Russland-Bild in Ostdeutschland: Der verordnete Freund
Auf der Suche nach Antworten, warum russlandfreundliche Parteien in Sachsen so beliebt sind. Ein Essay von einem Nachwuchsjournalisten aus Dresden.
N ur ein kniehohes Schild am Dresdner Albertplatz verrät heute, was hier einst stand: das erste sowjetische Ehrenmal in Deutschland. Im November 1945 war es auf den Trümmern des Brunnens Stürmische Wogen eingeweiht worden. Kurz nach der Wende musste das Ehrenmal umziehen, es steht heute weit außerhalb. So wie das Dresdner Mahnmal renoviert wird, erlebt auch die deutsch-sowjetische Freundschaft eine seltsame Renaissance: das große ostdeutsche Verständnis für Russland, das fleißig an der Wiederherstellung seines untergegangenen Sowjetimperiums arbeitet.
Am besten fängt man mit den Begriffen an. Unzutreffend wurden Sowjets in der DDR als „die Russen“ bezeichnet, dabei könnte es sich auch um einen Letten, Ukrainer oder Kasachen gehandelt haben. Und keinesfalls ist es offensichtlich, dass die ehemals Besetzten große Sympathie für Russland hegten. Die Beziehung der Ostdeutschen zu den Besatzern war weit weniger herzlich, als im Neuen Deutschland, von 1946 bis 1989 Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), zu lesen war.
Der Text ist aus einem zu den Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im Rahmen eines Online-Workshops der taz Panter Stiftung entstandenen Ostjugend-Dossier, das durch Spenden finanziert wird: taz.de/spenden
Neben staatlich verordneten Veranstaltungen, Briefwechseln und Ehrenbekundungen herrschte eher kühle Koexistenz als gelebte Völkerfreundschaft. Beiden Seiten sei es auch ein Anliegen gewesen, „sich voneinander abzugrenzen“, schreibt die Hallenser Professorin für Neuere Geschichte, Silke Satjukow, in ihrem Buch „Besatzer“. Die oft widersprüchlichen Erfahrungen, die Ostdeutsche mit den Besatzern machten, schufen im Osten ein komplexeres Bild der „Russen“. Im Jahr der Wiedervereinigung gaben 6 Prozent der Ostdeutschen in einer Studie an, sie fühlten sich von Sowjettruppen oder deren Familien „gestört“.
Der Umbruch als gemeinsame Erfahrung
Auch nach der Wende verband Ostdeutschland und Russland eine gemeinsame Erfahrung: der radikale Umbruch. „Die geteilte, zuweilen demütigende Umbruchserfahrung trägt bis heute zu einem größeren Verständnis für Russland bei“, sagt Torsten Ruban-Zeh, SPD-Bürgermeister von Hoyerswerda, im Gespräch mit der taz. Umbruch hieß für Ostdeutsche ein Trauma: Goldgräber-Wessi, Treuhand-Sense und Beitritt statt Vereinigung. In Russland bedeutete Umbruch organisierte Kriminalität, Gesetzlosigkeit und eine tief empfundene Demütigung auf der Weltbühne.
Laut Satjukow setzte Ende der 90er Jahre ein Bewusstsein bei vielen Ostdeutschen ein, dass das Russische und die Russen Teil der eigenen Vergangenheit sind: „Nicht als uneingeschränkt positiver Part, aber dennoch als ein nicht wegzudenkender Teil ihrer eigenen Geschichte.“ Die Historikerin hat dafür ein schlagendes Beispiel: Konnten Ostdeutsche kaum Russisch sprechen, machten in den 2000ern dennoch plötzlich Blätter die Runde, auf denen sie sich in kyrillischen Buchstaben über Wessis lustig machten.
Das Faible der Ostdeutschen für Russland zeigte sich zuletzt bei den Europawahlen im Juni. In Sachsen ging knapp die Hälfte der Stimmen an Parteien, zu deren Profil ein russlandfreundlicher Kurs gehört. Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) kam auf 12 Prozent, die AfD wurde mit rund 32 Prozent Wahlsieger. Bundesweit dagegen kam das BSW nur auf 6,2 und die AfD auf 16 Prozent. Die in Teilen rechtsextremistische AfD übt sich im Spagat. So stieß Spitzenmann Tino Chrupalla am 9. Mai 2023 in der russischen Botschaft auf den Tag des Sieges an.
