SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz: Retter der Sozialdemokraten
Die SPD galt vor Martin Schulz im Wettstreit mit der CDU um die Kanzlerschaft als chancenlos. Rettet er die Idee von einer Volkspartei für alle?
Marxloh ist verrufen, ein Synonym für Armut, Ghetto, Verlotterung. Der Zugführer, groß, bullig und seit 47 Jahren Feuerwehrmann, sagt: „Wir sind die Feuerwehr in der No-go-Area“. Wer hier noch wählt, gehört zur Minderheit. Bei der letzten Kommunalwahl blieben 80 Prozent zu Hause. Ein perfekter Ort für Martin Schulz und seine Botschaft: Es gibt Probleme, aber auch Leute, die etwas dagegen tun.
Später sitzen rotwangige Feuerwehrmänner mit einem Bier in der Hand in der engen Wache. Schulz hält eine knappe Rede: Der Einzelne ist schwach Gemeinschaft macht stark. Man hört das gern in der Feuerwache in Marxloh, während draußen Würstchen brutzeln. Die Gefahr, das die Gesellschaft zerfällt, ist erst mal gebannt, wenn man zusammen grillt.
Beim Fototermin nimmt er einen Feuerwehrhelm in die Hand. Er setzt ihn nicht auf. Das wäre zu dick aufgetragen. Er achtet auf Distanzen. Kurz bevor er wieder in seine Limousine steigt, sagt der Kandidat: „Ich komme zurück, wenn ich Kanzler bin.“ Pause. „Wenn ich nicht Kanzler bin, dann auch.“ Lachen bei der Löschgruppe 302.
Jeder kennt den Moment, in dem plötzlich etwas gelingt. Wenn beim Lernen einer Sprache auf einmal die Hemmung verschwindet, zu reden. Wenn beim Fußball der Pass ankommt, der sonst immer daneben ging. Was schwer schien, ist auf einmal leicht. Warum sich die Blockade der Sozialdemokraten gerade jetzt löst, ist so recht nicht zu erklären. Nach Brexit, Trump und zwölf Jahren Merkel wirkt Schulz unverbraucht, wie jemand der den Zerfall der EU aufhalten kann. Trotzdem bleibt ein rätselhafter Rest, Wissenschaftler nennen das Kontingenz. Das meint etwas mehr als Zufall. Es ist einen Punkt, an dem Gefühle, Fähigkeiten, Empfindlichkeiten, Hemmungen, die schon lange vorhanden sind, in einer etwas anderen Mischung auftreten. Und etwas Neues entsteht. Die SPD und ihr Kanzlerkandidat scheinen gerade an so einem Punkt zu sein.
Die SPD im Aufwind
Die Umfragen sind gut, die Kommentare in vielen Medien freundlich. Zu Veranstaltungen der Partei kommen wieder Hunderte Genossen. In diesem Jahr sind bereits zehntausend Menschen in die SPD eingetreten. Die Hälfte jünger als 35 Jahre. Eine erfrischende Nachricht für eine Partei, die immer älter und kleiner wird und in der auch SPD-Geschäftsführer in Großstädten grübeln, wann sie ihren Laden dichtmachen müssen. In Zeitungen und im Fernsehen heißt die SPD zwar noch Volkspartei, aber sie ist immer weniger eine. Sie hat die Kraft verloren, Menschen von der mittelständischen Unternehmerin bis zum Stahlarbeiter an sich zu binden. Ändert sich das gerade?
Der Tag: Der Schulz-Hype begann am 18. November in Minden. Damals war Martin Schulz noch gar nicht Kanzlerkandidat und wollte als EU-Parlamentspräsident einen Vortrag zum Thema „Europa, wohin gehst du?“ halten.
Die Geschichte: Der Raum fasste 500 Besucher, aber es kamen viel mehr. Hunderte bekamen keine Karten. Die Lokalzeitung schrieb von „unschönen Szenen“. Ein Sicherheitsbeamter musste für Ordnung sorgen – eher ungewöhnlich bei Auftritten von SPD-Politikern.
Warum: Brexit und Trump-Wahl zwei Wochen vorher könnten das Mindener Bürgertum in Aufruhr versetzt haben. Vielleicht wandelte sich Schulz damals vom Repräsentanten der ungeliebten EU-Bürokratie zum Retter in der Not. Fortan war er der Mann, der Welt und Würselen, das Provinzielle und das Internationale verknüpft.
