor, dass potentiell gefährliche psychisch Kranke verpflichtet werden können, Medikamente zu nehmen oder eine Therapie anzufangen. Dazu müssen die entsprechenden Landesgesetze geändert werden.

Mediziner wünscht sich bessere Vorsorge

Der Arzt Reimer wünscht sich statt schärferen Gesetzen bessere Vorsorge. Zudem könnten sich die Behandlungsmethoden ändern: „Statt 100 Stunden Therapie hilft manchen vielleicht auch ein Vier-Tage-Intensiv-Seminar.“

In Schleswig-Holstein gibt es in mehreren Kreisen so genannten regionale Budgets für die Psychiatrie. Damit darf eine Klinik Pa­ti­en­t:in­nen ambulant weiterbehandeln, etwa in Tagestreffs oder bei Hausbesuchen. Damit ließen sich Drehtür-Effekte vermeiden, sagt Reimer. Wichtig sei aber auch, weiter über psychische Krankheiten aufzuklären.

Das sieht auch Anaïs Braun so: „Wenn wir pro Tag nur eine Person von einem Vorurteil abbringen oder sie dazu bringen, sich Hilfe zu suchen, haben wir viel erreicht.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

14 Kommentare

 / 
  • "Potenziell gefährliche Kranke sollen zur Therapie verpflichtet werden können "



    Wow da kann man eigentlich nur heftigst mit dem Kopf schütteln und sich fragen welcher Vollidiot / welche Vollidiotin (entschuldigt die Wortwahl) sich das ausgedacht hat. Es weiß so ziemlich jeder der auch nur einen Funken Ahnung von dem Thema hat, dass Therapien nur wirken, wenn die Betroffenen sie auch wollen und sich darauf einlassen....

  • „Psychisch Kranke“ lassen sich nicht als eine homogene Grippe behandeln. Hier kann es nur Einzelfallentscheidungen geben, an denen die „Kranken“, Angehörige und Fachkräfte zu beteiligen sind. In der Praxis mangelt es aber auf alle Ebenen, von der Diagnose über verschiedene Betreuungs- und Therapieangebote bis hin zur Unterbringung in forensischen Psychiatrien, an Fachkräften und Institutionen, die sich in angemessener Weise um psychisch kranke Menschen kümmern könnten. Die Teilhabe am (Erwerbs-)Leben wird erschwert, weil sich hier unterschiedliche Versicherungsträger für Erwerbslosenhilfe und Erwerbsminderungsrente die Verantwortung für den „Kostenfaktor Mensch“ hin und her schieben können. Benötigte Finanzmittel werden nicht bereitgestellt, weil Politik und Gesellschaft nach Gesichtspunkten wirtschaftlicher Zweckrationalität gegeneinander aufrechnen, was psychisch kranke Menschen leisten und welche Kosten sie verursachen. (Volks-)Wirtschaftliche Vernunft und soziale Stigmatisierung der „Unproduktiven“ fallen zusammen. So wurden im Dritten Reich die Verfolgung und Ausgrenzung psychisch Kranker und anderer „asozialer Elemente“ und ihre Tötung als „unwertes Leben“ gerechtfertigt.

  • Da möchten jemand wohl die Verantwortungsfrage verwässern:



    „Es besteht die Gefahr, dass psychische Krankheit mit Gefahr gleichgesetzt wird“, sagt die Mediziner.“. Niemand außer diesem Mediziner setzt psychische Erkrankung mit der Selbst- und Fremdgefährdung gleich. Statt selbstkritisch die eigene Diagnostik zu hinterfragen wird das Riesen-Stigma-Faß aufgemacht.



    Der Attentäter von Magedburg ist ein Psychiater, der Straftäter behandelt hat und schon während der Facharztausbildung offensichtlich entglitten ist, ohne dass das jemand bemerkt haben will aus der Kollegenschaft.