Seine Co-Vorsitzende Alice Weidel erklärte hingegen, sie könne die Niederlage ihres eigenen Landes nicht feiern und sei deshalb ferngeblieben. Nicht etwa der russische Angriff auf die Ukraine leitet Weidels politisches Gespür, sondern die Trauer um den eigenen, verlorenen Angriffskrieg. Was BSW und AfD eint, ist ihr Umgang mit der Ukraine: Sie verhöhnten das überfallene Land, indem sie im vergangenen Juni im Bundestag die Rede von Präsident Wolodymyr Selenskyj boykottierten.
Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber der Politik
Jenseits von Wahlen liebäugeln viele Sachsen mit Vorstellungen von Staat und Gesellschaft, die in Russland stabil geblieben sind. Einen starken Staat mit einem entschieden handelnden Mann an der Spitze, der auch mal hart durchgreift, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Laut dem Sachsen Monitor 2023 würden drei Viertel der Sachsen gegen „Außenseiter und Unruhestifter“ härter durchgreifen. Ähnlich hoch ist die Zustimmung zu der Aussage, als Einzelner sowieso keinen Einfluss auf die Regierung zu haben – eine in Russland weitverbreitete Einstellung. „Die Politik wird von denen da oben geregelt, wir können eh nichts daran ändern, also leben wir unauffällig unser kleines Leben“, hört man oft am Küchentisch. 34 Prozent der Befragten gaben im vergangenen Jahr an, sich Osteuropa näher zu fühlen als Westdeutschland.
Viele Ostdeutsche meinen, Russland besser zu verstehen als „die arroganten“ Westler. Immerhin habe man Jahrzehnte Seite an Seite gelebt. Auf den russischen Zungenbrecher „Dostoprimetschatel’nost“ (Sehenswürdigkeit) sind sie sogar stolz. Vor allem für überzeugte Anhänger der AfD trifft ein wesentliches Element des russischen Politikverständnisses zu: Es gibt weder Fakten noch Moral. Statt Fakten gibt es nur Perspektiven, Sichtweisen und Interpretationen. Greifbar wird dieses Durcheinander am Begriff Kriegstreiber, der nicht etwa dem russischen Diktator, der den Krieg begann und mit großer Härte führt, sondern den Unterstützern des Opfers zugeschrieben wird. Jeder Versuch, ein ethisches Argument zu formulieren, geht im moralischen Nullsummenspiel unter.
Besonders tragisch ist die Rolle des einstigen Helden aller Ostdeutschen, Michail Gorbatschow. Gilt er in Deutschland als Ermöglicher der Einheit, mutiger Reformer und respektierter Staatsmann, unterstellt man ihm in Russland heute alles von Schwäche und Inkompetenz bis Verrat. Unter „Gorbi“ war die Sowjetunion zu progressiv fürs SED-Regime, das sowjetische Texte zensierte und Fernsehsender sperren ließ.
Huldigungen in Richtung Moskau
Unter Putin ist Russland ein verbrecherischer Staat, der die Existenzberechtigung seines Nachbarn Ukraine, den man in Deutschland erst kennenlernen musste, fundamental infrage stellt. Bis heute ist die Gleichsetzung „Russland = Sowjetunion“ in Sachsen, generell im Osten, weit verbreitet. Russland hat in dieser Lesart ein naturgegebenes Recht, über innere Angelegenheiten eines souveränen Staates mitzureden – weil er früher ein Teil der Sowjetunion war.
Seit Russland die Ukraine überfiel, hat die ostdeutsche Russophilie einen neuen, dunklen Charakter. Als der Angriffskrieg begann, war ich selbst in Russland und bin auf als Spaziergängen getarnten Demos dagegen mitgelaufen. Bis die Polizei sie gewaltsam auflöste. Umso schwerer fällt es mir, die wöchentlichen Huldigungen in Richtung Moskau zu ertragen, wenn Ostdeutsche montags für „Frieden“ mit dem Diktator demonstrieren. Am 8. Juli, auch ein Montag, wehte eine große Russlandfahne vor dem Dresdner Kulturpalast – an jenem Tag, an dem Russland ein Kyjiwer Kinderkrankenhaus bombardierte. In Sichtweite gedachte eine Gruppe Ukrainer der Opfer des Angriffs. Allein. Ostdeutsche sah ich nur unter der russischen Flagge.
Robert Saar (24), in Berlin geboren und aufgewachsen, studierte in Dresden und St. Petersburg Internationale Beziehungen, arbeitet als freier Journalist und Museumsführer in Dresden.
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