Der Faktor, der die Stimmung verwandelt hat, ist 61 Jahre alt, eher klein, einst Bürgermeister in einer Kleinstadt bei Aachen, dann 22 Jahre lange Karriere im Europäischen Parlament. Also dort, wo Parteien lange vor allem ausgedienten Politiker hinschickten. Brüssel ist eine Endstation, kein Anfang. Wie mobilisiert ausgerechnet Schulz Sehnsüchte? Und welche?
Céline Göhlich sitzt in einem Cafe unweit von Kanzleramt und Reichstag in Berlin. Gestreiftes Hemd, Businesslook. Der Blick der 23-Jährigen ist wach, die Sätze druckreif. Sie hat einen deutschen Vater und eine französische Mutter und spricht vier Sprachen. Vielleicht will sie ein halbes Jahr nach Lateinamerika. Erfahrungen sammeln, Selbstverwirklichung. Göhlich hat geerbt und finanziert damit ihr Studium – „International Affairs“ an einer teuren Privatuniversität. Eigentlich hat sie mit der Linkspartei sympathisiert.
Und dann verschwand der Gewerkschaftsmacho
Wie Merkel in der Griechenlandkrise gehandelt hat, fand sie furchtbar. „Ich bin in erster Linie EU-Bürgerin, in zweiter Deutsche, in dritter Französin.“ Mit dem Gedanken, in eine Partei einzutreten, hat sie schon länger gespielt. Ohne Sahra Wagenknechts Sprüche gegen Flüchtlinge wäre sie jetzt vielleicht in der Linkspartei. Stattdessen ist sie am 1. Februar in die SPD eingetreten. Wegen Schulz.
„Er hat als Präsident das Europäische Parlament stark gemacht, das war super“, sagt sie. Céline Göhlich traut Martin Schulz zu, Wähler von der AfD fernzuhalten – ohne sich an die Rechtspopulisten anzuschmiegen.
„Das Problem meiner Generation ist, dass wir so viele Möglichkeiten haben und uns nicht entscheiden können“, sagt Göhlich. Jetzt hat sie sich für die SPD entschieden. Erst mal. Wenn Schulz von Obergrenzen für Flüchtlinge reden würde, wäre sie wahrscheinlich wieder raus aus ihrer neuen Partei.
Die SPD war mal eine Arbeiterpartei, aber das ist Geschichte. Sie ist seit Langem eine Partei der Mittelschicht, für Menschen wie Céline Göhlich. Dass viele dieser Menschen sich für die SPD nicht mehr begeistern können, hat auch mit dem Wandel der Sozialdemokraten zu tun. Vor 30, 40 Jahren war das Personal noch vielfältiger, schwieriger, streitbarer. Es gab kernige, machohafte Gewerkschaftsführer, bürgerliche Sozialdemokraten, linke AkademikerInnen, energische soziale Aufsteiger, ein paar Intellektuelle und Unternehmer. Spätestens seit 1998, seit Schröder und Rot-Grün, dominiert in der Parteielite der SPD der Bildungsaufsteiger; wortgewandt, aber kantenloser als die alten Recken, blasser.
Arbeiter sind eine Minderheit in der Partei
In der SPD-Parteielite 2017 gibt es zahlreiche Juristen und Politikwissenschaftler. Sie kennen sich in Verwaltungen aus, aber weniger in den Fabriken und Laboren der Republik. Nun braucht jede Organisation Manager, anpassungsfähig, effektiv, kompromissbereit. Es gibt sie bei der Union, den Grünen und bei der Linkspartei. Doch in der SPD scheint der Frank-Walter-Steinmeier-Typus alle anderen an den Rand gedrängt zu haben. Nur noch 16 Prozent der Genossen sind Arbeiter.
Dieses stromlinienförmige Profil hat wenig Strahlkraft. Wer gut verdient, aber an eine Gesellschaft glauben will, in der es auch für Hartz-IV-Empfänger und Teilzeitjobber gerechter zugeht, dem bietet die Partei wenig. Vielleicht sind viele potenzielle Mitglieder und Wähler aus der Mittelschicht auch einfach gelangweilt von einer Partei, die zu sehr wie sie selbst aussieht.