    Der Vorschlag: „Statt 100 Stunden Therapie hilft manchen vielleicht auch ein Vier-Tage-Intensiv-Seminar.“. Kann man eigentlich nur als zynischen, weiteren Angriff auf die psychotherapeutische Versorgung verstehen. Ein schwer depressiver Mensch mit akuter Eigen- bzw. Selbstgefährdung wird wohl nicht in der Lage sein, von einem 4-Tage-Seminar zu profitieren. Unglaublich.

  • Da weiss man ja überhaupt nicht mehr wo man anfangen soll. Therapieplätze gibt es nicht, weil unsere Politiker dafür kein Geld ausgeben wollen, aber es ist ja Ersatz da: verpflichtende einnahme von Medikamenten. Das ist Körperverletzung von staatswegen.



    Was psychische Erkrankungen generell und Depression im speziellen betrifft: Wir werden psychisch ( und physisch) immer kränker, weil unsere Grundbedürfnisse immer weniger befriedigt werden können: Liebe, aufmerksamkeit, zugehörigkeit, austausch, anerkennung, kreativität usw. Ersetzt durch zu bezahlende Ersatzdrogen, staatilch verordnet.



    Und was sagen wir als Volk dazu? "Wiesooo... Uns gehts doch gut!"

  • Überwachung ja, aber Hilfe nein.

    Zumindest hat das Landessozialgericht Baden-Württemberg kürzlich festgestellt, dass es nicht ausreicht für eine Erwerbsminderungsrente nicht arbeiten zu können bei psychischen Erkrankungen. (Az. L 13 R 276/22)

    Tut mir für die Betroffenen leid, der Sozialstaat wird nach und nach abgeschafft und das ganz ohne Gesetzesänderung.

    • @Miri N:

      Das ist erschreckend und ja auch entgegen jeder medizinischer Einordnung, psychische Erkrankungen nicht als solche anzuerkennen...

  • Es wird sich beschwert, dass es nicht genug Therapieplätze gibt, aber auch das bei Personen, von denen Gefahren ausgehen, eine Therapie verpflichtend ist. Dann wird der Staat ja hoffentlich auch für den gewünschten Therapieplatz sorgen.

  • Wie wäre es, stattdessen es den betroffenen endlich möglich zu machen, niedrigschwellig an Hilfe zu kommen? Mit mehr Therapieplätzen und mit Therapie, die bei Menschen mit großen Problemen nicht einfach mittendrin abbricht (man hat nur eine bestimmte Anzahl an Stunden und muss danach jahrelang warten); mit genügend Plätzen in den Psychiatrien, nicht nur in Mehrbettzimmern; mit genügend Reha Plätzen und echten niedrigschwelligen Angeboten, die die Krankenkasse übernimmt.



    Abgesehen davon - Datenschutz?! Nur weil ich psychisch krank bin, verliere ich plötzlich alle meine Rechte?

    • @Wedekin:

      Warum sollte das nicht datenschutzkonform möglich sein? Datenschutz bedeutet nicht, dass keine Daten erhoben werden dürfen. Das scheinen manche aber zu glauben.

      • @ZTUC:

        Datenschutz heißt nicht nur Datensicherheit, sondern auch Datensparsamkeit (von vornherein möglichst wenig sammeln).

    • @Wedekin:

      Stimme zu. Aber stattdessen ist es natürlich einfacher, über diese Menschen zu bestimmen, statt Hilfeleistungen passend zusammenzusuchen.

  • Gibt es etwa eine einfache Lösung für dieses schwierige Dilemma? Schön wär's ja.

    • @Kommen Tier:

      Ja gibt es! Einfach dafür sorgen, dass jeder Mensch, der Hilfe benötigt auch Hilfe bekommt, statt depressive Menschen unter Generalverdacht zu stellen, Gewaltverbrecher zu sein.

  • "Potenziell gefährliche Kranke sollen zur Therapie verpflichtet werden können "

    Und jetzt verbinden wir das bitte einmal mit dem Register das wir gerade erstellt haben mit dem Namen elektronische Patientenakte und dem Fakt dass die neue Gesundheitsministerin die Top Innensicherheitspolitkerin der Union war die letzten 10 Jahre über.

    Als ob das nicht alles absehbar war.