Russischer Journalist über Krimkrise: „Putin hat keine expansive Ideologie“
Der russische Außenpolitik-Experte Fjodor Lukjanow glaubt, dass die EU Kiew vor eine unmögliche Wahl gestellt hat. Die Folgen sind irreversibel.
taz: Herr Lukjanow, Russland hat sich die Krim jetzt auch ohne das geplante Angliederungsgesetz einverleibt. Könnte das zum Präzedenzfall für andere Gebiete werden?
Fjodor Lukjanow: Noch gibt es keinen Kandidaten.
Moskau war gegen die Unabhängigkeit des Kosovo, weil es eine einseitige Erklärung von Souveränität für rechtswidrig hielt. Jetzt tritt es dafür ein. Pragmatismus?
Zweierlei Maß war, ist und wird Grundlage der internationalen Beziehungen bleiben. So war es immer. Jede Seite interpretiert das Recht zu ihrem Vorteil. Das können sich nur Große und Atommächte erlauben. Die anderen müssen sich ans internationale Recht halten, wenn sie etwas wollen.
Sind die Serben, für deren Rechte Russland sich starkmachte, jetzt nicht enttäuscht?
Serbien hat das Kosovo verloren und erhebt keinen Anspruch mehr auf dessen Rückkehr in den Staatsverband. Das wissen alle.
Sehen Sie einen Anknüpfungspunkt, um einer weiteren Zuspitzung zu entgehen?
In der Krimfrage sehe ich keine Möglichkeit für einen Kompromiss mehr. Russland hat entschieden, dass die Krim ein Teil der Föderation wird. Davon werden wir ausgehen, andere davon, dass die Halbinsel weiter zur Ukraine gehört. Putin scheint überzeugt zu sein, dass die Kosten einer Intervention in diesem Stadium des Konfliktes geringer sind als Risiken, die entstehen, wenn die Ukraine mit westlicher Hilfe erst einmal nationalistischer wird und schließlich die euro-atlantische Blaupause übernimmt.
ist Chefredakteur der wichtigsten Zeitschrift für Außenpolitik, Rossija w globalnoi politike (englischsprachige Ausgabe: Russia in Global Affairs). Sie erscheint in Kooperation mit dem US-Journal Foreign Affairs.
Das Angliederungsgesetz ist in letzter Minute gekippt worden. Was sind nun die Kriterien, damit Russland internationale Hilfe leistet? Reicht es aus, eine unzufriedene russischsprachige Minderheit zu sein?
Eigentlich müsste es noch andere Kriterien als Unzufriedenheit und Sprachzugehörigkeit geben.
Halten Sie es für möglich, dass Moskau mit den baltischen Staaten mal austesten könnte, wie ernst der Westen und die Nato ihre Beistandsverpflichtung nehmen?
Nein, was sollte es dort für Zweifel geben? Sie sind Nato-Mitglied. Im Falle einer militärischen Bedrohung kommt die Nato ihrer Verpflichtung nach. Daran zweifelt niemand.
...doch, die Balten...
Nein, sie sind Mitglieder, im Unterschied zur Ukraine. Das ist eine andere Sache.
Wie steht es um den Norden Kasachstans, den Stalin der kasachischen Sowjetrepublik aus russischem Bestand schenkte, weil er meinte, in der Republik lebten entschieden zu viele Kasachen.
Nein, da müsste jemand schon ziemlich unvernünftig sein, wenn er mit Russland verbündete Staaten anschließen wollte. Da liegt ein ähnliches Problem wie mit der Ukraine vor. Die EU hat Kiew vor die Wahl zwischen Moskau und Brüssel gestellt. Das hätte sie nicht tun dürfen, weil die Ukraine nur so existieren kann, wie sie ist: Nur auf Grundlage einer gleichberechtigten Wechselseitigkeit zwischen Russland und der EU. Zwanzig Jahre hat die Ukraine nicht zu einer stabilen Staatlichkeit finden können. Kiew stand vor der brutalen Wahl, wen liebst du mehr Papa oder Mama. Das war überflüssig und das Land hat sich geteilt.
... der Druck aus Russland hat doch genau das Gegenteil bewirkt: West und Ost entdecken Gemeinsamkeiten, reden miteinander.
Dennoch – die Bevölkerung ist einfach nicht homogen. Die eine Hälfte will dies, die andere das.
Ist der Kampf um die Ukraine nicht eher „Kulturkampf“ denn „Realpolitik“ und der Versuch des Kreml, sich als konservative Führungskraft international und zuhause auf unabsehbare Zeit zu etablieren?