Martin Schulz verdeckt dieses Manko der SPD. Er ist kein Jurist und kein Politologe. Er hat nicht studiert und nicht die klassische Karriere gemacht – Apparat, Verwaltung, Parlament. Er war, nachdem seine Fußballkarriere nach Knieproblemen kaputt war, Alkoholiker. Und er ist da wieder rausgekommen. Mit Schulz kehrt zurück, was der SPD fehlt – mehr Leben als Aktenvermerk.
Céline Göhlich ist der eine Pol des sozialdemokratischen Spektrums. Ein anderer ist Heinz-Peter Gajewski.
Ein kleines Büro im Verdi-Haus Essen, aus dem Fenster geht der Blick über die Dächer der Stadt. Hier berät Heinz-Peter Gajewski, 72 Jahre, Jeans, blauer Pulli, Pott-Dialekt, Mitglieder der Gewerkschaft Verdi, wie sie das mit der Lohnsteuer richtig machen. Am 1. Februar ist er in die SPD eingetreten. „Schulz will ja die Altersarmut stoppen“, sagt Gajewski. Er erhofft sich von dem SPD-Mann keine Wunder, das nicht. Aber Reichensteuer und Begrenzung der Managergehälter. „Ein bisschen mehr soziale Gerechtigkeit“, sagt Gajewski.
„Ich weiß, was Armut ist“
In der Gewerkschaft ist er seit 1957. Nach der achten Klasse ging er in die Lehre, er war 13 Jahre alt. 1968 hatte er einen Arbeitsunfall. Ein poröser Schlauch, Propangas, eine Explosion, beide Hände verkrüppelt. Seine Frau war schwanger, das Einkommen klein. „Ich weiß, was Armut ist“, sagt er. „Die Gewerkschaft hat mich getragen.“
Er arbeitete wieder, in der Gewerkschaft wurde er Vertrauensmann für Schwerbehinderte im Fernmeldeamt Essen.
Heinz-Peter Gajewski wollte etwas von der Solidarität zurückgeben, die er einst selbst erfahren hat. In die SPD einzutreten, darüber hat er schon länger nachgedacht. Mit Sigmar Gabriel konnte er wenig anfangen. Mit Martin Schulz schon mehr.
Am Stammtisch von Heinz-Peter Gajewski kam sein Parteieintritt nicht so gut an. Er sei wohl bekloppt, sagten die anderen. Der Schulz rede jetzt was Soziales, wenn der dran sei, werde er das Gleiche tun wie alle. Die oben machen sich immer die Taschen voll. „Unterste Schublade“, sagt Gajewski. Was er von manchen Exkollegen zu hören bekommt, ist der Echoraum des Rechtspopulismus: das Ressentiment gegen die Aufsteiger, die das Volk verraten.
Die Aufsteiger verachteten ihre Eltern
Aber auch rüde und plumpe Vorurteile haben Anknüpfungen in der Wirklichkeit. Ja, die SPD ist eine Partei des Aufstiegs. Das war mal ihr großes Versprechen: Jeder kann alles werden. Die Eltern der SPD-Aufsteiger waren kleine Angestellte, Krankenschwestern, Putzfrauen. Aber als ihre Söhne studiert hatten und in der Partei Karriere machten, da vergaßen sie die Stammtische, an denen ihre Eltern früher saßen oder verachteten sie sogar.
Dass das den Kontakt zu bestimmten Milieus kosten würde, haben in der SPD manche erkannt. Aber sie waren in der Minderheit. Und außerdem selbst Politikwissenschaftler. Der scharfsinnigste Kritiker des sozialen Aufsteigers, der französische Soziologe Pierre Bourdieu, war Aufsteiger.
Das Versprechen der SPD, ihre große Erzählung, hat sich in einen Makel verwandelt.
Drei Kilometer entfernt von Heinz-Peter Gajewskis Verdi-Büro, in Essen-Rellinghausen, schüttelt Martin Schulz Hände. Er eilt durch die Jugendberufshilfe Essen, wo Männer und Frauen um die zwanzig ihre Ausbildung nachholen. Er lobt die Berufsbildung und ist angemessen besorgt, weil das Geld fehlt. Er stürmt in eine Küche, probiert ein Teilchen („Amerikaner, toll“), verabschiedet migrantische Lehrlinge, denen eine Prüfung bevorsteht, mit „Macht’s gut, Männer“.
Im Revier, kleinbürgerlich und proletarisch, verdampft das Weihevolle solcher Kontakte zwischen Macht und Volk schnell. Hier funktionieren die Stärken von Martin Schulz: das Direkte, Unverstellte.
Zwei 24-Jährige arbeiten in der Schreinerwerkstatt an Holztischchen. „Was habt ihr für einen Schulabschluss?“, fragt der Kandidat.
„Zehnte Klasse.“
„Den gleichen wie ich.“
„Vielleicht wird aus Ihnen ja trotzdem noch was“, sagt der Lehrling. „Hoffe ich auch“, sagt Martin Schulz.
Ich vergesse nicht, wo ich herkomme
Er ist das Versprechen, ein anderer Typus SPD-Aufsteiger zu sein. Einer, der nicht mit Dreireiher und Brioni-Mantel demonstrieren muss, dass er zur Elite gehört. Einer, der die Arbeiter und Angestellten, deren Ängste und Verunsicherungen er in seinen Reden beschwört, nicht verraten wird. Dem seine Herkunft nicht bloß Sprungbrett nach oben ist.
Schulz trägt, bei seiner Tour durch die Republik oft einen blauen Anzug, den auch sein Pressesprecher anhaben könnte. Wenn der nicht gerade etwas Eleganteres trägt. Oder einen schwarzen Mantel von Bugatti, einer Modefirma aus Herford im mittleren Preis- und Hippnesssegment. Der Dresscode des Irgendwie-nicht-wichtig ist eine Aussage: Ich vergesse nicht, wo ich herkomme. Ich bin nicht Schröder.
Die SPD war immer dann erfolgreich, wenn sie es schaffte, Industriearbeiter und aufstiegsorientierte Mittelschichten für sich zu gewinnen. Bildungshungrige wie Céline Göhlich und Malocher wie Heinz-Peter Gajewski. So war es Anfang der siebziger Jahre, als sie die Kanzler stellte, und so war es auch zu Beginn der rot-grünen Regierung ab 1998.
Bei Martin Schulz ist für jeden etwas dabei. Gefühl für die Partei, mehr soziale Gerechtigkeit für die Gewerkschaften. Für die Zufriedenen das Lob des blühenden Landes. Schulz kommt beim Bildungsbürgertum, das in die Oper geht, genauso an wie beim Facharbeiter, der Helene Fischer hört. Damit kehrt der ramponierte Traum der SPD zurück, Volkspartei zu sein.
Damit wieder mehr Leute in die Partei kommen und die die drin sind, nicht weglaufen, muss der Kanzlerkandidat allerdings auch einen eleganten Umgang mit der sozialdemokratischen Geschichte finden, die manchmal wie ein Alb auf den Gemütern der Sozialdemokraten lastet.
Die Utopie nicht vergessen
Die CDU beschwört zwar auch ihre Altvorderen wie Konrad Adenauer und Ludwig Erhardt, aber dort ist es letztlich Folklore. Die Konservativen wollen die Welt nicht verbessern, sie vollziehen Veränderungen höchstens nach. In der SPD jedoch wird immer auch Utopie verlangt, die Gegenwart immer verglichen mit den hehren Idealen aus über 150 Jahren Sozialdemokratie.
Freitagabend, Ende Februar. Martin Schulz steht bei einem Kongress der Jusos, der Jugendorganisation der SPD, im Willy-Brandt-Haus locker an einem roten Stehpult. Es ist ein Heimspiel, das Publikum begeisterungsbereit. Im Hintergrund sieht man im Halbdunkel die überlebensgroße Bronzestatue von Willy Brandt. Nach der Rede schenkt Juso-Chefin Johanna Uekermann Schulz einen Spielzeugzug, in Erinnerung an Brandt, der beim Wahlkampf 1972 mit der Eisenbahn durch die Republik fuhr. 1972, als die SPD mehr als 45 Prozent bekam und fast als eine Million Mitglieder hatte. Und Volkspartei war, nah an den Gewerkschaften, mit einem Bein im Bürgertum. Als sie eine Mission hatte, auch gleich mehrere: Demokratie, Ostpolitik, Bildungsreform.
Im Schatten der glorreichen Geschichte sieht die Gegenwart ziemlich grau aus. Wo früher kühne Zukunftsentwürfe geschmiedet wurden, ist jetzt Gewurschtel. Die Partei leidet unter dem bohrenden Gefühl, im grauen, visionsfreien Heute nur noch technokratischer Sachverwalter zu sein. Gerade in der Großen Koalition. Wenn die Jusos „Martin, Martin!“ skandieren, scheint sich die Lücke zwischen dem Jetzt und dem besseren Gestern zu schließen.