Interessanter Standpunkt. Da ist etwas dran, aber Realpolitik überwiegt.
Es wird - auch in Deutschland - immer wieder behauptet, der jetzige Konflikt sei auf die Nato-Osterweiterung zurückzuführen. Auch in Deutschland werden diese Stimmen lauter. Demnach hat der Westen Gorbatschow verraten und die Zusage, die Nato nicht zu erweitern, nicht eingehalten.
Gorbatschow war ein Mann guten Willens. Als diese Vereinbarung getroffen wurde, hat er nicht darauf gedrängt, die Verpflichtung auf Papier festzuhalten.
Eine liebenswürdige aber ziemlich abenteuerliche Erklärung: Es ist doch kaum zu glauben, dass sowjetische Diplomaten so vertrauensselig gewesen sein sollten und keine schriftlichen Garantien verlangt hätten.
In den 90er Jahren konnte sich keiner vorstellen, dass die Ukraine eines Tages Nato-Mitglied sein könnte.
... dass die anderen Osteuropäer das Weite suchen, sobald es möglich ist, war doch aber klar...
Einige Diplomaten waren gegen Gorbatschows Entscheidung. Der Generalsekretär hatte aber so entschieden, wie er es für richtig hielt. Heute sagen diese Diplomaten, Gorbatschow habe nicht nur die nötige Kompetenz gefehlt, er habe auch nicht auf sie hören wollen. Weder unter Gorbatschow noch später wurden Verhaltensregeln im gemeinsamen Umgang formuliert. 20 Jahre waren wir mehr oder weniger Freunde. Dennoch blieben wir Rivalen. Wenn Rivalität sich jedoch auf kein Regelwerk stützt, führt das zudem, was jetzt passiert ist.
Ist das Vorgehen des Kreml auf der Krim mit München 1938 und den Sudeten vergleichbar?
Nein, Putin verfolgt keine expansive Ideologie. Mehrere Dinge trafen in der Ukraine aufeinander. Nichts war geplant, vor zwei, drei Wochen ahnte noch niemand, was sich da entfalten würde. Die Ukraine zerfällt von alleine, die Versuchung das auszunutzen, ist natürlich groß. In Russland war man immer der Auffassung, die Krim sei russisch.
Wie geht es jetzt weiter?
Die Lage wird sich zuspitzen, da die Entscheidung mit der Krim irreversibel ist. Wie es weitergeht, bleibt offen. Präsident Putin scheint sich sicher zu sein, dass die USA und Europa nur die Sprache von Schärfe und Gewalt verstehen wie 2008 (Einmarsch Russlands in Georgien d.Red.). Die Empörung über den Kaukasuskrieg war damals groß, jedoch wurden keine Sanktionen verhängt. Stattdessen wurde der Nato-Beitritt Georgiens und der Ukraine von der Tagesordnung gestrichen.
Mit welchen Sanktionen wird Moskau antworten?
Wenn es bei symbolischen Sanktionen bleibt, ist es eine Sache. Sollten ernste ökonomische Sanktionen oder ein Embargo verhängt werden, bricht ein echter Wirtschaftskrieg los. Ein Ausschluss Moskaus aus der G-8 wäre nur symbolisch. Ob wir nun dabei sind oder nicht, ändert nichts.
Macht der Westen Russland zum Schurkenstaat?
Länder von solcher Größe und politischem Einfluss können keine Schurken sein. Die Einfrierung der Beziehungen zum Westen ist möglich. Die Welt besteht aus mehr als nur dem Westen. In diesem Fall bliebe Russland nichts anderes übrig, als das Verhältnis zu China qualitativ neu zu beleben, was Peking ja schon lange vorschlägt. Die UdSSR und Russland waren bislang immer nach Westen ausgerichtet. Putin hat Sibirien und den Fernen Osten indes schon zur Priorität erklärt. Gibt Russland seine Westausrichtung auf, wird die Weltkarte neu gezeichnet. Die Welt und Russland werden anders aussehen.
Wäre die russische Elite bereit, Chinas kleiner Bruder zu werden? Stehen dem nicht Chauvinismus und der Glaube, qua Geburt überlegen zu sein im Wege?
Russland hat ausreichend Trümpfe, um mit China ein raffinierteres Spiel zu spielen. Auch wenn dies schwierig wird. Je schlechter das Verhältnis zum Westen, desto enger würden die Beziehungen zu China. Die Ausrichtung auf Asien wird ohnehin schon beschleunigt. Für das 21. Jahrhundert setzt Putin den Akzent auf Fernost und Sibirien.
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