Was viele vergessen haben: Willy Brandt trug, bevor er 1969 Kanzler wurde, den Spitznamen Willy Wolke. Weil viele bei Brandt vor lauter Kompromissformeln nicht mehr wussten, wo es lang geht. Volksparteien können nur in diesem unverbindlichen Raum existieren. Sie müssen anschlussfähig an verschiedene Milieus sein, Kompromissmaschinen, die widersprüchliche Interessen verarbeiten. Erfolgreich ist die SPD, wenn sie beides kann: Kompromiss und Kampf.
Unser blühendes Land
Stadthalle Bielefeld, ein regnerischer Montag im Februar. Die AfA, die Organisation der Arbeitnehmer in der SPD, veranstaltet in dem kühlen Funktionsbau einen Kongress, „Zukunft der Arbeit“. Es gibt glanzvollere Ereignisse. Aber mehr als 700 Menschen sind gekommen. Schulz klingt mal wie ein Pastor, mal wie ein Gewerkschafter. „Wenn die Bäckerei an der Ecke ihre Steuern zahlt, aber der US-Kaffeekonzern daneben nicht, dann ist das ungerecht“, ruft er. Er verdichtet Abstraktes, Steuerpolitik im globalisierten Kapitalismus, in einfache Bilder. Botschaft: Viel ist gut, aber längst nicht alles. Signalworte: Unser blühendes Land. Dankbarkeit für die Älteren. Stolz auf die Flüchtlingshelfer.
„Wir schreiten Seit’ an Seit’“, das alte Lied der Arbeiterbewegung, ruft Schulz den Betriebsräten zu, sei das modernste politische Konzept. Der Plunder der SPD-Geschichte? So ein Satz kann in unfreiwillige Komik stürzen. Hier nicht. Weil Schulz ein Gefühl ausstrahlt, das bei anderen, bei Steinbrück, Steinmeier oder auch bei Sahra Wagenknecht, fehlt. Das Vertrauen, dass er mit den Arbeitern und Altenpflegern, die er in seiner Rede zitiert, auch einen Abend in der Kneipe verbringen würde, ohne sich zu langweilen.
Es ist das Wochenende des Martin Schulz: Am Sonntag wird er zum Kanzlerkandidaten und Vorsitzenden der Partei gekürt, die so gut dasteht wie lange nicht mehr. Welche Substanz dieser Höhenrausch hat, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 18./19. März. Außerdem: Im sächsischen Freital wird der rechten Terrorgruppe der Prozess gemacht. Eine Gerichtsreportage. Und: Warum fängt Gleichberechtigung in der Hose an? Das alles – am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.
Martin Schulz riecht nach alter SPD. Das galt als jahrelang als hoffnungslos out. Allerdings haben schon Bernie Sanders und Jeremy Corbyn gezeigt, dass traditionelle Sozialdemokratie wieder ankommt, gerade bei Jüngeren.
Die Agenda 2010 ist Symbol für die kaltherzigen Arroganz der Aufsteiger-SPD gegenüber denen, die zurückblieben. Das von Gewerkschaften oft zitierte Angstbild dafür ist der Mittfünfziger, der mehr als drei Jahrzehnte gearbeitet hat, seinen Job verliert und nach zwei Jahren auf Hartz IV ist.
Vor Kurzem habe ihn ein 50-Jähriger angesprochen, der Angst um seinen Arbeitsplatz hatte, sagt Martin Schulz in Bielefeld. „Wenn der seinen Job verliert, bekommt er 15 Monate Arbeitslosengeld. Und dann geht es an seine Existenz. Das darf nicht sein“, ruft er. „Wir haben Fehler gemacht.“ Das ist tatsächlich neu.
Fehler eingestehen
Noch nie hat ein SPD-Spitzenpolitiker Fehler bei der Agenda eingeräumt. Schulz zeigt ein genau kalkuliertes Maß an Zerknirschung, im Ungefähren zwischen Erneuerungsversprechen und Lob des Erreichten.
Zwei Wochen später präsentiert Arbeitsministerin Andrea Nahles konkrete Pläne. Ältere Arbeitslose sollen länger Arbeitslosengeld bekommen, wenn sie sich weiterbilden. Und Jüngere bekommen leichter Arbeitslosengeld. Das ist eine Korrektur, keine Revision der Agenda. Doch das Wort, das nachhallt, ist nicht das „Arbeitslosengeld Q“ von Nahles, sondern der „Fehler“ von Schulz.
Seine Strategie ist es, forsch und schonungslos anzusprechen, was wehtut. Und es dann in Watte zu packen. Versöhnen statt spalten. Und eher Kompromiss als Kampf. Wenn das zu viele Schulz-Fans merken, könnte die Euphorie leicht wieder abnehmen.
Aber was passiert dann? Die SPD-Umfragewerte werden auch mal wieder sinken. Martin Schulz wird ein verhageltes Wahlergebnis erklären oder Klares zu Griechenlands Schuldenkrise sagen müssen. Der Honeymoon mit den Medien wird nicht bis zur Wahl währen. Der Geschichte von der Auferstehung der SPD wird die vom Fall aus großen Höhen folgen. Martin Schulz kann nicht so reibungslos bis zum Wahltag am 24. September kommen, wie er bisher durch die Republik geeilt ist. Dann werden die kommen, die zweifeln, ob der kleine Mann aus Würselen der Richtige ist. Kann Martin Schulz eigentlich kämpfen, wenn er es muss? Wie reagiert er auf Rückschläge?
Fehlt nur noch ein schöner Hitler-Vergleich
Daniel Cohn-Bendit, 71 Jahre alt und einst Chef der Grünen-Fraktion im Europäischen Parlament, hat Schulz zwölf Jahre lang in Brüssel im politischen Nahkampf erlebt. „Martin hat einen begnadeten Sinn für machtpolitische Konstellationen“, sagt Cohn-Bendit, „und er ist ein begnadeter Förderer seiner eigenen Karriere. Das ist nicht als Kritik gemeint.“
1994, als Schulz nach Brüssel kam, saß er bereits nach einer Woche im wichtigen Menschenrechtsausschuss. Später wurde er Fraktionschef der Sozialisten. Dann Präsident des EU-Parlaments, das er aus dem Abseits holte und zum machtpolitischen Player machte.
„Er hat Großes für Europa geleistet. Das muss man als erstes sagen, danach kann man ihn kritisieren“, sagt der grüne Parlamentarier Sven Giegold. Da gibt es einiges. Bei einem Untersuchungsausschuss über die Dieselbetrügereien deutscher Autokonzerne verhinderte Schulz mit freihändiger Gestaltung der Geschäftsordnung missliebige Abstimmungen.
Seinen Freund Jean-Claude Juncker bewahrte er vor einem Untersuchungsausschuss. Juncker hatte jahrelang illegale Bankdeals in Luxemburg zugelassen. Bei Luxleaks, sagt Giegold, hat Schulz „mit den Ellenbogen gearbeitet, da kennt er nichts“.
Steile EU-Karriere
Dass es in der Europäischen Union transparent zugeht, hat Martin Schulz immer weit weniger interessiert als Machtpolitik und vorzeigbare Resultate. Seine EU-Karriere war steil, es gab wenige gefährliche Konkurrenten, die er aus dem Weg räumte. Kaum Niederlage oder existentielle Krisen.
Die Konkurrenz tut sich schwer damit, das zu ändern. Auch die Kampagne, die die Union gegen Schulz als angeblich korrupten EU-Bürokraten initiierte, ist so erfolglos wie sie bigott war. Die Personalpatronage, die die Union ihm vorwirft, betreiben die Christdemokraten in Brüssel nämlich selbst. Auch die Angriffe gegen Schummel-Schulz zündeten nicht recht: Der SPD-Mann hatte in einem Interview behauptet, dass 40 Prozent der Jüngeren nur befristetet Jobs haben, es sind aber nur 14. Doch Schulz scheint derzeit immun gegen Kritik.
Finanzminister Wolfgang Schäuble attackierte den SPD-Mann als deutsche Ausgabe von Donald Trump. Im Willy-Brandt-Haus hörte man das gern. „Was kommt als Nächstes? Ein Hitler-Vergleich?“ sagt ein Mitarbeiter des Kandidaten fröhlich.
Es sieht so aus als gehe es für Martin Schulz erst einmal weiter bergauf.
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